Prof. Thomas Pollmächer
Zwischen Schmerz und Depression besteht eine enge Beziehung. Schmerzpatienten entwickeln
häufig depressive Symptome. Umgekehrt klagen Patienten mit Depression häufig über
körperliche Beschwerden, insbesondere Schmerzen. Über diese Zusammenhänge und den
Konsequenzen, die sich daraus für die Therapie ergeben, sprachen wir mit Prof. Dr.
med. Thomas Pollmächer, Ingolstadt.
Wie häufig entwickeln Patienten mit chronischen Schmerzsyndromen Depressionen? Bei
welchen Schmerzsyndromen kommt dies besonders häufig vor?
Die in der Literatur angegebenen Zahlen schwanken zwischen 30 und 70 Prozent. Realistisch
betrachtet ist davon auszugehen, dass ein Drittel bis die Hälfte aller Patienten mit
chronischen Schmerzsyndromen auch gleichzeitig an einer Depression leidet. Bevorzugt
sind Patienten betroffen, die unter muskuloskelettalen Schmerzsyndromen leiden.
Welche Risikofaktoren machen eine depressive Entwicklung bei Schmerzpatienten besonders
wahrscheinlich?
Die Erfahrung zeigt, dass solche Schmerzpatienten für eine depressive Entwicklung
besonders anfällig sind, die schon in der Vorgeschichte entweder ein depressives Syndrom
oder eine Angsterkrankung hatten. Außerdem stellen das weibliche Geschlecht und ein
Lebensalter über 50 Jahre Risikofaktoren für eine depressive Entwicklung dar.
Welche neurobiologischen Zusammenhänge erklären, dass Schmerzpatienten so häufig depressiv
werden?
Zunächst einmal sind depressive Syndrome bei allen Menschen mit schweren somatischen
Erkrankungen häufiger als bei somatisch Gesunden. Ein spezifischer neurobiologischer
Zusammenhang ist dadurch gegeben, dass die Schmerzverarbeitung zum Teil in denselben
Hirnstrukturen stattfindet, wie die Verarbeitung von Emotionen. Dabei erfährt Schmerz
auch eine emotionale Bewertung, die getrennt von der Lokalisation repräsentiert wird.
Darüber hinaus sind Neurotransmitter, deren Mangel in der Neurobiologie der Depression
eine zentrale Rolle spielt, insbesondere Serotonin und Noradrenalin, auch als Transmitter
in den deszendierenden schmerzhemmenden Bahnen des Rückenmarks aktiv. Ein Mangel an
Serotonin oder Noradrenalin führt dazu, dass die schmerzhemmende Wirkung dieser Bahnen
eingeschränkt ist.
Auf der einen Seite leiden Schmerzpatienten häufig unter Depressionen. Aber auch Patienten
mit Depressionen klagen über Schmerzen. Wie häufig kommt dies vor?
Patienten mit Depressionen klagen tatsächlich häufig über verschiedenste Schmerzen
diffuser Lokalisation, ohne dass klar somatisch zuzuordnende Schmerzsyndrome vorliegen.
Dies kommt bei etwa 20-25% der Patienten mit Depression vor, bei manchen in solch
erheblichem Umfang, dass zunächst überhaupt nicht an eine Depression gedacht wird.
Ein großer Teil der Patienten mit einer Depression sucht den Arzt wegen einer Schmerzsymptomatik
auf. Neben muskuloskelettalen Schmerzen sind vor allem abdominelle Schmerzen hier
von besonderer Bedeutung.
Lässt sich dieser umgekehrte Zusammenhang mit denselben neurobiologischen Mechanismen
erklären?
Ja, die Verknüpfung von Schmerz und Depression ist sowohl in ihren morphologischen
als auch in ihren biochemischen Mechanismen wechselseitig.
Woran erkannt man, ob der Schmerz oder die Depression das primäre ist?
Diese Frage ist häufig außerordentlich schwer zu beantworten. Die Klärung der primären
Erkrankung erfordert zum einen eine komplette Anamnese der zeitlichen Zusammenhänge,
also der Frage, welche Symptomatik zuerst aufgetreten ist, und zum anderen oft auch
den Versuch, zunächst an einem der beiden möglichen Systeme therapeutisch anzusetzen.
Wird in der Diagnostik von chronischen Schmerzpatienten Depression routinemäßig erfasst
oder sollte dies geschehen? Mit welchen Instrumenten?
Nein, auf breiter Front wird bei chronischenSchmerzpatienten keine Diagnostik einer
möglichen Depression durchgeführt. Die Häufigkeit eines gemeinsamen Auftretens macht
dies allerdings für die Zukunft sehr wünschenswert. Denn das Übersehen einer Depression
bei einem Patienten mit chronischen Schmerzen wirkt sich erheblich negativ auf den
Verlauf und die Dauer der Erkrankung aus. Der beste Weg einer Depressionsdiagnostik
ist immer eine ausführliche psychiatrische Untersuchung. Screening-Instrumente, wie
z.B. Selbstbeurteilungsfragebögen, können allerdings eine erste Orientierung bieten,
z.B. kann das Beck'sche Depressions-Inventar hier durchaus Anwendung finden.
Welche Konsequenzen hat eine komorbide Depression auf den Erfolg einer Schmerztherapie?
Diese Frage ist zum Teil schon mit der vorherigen beantwortet. Eine behandlungsbedürftige
depressive Störung hat erheblichen negativen Einfluss auf den Erfolg einer Schmerztherapie,
weil bei einem depressiven Patienten die emotionale Schmerzverarbeitung neben den
peripheren neurobiologischen Mechanismen der Schmerzentstehung eine ganz entscheidende
Rolle spielt.
Kann man erwarten, dass eine suffiziente analgetische Therapie auch das Problem der
Depression löst?
Eine suffiziente analgetische Therapie ist in der Lage, eine begleitende leichtgradige
Depression verschwinden zu lassen. Besteht allerdings eine behandlungswürdige Depression
im Sinne einer Major-Depression, so ist in fast allen Fällen eine zusätzliche spezifische
pharmakologische und oft psychotherapeutische Therapie nötig.
Wie sollte therapeutisch vorgegangen werden bei Schmerzpatienten mit komorbider Depression?
Bei Schmerzpatienten mit komorbider Depression ist zusätzlich zur klassischen Therapie
des Schmerzes eine intensive Therapie der affektiven Störung indiziert. Hierbei gibt
es prinzipiell keine Unterschiede zu einer Depression, die ohne ein gleichzeitig vorhandenes
Schmerzsyndrom auftritt. Gerade in verhaltenstherapeutischer Hinsicht empfehlen sich
die gleichen Methoden, insbesondere kognitiv-verhaltensmedizinischer Art. Im Bereich
der Psychopharmakologie depressiver Störung bei Schmerzpatienten gibt es allerdings
bestimmte Medikamente, von denen besonders positive Effekte zu erwarten sind. Zu diesen
zählen vor allem sedierende Antidepressiva, von den trizyklischen Antidepressiva Amitriptylin
und Mirtazapin. Aber auch selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer oder kombinierte
Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer können durchaus indiziert sein.
Was lässt sich mit Verhaltens- oder Psychotherapie erreichen?
Eine verhaltensmedizinisch orientierte Psychotherapie hat einen ganz zentralen Platz
im Rahmen eines integrativen Therapiekonzeptes. Isoliert durchgeführt ist sie vor
allem bei leichtgradig depressiven Syndromen hilfreich und Erfolg versprechend, in
Kombination mit psychopharmakologischen Strategien bei mittelschweren bis schweren
depressiven Syndromen.