Viszeralchirurgie 2005; 40(4): 233-235
DOI: 10.1055/s-2005-836824
Aktuelle Chirurgie

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Zertifizierung von Zentren - politische Ziele

Certification of Centers - Political GoalsH. Schulte-Sasse1
  • 1Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz
Further Information

Publication History

Publication Date:
13 September 2005 (online)

Das deutsche Gesundheitswesen ist eines der teuersten der Welt. Gleichauf mit der Schweiz investieren nur die USA einen größeren Anteil des Bruttoinlandprodukts in Gesundheit. Die steigenden Ausgaben für den Bereich der Gesundheit führen immer dann zur Suche nach Gegenmaßnahmen, wenn Arbeitgeber oder der Staat unmittelbar betroffen sind. Das ist in den USA und Deutschland ebenso der Fall wie in den meisten Industrieländern.

Die Rezepte sind bei allen Unterschieden der Gesundheitssysteme immer gleich: finanzielle Entlastung der Arbeitgeber zulasten der Arbeitnehmer, direkte Zahlungen bei Inanspruchnahme von Leistungen, Kürzungen des Leistungsumfangs von Krankenversicherungen, Budgetierung der Leistungsausgaben mit dem Effekt eines Preisverfalls für die einzelnen Leistungen und Eingriffe in den Leistungsprozess mit dem Ziel einer höheren Effizienz der Versorgung. Betroffen von solchen Maßnahmen sind die versicherten Bürger und Bürgerinnen und diejenigen, die Leistungen für kranke Versicherte erbringen.

Mehrzahlungen ohne einen höheren Leistungsanspruch oder ohne eine bessere Leistungsqualität empfinden viele Menschen als ungerecht. Für viele „Leistungserbringer” ist Kritik an ihrer Arbeit inakzeptabel, sind externe Eingriffe in ihre Arbeit unzumutbar und werden als Entwertung der eigenen Professionalität empfunden. Versicherte vermuten häufig eine Neigung zur „Abzockerei” bei ihren Therapeuten, die Therapeuten eine egozentrische Anspruchshaltung bei ihren Klienten. Für beide ist „die Politik” unfähig, die richtigen Schritte zu tun, um den Schwachstellen des Systems abzuhelfen.

Die Hinweise sind zahlreich genug die These wagen zu dürfen, dass alle im Umlauf befindlichen Vorhaltungen mehr oder weniger berechtigt sind. Wir haben es mit vielen Schwachstellen zu tun und eine einseitige Schuldzuweisung wird der Realität nicht gerecht. Die Komplexität des Systems macht es unwahrscheinlich, dass einfache Lösungen die beklagten Defizite beseitigen könnten. Immer besteht die Gefahr, dass gut gemeinte Eingriffe unvorhergesehene Effekte auslösen, die dann selber Anlass zu weiteren Korrekturen geben.

Diese warnenden Vorbemerkungen können nicht als Begründung herhalten, die Suche nach effektiven und systemgerechten Reformen einzustellen. Aus den zahlreichen negativen Erfahrungen der Vergangenheit ist allerdings zu lernen, dass bei den Reformen mit der gebotenen Vorsicht vorzugehen ist und auf große Reformwürfe eher verzichtet werden sollte. Eine Weiterentwicklung unseres Gesundheitswesens in kleinen Schritten ist großen Änderungen vorzuziehen. Wir sollten die Flexibilität des Gesundheitssystems erhöhen, um den Akteuren eine wettbewerbliche Suchstrategie für geeignete Problemlösungen zu ermöglichen.

Im Zentrum meiner weiteren Überlegungen steht die Effizienz der Krankenversorgung und die darauf zielenden Eingriffe. Dies ist nicht nur dem Themenschwerpunkt dieses Heftes geschuldet, sondern ist auch unter ethischen Erwägungen vernünftig. Schließlich sind Zusatzlasten von den Versicherten nur dann begründet einzufordern, wenn mit ihren bisherigen Beiträgen eine effiziente Krankenversorgung finanziert wird und weitere Zahlungen nicht dazu dienen, ineffiziente Leistungsprozesse zu alimentieren.

Ist das deutsche Gesundheitswesen so effizient, dass weitere Bemühungen zur Verbesserung überflüssig sind?

Der Vorsitzende des Bundesverbandes der Allgemeinen Ortskrankenkassen, Dr. Ahrens, wird nicht müde öffentlich zu wiederholen, dass die Krankenkassen einen Mercedes finanzierten, aber nur einen Volkswagen bekämen. Für diese These gibt es auch außerhalb der Krankenkassen Unterstützung. So hat z. B. der frühere Vorsitzende des Sachverständigenrates im Gesundheitswesen, der Hannoveraner Sozialmediziner F. W. Schwartz, darüber geklagt, dass das deutsche Gesundheitswesen für den Bürger nicht nur unübersichtlich sei, sondern seine Effizienz auch nachlasse: „Wir erzielen mittelmäßige Resultate, und die sind häufig noch zu teuer.” (Süddeutsche Zeitung vom 7./8. Juli 2001)

Viel zitiert, aber auch aus methodischen Gründen immer wieder kritisiert, sind entsprechende Untersuchungen der WHO und der OECD zu den nationalen Gesundheitssystemen, in denen das deutsche Gesundheitswesen im Hinblick auf seine Kosten als wenig effizient bewertet wird.

Die Politik stellt als Antwort auf diese Mängel in den letzten Jahren zunehmend die Qualität der Versorgung in den Fokus ihrer Betrachtung.

Ausgangspunkt vieler Überlegungen ist die heute allseits bekannte Unterscheidung zwischen Über-, Unter- und Fehlversorgung kranker Menschen. Dabei wird gemeinhin von der Definition ausgegangen, die das US-amerikanische Institute of Medicine 1990 bekannt machte: „Quality of care is the degree to which health services for individuals and populations increase the likelihood of desired health outcomes and are consistent with current professional knowledge.” Über-, Fehl- und Unterversorgung vermindern die Wahrscheinlichkeit, dass die angestrebten oder erreichbaren Behandlungsergebnisse erzielt werden, und schaden damit den Patienten. Überversorgung liegt immer dann vor, wenn der erstrebte Nutzen und die zu kalkulierenden Risiken nicht in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Unterversorgung bedeutet das Vorenthalten einer effektiven Behandlung, mit der eine Verbesserung des Gesundheitszustands erreichbar wäre. Fehlversorgung liegt dann vor, wenn eine effektive Behandlung ohne die notwendige Kompetenz erbracht wird und damit das erreichbare Ergebnis gefährdet wird [1].

Abgesehen von den allgemeinen Verpflichtungen zur Qualitätssicherung (Neunter Abschnitt SGB V) hat der Gesetzgeber sich für einzelne Instrumente gesondert positioniert. Im Zentrum der Diskussion steht dabei für den stationären Sektor das Thema „Mindestmengen” für diejenigen planbaren Behandlungsleistungen, „bei denen die Qualität des Behandlungsergebnisses in besonderem Maße von der Menge der erbrachten Leistungen abhängig ist” (§ 137 Abs. 1 Nr. 3 SGB V).

In diesem Kontext wird über eine Zertifizierung von Krankenhäusern diskutiert, auch wenn dieser Begriff selbst bisher keinen Eingang in das SGB V gefunden hat.

Auch in Berlin findet dazu eine intensive Diskussion statt. Ausgangspunkt sind Ergebnisse einer Auswertung der Versorgungsrealität von Patienten mit Herzinfarkten oder anderen akuten koronaren Notfällen. Dabei fiel auf, dass trotz einer breiten leistungsfähigen kardiologischen Infrastruktur in den Berliner Krankenhäusern ca. 20 Prozent der Notfallpatienten in den zuerst aufgesuchten Krankenhäusern verbleiben, ohne dass diese über die Möglichkeit einer interventionellen Kardiologie verfügen. Andererseits lassen die Kapazitäten in den kardiologischen Einrichtungen die Behandlung weiterer kardiologischer Notfall-Patienten problemlos zu. Die Bevölkerung Berlins ist mit einer relevanten Unterversorgung konfrontiert, die unnötig und nicht hinnehmbar ist.

Aber auch für andere Behandlungsfälle zeigen sich Auffälligkeiten. So ist - bei aller kritischen Diskussion um die Bedeutung von Mindestmengen als Qualitätsindikator [2] [3] [4] - doch für einige Eingriffe gesichert, dass ein Mehr an Erfahrung auch zu einem Mehr an Ergebnisqualität beitragen kann. Dies gilt z. B. für Pankreasresektionen. Die Auswertung dieser Behandlungsfälle für Berlin hat gezeigt, dass sich nur etwa die Hälfte dieser Eingriffe auf drei chirurgische Abteilungen konzentriert, während der Rest sich auf eine Vielzahl von Krankenhäusern verteilt. Die Studienlage lässt vermuten, dass diese Realität mit einer erheblichen Fehlversorgung einhergeht.

Die Beispiele belegen, dass eine ausgezeichnete Strukturqualität im Gesundheitswesen keine Garantie dafür ist, dass die Patienten die Behandlung erhalten, die nach aktuellem Wissen die besten Ergebnisse erzielt. Offenbar ist für die Ergebnisqualität eine gute Strukturqualität zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung. Die Steuerung der Patientenzuweisung in die geeigneten Einrichtungen ist für die Qualität der Behandlungsergebnisse von einer entscheidenden Bedeutung.

Vor diesem Hintergrund ist den Ausführungen von Hartwig Bauer zuzustimmen: „Versorgungsauftrag kann in Zukunft nicht mehr heißen, jedem überall alles. Und Qualität der Leistungserbringung bedeutet nicht nur, Dinge richtig, sondern auch die richtigen Dinge zu tun. Nichts ist ineffizienter, als Leistungen zu verbessern, die besser überhaupt nicht erbracht werden sollten. Die richtigen Leistungen für den richtigen Patienten bei richtigem Kundenverständnis, das ist die Überlebensstrategie der Zukunft für die Krankenhäuser.” [5]

Die Gesundheitspolitik muss entsprechende Schlussfolgerungen ziehen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass staatliche Krankenhausplanung klassischen Typs zur Sicherung einer anspruchsvollen Versorgung nur einen begrenzten Beitrag leisten kann. Von gleicher Bedeutung, wenn nicht weitaus wichtiger, sind Bemühungen zur Qualitätssicherung der Versorgungsprozesse im Krankenhaus, die in die klassische Krankenhausplanung integriert werden können oder sie ergänzen.

Im Vergleich zu den klinikinternen Aktivitäten wie z. B. die Ausrichtung der Krankenversorgung an ausgearbeitete und qualitätsgesicherte Behandlungspfade können staatliche Steuerungen über Eingrenzungen des Versorgungsauftrages einer Einrichtung Wirkung erzielen.

Ein typisches Beispiel für einen solchen Weg ist die Begrenzung des Versorgungsauftrages für Gefäßpatienten auf Kliniken mit einem Schwerpunkt für Gefäßkrankheiten, in denen eine angiologisch ausgerichtete Innere Medizin mit einer gefäßchirurgischen Abteilung und einer interventionell arbeitenden Radiologie kooperiert. Erst durch die Zusammenarbeit dieser drei Abteilungen an einem Ort kann sichergestellt werden, dass Patienten der Behandlungszugang angeboten wird, der ihnen und ihrer spezifischen Krankheitssituation angemessen ist. Ohne die ungehinderte Kooperation dieser drei Disziplinen gilt das von dem Psychologen Abraham Maslow beschriebene Prinzip: „If the only tool you have is a hammer, you tend to treat everything as if it were a nail.”

Der Staat kann gegebenenfalls auf die ergänzende Versorgungssteuerung über Verträge der Krankenhäuser und Krankenkassen setzen, die den von ihm gesetzten Rahmen mit konkreten Vereinbarungen ausfüllen. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die jetzige Rechtsetzung im § 109 SGB V für eine solche Feinsteuerung noch keine ausreichende Rechtsgrundlage bietet. Den Kostenträgern muss zukünftig für eine im Benehmen mit den Krankenhausplanungsbehörden durchzuführende Versorgungssteuerung eine sichere Rechtsgrundlage gegeben werden.

Über die bereits jetzt mögliche Versorgungssteuerung über Mindestmengen hinaus ist dabei vor allem an Voraussetzungen im Hinblick auf die Qualifizierung des Personals, den Stellenplan und die zeitliche Verfügbarkeit sowie andere Parameter für eine hinreichende Leistungsqualität zu denken. Für die stationäre kardiologische Versorgung in Berlin haben wir in einer von mir geleiteten Arbeitsgruppe unter Beteiligung der Kostenträger, der Berliner Ärztekammer, der Kassenärztlichen Vereinigung Berlins, der Selbsthilfeorganisation SEKIS und von zwei externen Kardiologen, die in der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie führende Positionen innehatten bzw. innehaben und deren Expertise anerkannt ist, einen Kriteriensatz erarbeitet, der Grundlage für Versorgungsverträge zwischen den Krankenkassen und einzelnen Krankenhäusern sein soll [6].

Ein weiterer Schritt hin zu einer besseren Prozessqualität ist die Offenlegung von geeigneten Maßnahmen einer Klinik, die auch als ein Kriterium für die vertraglich gesteuerte Teilnahme an der Krankenversorgung dienen können. So veröffentlicht die Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie die Teilnahme einer Klinik an einem Qualitätsprojekt der Arbeitsgemeinschaft im Internet (www.eierstock-krebs.de), nachdem erhebliche Qualitätsunterschiede - unabhängig von der Häufigkeit der Eingriffe in den Institutionen - festgestellt wurden. Ziel ist es nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 22. September 2004, durch die Offenlegung in mehr Kliniken internationales Niveau zu erreichen.

Das Beispiel der Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie weist hin auf eine wichtige Rolle, die ärztliche Fachgesellschaften und die Ärztekammern als öffentlich-rechtliche Körperschaften mit eigener Zuständigkeit für Weiter- und Fortbildung sowie für die Berufspflichten der ärztlichen Profession spielen können. Vor allem die Ärztekammern sollten von der Möglichkeit Gebrauch machen, Einrichtungen nach einer entsprechenden Überprüfung zu bestätigen (zertifizieren), dass sie Qualitätsmanagement konform zu einer bestimmten Norm oder sonstigen Festlegungen tatsächlich durchführen. Wünschenswert wäre auch hier, dass solche Aktivitäten in enger Abstimmung mit den Kostenträgern der Gesundheitsversorgung erfolgen, um das nötige Vertrauen in diese Zertifizierungen zu sichern. Die Berliner Ärztekammer hat vom Landeskrankenhausbeirat den Auftrag erhalten, unter Beteiligung aller anderen Akteure dazu einen Vorschlag zu erarbeiten.

Eine solche Zertifizierung muss hohen Ansprüchen genügen, um sich von aktuellen Entwicklungen abzugrenzen und vertrauenswürdig zu sein. Denn heute kann jedermann, „der sich dazu berufen fühlt, ohne einen verbindlichen Qualifikationsnachweis erbringen zu müssen, Leistungserbringern im Gesundheitswesen Beratung, Zertifizierung etc. zum Qualitätsmanagement anbieten und verkaufen - er muss dafür selbst auch nichts von Medizin verstehen” [7].

Literatur

  • 1 Becher E C, Chassin M R. Improving Quality, Minimizing Error: Making It Happen.  Health Affairs. 2001;  20 68-81
  • 2 Choudhry N K, Fletcher R H, Soumerai S B. Systematic Review: The Relationship between Clinical Experience and Quality of Health Care.  Annals of Internal Medicine. 2005;  142 260-273
  • 3 Geraedts M. Evidenz zur Beziehung zwischen Quantität und Qualität in der Medizin (Teil 1).  Internist. 2004;  45 M246-M250
  • 4 Geraedts M. Evidenz zur Beziehung zwischen Quantität und Qualität in der Medizin. (Teil 2).  Internist. 2004;  45 M262-M264
  • 5 Bauer H. „Die richtige Leistung für den richtigen Patienten”.  Klinikmanagement aktuell. 2000;  53 46-47
  • 6 Unger G, Schulte-Sasse H, Schieritz F. Steuerung der Krankenhausversorgung über Bedarfs- und Qualitätskriterien - ein Fallbeispiel. In: Krankenhaus-Report 2004, Schattauer GmbH, Stuttgart 2005
  • 7 Kaiser R H. Bestimmungen des SGB V zu Qualitätssicherung/-management und ärztlicher Fortbildung nach den Änderungen durch das GMG.  Internist. 2004;  45 949-954

Dr. Hermann Schulte-SasseStaatssekretär 

Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz

Oranienstr. 106

10969 Berlin

Email: StSGesVorz@SenGSV.verwalt-berlin.de

    >