Die Bewertung von Hautveränderungen als positive oder negative Phänomene ist in großem
Maß vom kulturgeschichtlichen Umfeld abhängig. In der Rubrik „Kleine Kulturgeschichte
der Haut” dieser Zeitschrift wurde die unterschiedliche Zuordnung des gleichen Vorgangs
am Beispiel des Abziehens der Haut illustriert. Wurde das Schinden des Menschen in
Antike und Christentum ausschließlich als Strafmaßnahme betrachtet, so interpretierten
die Priester der Kulturen Mesoamerikas die Menschenhäutung als Selbstopfer und Dank
an die Götter.
Aus der Reihe der hierher gehörenden Beispiele soll das Bild des Hirsutismus herausgegriffen
werden. In verschiedenen Frühkulturen war die bärtige Frau ein Symbol für ein androgynes
Kultbild, das vom Christentum in die Form einer Märtyrerin und späteren Heiligen transponiert
wurde. Im Barock stand der Charakter der Kuriosität und des Schauwertes im Blickpunkt,
ohne der Tragik der betroffenen Person Rechnung zu tragen. In der Gegenwart ist der
Hirsutismus eine phänomenologische Beschreibung, dessen Ursache von den medizinischen
Spezialisten diagnostiziert und therapiert werden muss.
Im Rahmen der wenigen historisch belegten Beispiele des Hirsutismus nimmt die Dresdner
bärtige Jungfrau deshalb eine Sonderstellung ein, weil sich hier bildliche Darstellung
und schriftlich fixierte Krankheitsberichte ergänzen, so dass sogar differenzialdiagnostische
Überlegungen zur Auslösung des Phänomens möglich werden. Neben einer kurzen Erwähnung
in der großen Sammlung von G. M. Gould und W. L. Pyle im Jahr 1897 [1] wurde ihr Schicksal in der deutschen Literatur von den Dresdnern H. E. Kleine-Natrop
[2] und A. Scholz [3] hervorgehoben.
Krankengeschichte und Erscheinungsbild der Frau sind kurz nach ihrem Tod in einem
ausführlichen Bericht zusammengefasst worden. Der Adjunkt an der Dresdner Kunstkammer,
mit unserer heutigen Terminologie formuliert ein wissenschaftlicher Mitarbeiter, Johann
Gottlieb Michaelis verfasste 1733 unter dem Titel „De virgine barbata Dresdensis” einen ausführlichen Aufsatz in den Actis physico-medicis Academiae Caesareae Leopoldino-Carolinae
naturae curiosorum [4]. Das war nicht irgendeine Zeitschrift, sondern das Organ der ältesten naturwissenschaftlich-medizinischen
Gesellschaft in Deutschland, die bis heute als Deutsche Akademie der Naturforscher
Leopoldina besteht. Es lohnt sich für den heutigen Leser, Auszüge wörtlich zu zitieren:
„Ihr Name war Rosina Margareta Müllerin, sie hatte einen Vater, der bei dem Kurfürsten
JOHANN GEORG III. Silberkammerdiener war. Diese mittellose Frau ist am 12. 12. 1731
im Dresdner Krankenhaus aufgenommen worden und am 27. 3. des nächsten Jahres verstorben.
Dieser wuchs schon in der Jugend ein dichter Flaumbart an beiden Seiten des Kinns,
so dass es nötig wurde, ihn zu verschneiden. Dies machte sie zweimal in jedem Monat,
als sie in vorgerücktem Alter war, einmal, später zweimal in der Woche. Um die Behaarung
des Gesichtes zu verdecken, ging sie stets mit verhüllten Kinnbacken, bis sie ganz
elend geworden nicht mehr herumgehen konnte und gut rasiert in das vorher genannte
Krankenhaus kam. Dort von Tag zu Tag kränker werdend, vernachlässigte sie sich um
den Bart zu kümmern, der im 64. Jahr von solcher Länge war, wie es das angeheftete
Bild zeigt. In dieser bärtigen Frau war ein unerschrockenes Herz, eine tiefe Stimme
und ein starker Geist bei allen Handlungen. Sie war bisweilen etwas betrübt und mürrisch,
aß besonders gern rohen grünen Speck und geräuchertes Schweinefleisch, sogar wird
berichtet, dass sie gekochte Eingeweide von Kälbern und Innereien gegessen hat, nachdem
sie Schlucke heißen Weines dazu getrunken hatte. Obgleich gefräßig und unersättlich,
hatte sie doch in der Nacht ruhig geschlafen, sie hat sich durch ihr monatliches Unwohlsein
gereinigt. Im Krankenhaus schien sie erregt zu werden durch die Liebe der Männer,
die sie ansah und in krankhafter Erregung schlug sie sich mit beiden Händen auf den
Bauch längere Zeit wie auf eine Pauke. Als der Körper der Verstorbenen gewaschen wurde,
kamen die Genitalien zum Vorschein, die mit nicht sehr langem, dichtem Haarwuchs versehen
waren, sie zeigten keine Spur einer hermaphroditischen Anlage. Höchst erstaunlich
ist, dass der Bart an beiden Seiten des Kinns so lang gewachsen ist. Die Gegend unterhalb
des Kinns ist ganz kahl wie das hinzugefügte Bild in allem zeigt, das nach dem Leben
gemalt ist, aufbewahrt in der Galerie des Königs von Polen und Kurfürsten von Sachsen
(von Dresden geschickt nach Altorf, 25. 9. 1732).”
Das zweite Dokument zum Leben der Rosina Margareta Müller wurde von dem Direktor des
Märkischen Museums Berlin, E. Friedel, 1877 veröffentlicht [5]. In diesem Aufsatz ist ein Bericht aus dem Jahr 1733 enthalten „Umbständliche Nachricht
von der verstorbenen bärtichten Jungfrau”. Es werden die gleichen Tatsachen wie bei
J. G. Michaelis beschrieben. Ein wichtiges Detail bereichert die Biographie, nämlich
die Feststellung, dass R. M. Müllerin „in ihrer Jugendt ein Kind in Unehren gezeuget
haben soll”. Eine Sektion scheint nicht durchgeführt worden zu sein, denn erst nach
der Gründung des Collegium medico-chirurgicum 1748 wurde angeordnet, dass die im Städtischen
Krankenhaus Verstorbenen für den Anatomieunterricht zur Verfügung gestellt werden
mussten.
Die Erscheinung dieser Frau forderte die Sammler und Künstler einer durch Kuriositätensucht
gekennzeichneten Epoche geradezu zur Abbildung heraus. Das zu ihren Lebzeiten entstandene
Bild, welches ein unbekannter Zeichner geschaffen hat, ist eine Kreidezeichnung, weiß
gehöht auf blauem Papier, die sich im Kupferstichkabinett der Staatlichen Kunstsammlungen
Dresden befindet (Abb. [1]). Die Zeichnung bringt in ihrem erschütternden Realismus das Ausmaß der Veränderung
voll zur Darstellung. Der Kupferstich, der den Aufsatz von J. G. Michaelis ergänzt,
zeigt den Kopf in einer halbseitlichen Darstellung ebenso wie die Zeichnung, nur ist
durch die Ausführung des Oberkörpers der athletische Bau der Person deutlicher (Abb.
[2]).
Abb. 1 Rosina Margareta Müller. Kreidezeichnung (Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstichkabinett).
Abb. 2 Rosina Margareta Müller. Kupferstich in J. G. Michaelis: „De virgine barbata Dresdensis”.
Neben den grafischen Bildern existierte eine plastische Darstellung, die erstmalig
von Eilenburg beschrieben wurde. Christian Heinrich Eilenburg wurde 1746 Leiter der
königlichen Naturalienkammer in Dresden. In dem von Eilenburg herausgegebenen Sammlungsführer
schildert er die einzelnen Ausstellungsstücke des anatomischen Kabinetts: „Es sind
auch in diesem Cabinette allerhand gekünstelte Dinge vorhanden. Ein Model von einer
bärtichten Jungfer, die im hiesigen Lazarette gestorben, und so, wie sie im Sarge
gelegen, von dem bekannten Bildhauer Lücke, aus Elfenbeine und Ebenholze, auf das
feinste abgebildet worden” [6].
Diese Kleinplastik muss im frühen 19. Jahrhundert noch existiert haben, da der Direktor
der Dresdner Chirurgisch-Medizinischen Akademie, Johann Ludwig Choulant (1791 - 1861),
sie in einem Bericht ausführlich beschreibt [7]. Heute ist die Plastik in der Skulpturensammlung der Staatlichen Kunstsammlungen
Dresden nicht mehr vorhanden.
Die vorliegenden Texte erlauben es unter Einbeziehung des einprägsamen Porträts folgende
Daten als Grundlage für eine diagnostische Annäherung zusammenzufassen.
Rosina Margareta Müller lebte von 1668 - 1732 in Dresden. Der während des Lebens zunehmende
Bartwuchs bestand seit ihrer Jugend. Menstruationsblutungen waren vorhanden, sie hat
ein Kind geboren. Der körperliche Status zeigt in Gesichtszügen, Habitus, Stimme und
Verhaltensweise einen eindeutig männlichen Aspekt, wobei die psychischen Auffälligkeiten
schwer von reaktiven Veränderungen abzugrenzen sind. Hermaphroditische Merkmale wurden
nicht gefunden. Aus der Palette der differenzialdiagnostischen Möglichkeiten kann
bei dem vorliegenden Befund wohl am ehesten ein Nebennierenrindentumor postuliert
werden.
Notizen über die „Bart-Weiber” finden sich in der Literatur in mannigfacher Form,
in völkerkundlichen und kunstgeschichtlichen Abhandlungen oder Reiseberichten. In
Märchen begegnen wir der Legende Heinrichs des Schwarzen und seiner Tochter, der Erzählung
von der Jungfrau mit dem Bart in Saalfeld sowie den bärtigen Frauen im Schlaraffenland
der Gebrüder Grimm.
Hierher gehört auch die Charakterisierung der Herzogin Margareta von Parma, die sich rühmte, 4 männliche Stücke an sich zu haben. Sie werden folgendermaßen
beschrieben: „einen männlichen Verstand, wie sie als Regentin in den Niederlanden
bewiesen; männliche Füße, weil sie von der Podagra als einer männlichen Krankheit
geplagt wurde, männliche Stärke, weil sie auf der Parforce-Jagd herumtummelte; endlich
einen männlichen Mund, welcher wider der Weiber Art mit einem Bart gezieret war.”
Ungeachtet der Auffälligkeit des Hirsutismus sind Darstellungen in der bildenden Kunst
selten. Unter den bildlich überlieferten Bartfrauen ist wohl die älteste Abbildung
das Porträt der Margaret Halseber (um 1550) von dem Antwerpener Maler Willem Key (1520 - 1568). Mit erschütterndem
Realismus ist die herbe Kritik der Porträtierten ablesbar, deren Umgebung sie wohl
stets nur mit naiver Schaulust begafft hat (Abb. [3]).
Abb. 3 Willem Key. Bildnis der Margaret Halseber (Aachen, Suermondt Museum).
Der Kupferstich der im Erzbistum Lüttich geborenen Helena Antonia, deren Bart schon im 18. Lebensjahr entwickelt war, muss um das Jahr 1600 datiert
werden. Das Ganzkörperporträt des überwiegend in Augsburg tätigen Künstlers Domenicus
Custos (1560 - 1612) zeigt uns eine vollbärtige junge Frau im bodenlangen Kleid.
Die wohl bekannteste und zugleich am meisten überraschende Darstellung des Hirsutismus
dürfte das von dem spanischen Caravaggio-Schüler Jusepe de Ribera (um 1588 bis 1652)
gemalte Bildnis der Magdeleine Ventura sein (Abb. [4]). Wir sehen auf dem Bild eine ältere Frau mit einem dichten, schwarzen Oberlippen-
und Kinnbart, die ihr Kleid geöffnet hat, um ihr in der Art der Zeit gewickeltes Kind
zu stillen. Neben ihr, etwas in den Hintergrund gestellt, ihr Mann in schwarzer Kleidung.
Außerdem fällt uns am Bildrand ein grauer, mit lateinischem Text versehener Stein
auf, der die Geschichte des Bildes aufklärt. Einer Bäuerin aus den Abruzzen, Magdeleine
Ventura, sei nach ihrer Heirat im 37. Lebensjahr ein Bart gewachsen. Sie habe drei
Söhnen das Leben geschenkt. Bei einem Besuch in Neapel wäre man auf sie aufmerksam
geworden, und FERDINAND II., der Vizekönig von Neapel, habe den Maler Ribera im Jahre
1631 beauftragt, die Eltern mit dem Kind zu malen [8].
Abb. 4 Jusepe de Ribera. Magdeleine Ventura 1631 (Sammlung der Herzogin de Lerme, Toledo).
Das auf einem Gemälde dokumentierte, jüngste Beispiel stammt aus der 1. Hälfte des
19. Jahrhunderts. Der französische Maler Jean-Baptiste Bonjour (1801 - 1882) porträtierte
1847 Madame Robineau (Abb. [5]). Sie war eine in dem Städtchen Molard durch ihr Auftreten weithin bekannte Fischhändlerin,
die aus der burgundischen Weinbaulandschaft Maconnais stammte. Auf dem Marktplatz
von Molard muss ihr Fischstand ein Anziehungspunkt für alle Besucher gewesen sein,
da sie als „la reine du marché” bezeichnet wird. Der Bericht gleicht der Beschreibung
des Porträtgemäldes: „In ihrer Art hatte ihre männliche Figur eine gewisse Schönheit
und einen bezaubernden Anblick: Pechschwarzes Haar, dunkle Gesichtsfarbe, schöne weiße
Zähne, große schwarze glänzende Augen, dichte Augenbrauen, ein Bart und ein Schnurrbart.
Sie trug immer eine große, weiße Haube” [9]. In dieser wie in einer weiteren Charakterisierung wird ihr temperamentvolles, auftrumpfendes,
energisches Auftreten hervorgehoben „auf dem Marktplatz hörte man nur sie.” Ebenfalls
wird der Bart hervorgehoben: „Sie trug einen Bart am Kinn, der sich mit einem Schnurrbart
vereinigte, über den Rekruten stolz gewesen wären” [10]. Die herausragende Originalität der Fischhändlerin Robineau wird durch ihre unübersehbare
Position auf dem Gemälde von Henri-Germain Lacombe (1813 - 1893) noch einmal mehr
bewiesen (Abb. [6]).
Abb. 5 Jean-Baptiste Bonjour. Madame Robineau, um 1847 (Museum für Kunst und Geschichte,
Genf).
Abb. 6 Henri-Germain Lacombe. Marktplatz, 1843 (Ausschnitt) (Museum der schönen Künste, Genf).
Obwohl aufgrund der ausführlichen Biografie und des Porträts der Rosina Margareta
Müller der Versuch einer diagnostischen Einordnung versucht wurde, reichen die Daten
bei den anderen vorgestellten Beispielen nicht aus, um die dargestellten Symptome
in die heute endokrinologisch definierten Krankheitsbilder einzuordnen.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass im Vorfeld der hier vorgestellten Bilder
bärtiger Frauen eine Vielzahl legendärer Figuren existieren, bei denen weiblicher
Körper und männlicher Bart das Grundphänomen androgyner Glaubensinhalte symbolisieren.
In der christlichen Ikonographie stehen die Legende und die über Jahrhunderte nachweisbaren
Bilder der Heiligen Kümmernis im Mittelpunkt, die wiederum eine Fortführung und Transposition
vorchristlicher Kultfiguren darstellt [11]
[12].