ZFA (Stuttgart) 2005; 81(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-2005-836298
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der kleine und der große IGeL

M. M. Kochen1
  • 1Georg-August-Universität, Abteilung Allgemeinmedizin, Göttingen
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Publication Date:
20 January 2005 (online)

Vor etwa 4 Monaten kam ein 75-jähriger eher ängstlicher Privatpatient in die Praxis und zeigte mir den Laborausdruck eines Urologen, auf dem ein mäßig erhöhter PSA-Wert notiert war. Seine Frau habe ihn zu diesem Test gedrängt, weil im Bekanntenkreis zwei Männer gleichen Alters an einem Prostatakrebs erkrankt waren. Was er denn jetzt machen solle. Unnötig zu erwähnen, dass der Patient natürlich keinen hausärztlichen Rat gesucht hatte, bevor er die Untersuchung durchführen ließ. Ich erklärte ihm die Optionen: Nichts unternehmen oder sich einer Biopsie unterziehen. Er entschied sich für letzteres - Ergebnis negativ. Vor 6 Wochen stellte er sich erneut vor. Ich wollte meinen Augen nicht trauen: Er hatte sich erneut einer PSA-Untersuchung unterzogen und der Wert war diesmal sogar noch ein wenig höher als initial. Ich musste zweimal tief durchatmen, bevor ich meinen Mund öffnen konnte. Ob er sich denn jetzt jedes Quartal einem Test mit anschließender Biopsie unterziehen wolle? Nein, meinte der Patient, aber in Tübingen gebe es doch einen Ganzkörper-Magnetresonanztomographen. Eine derartige Untersuchung könne Krebs mit Sicherheit ausschließen, das habe er im NDR-Fernsehen gesehen.

Nun muss ich beschämt zugeben, dass ich aus psychohygienischen Gründen sog. Gesundheitsreports kaum jemals ansehe - auch diese Sendung war mir entgangen. Ein guter Anlass, sagte ich mir, mal nachzusehen, was es denn mit diesem MRT auf sich habe. Ich musste nicht lange suchen, um fündig zu werden. Hier eine kurze Auflistung der ersten Resultate:

NDR-Gesundheitsmagazin Visite 9.3.2004: Neue Diagnosemöglichkeit durch Ganzkörper-MRT, Prof. Claussen, Radiologische Klinik Uni Tübingen Ärztezeitung 8.7.2004: „Regelmäßig ein Ganzkörper-MRT - ist das die Prävention der Zukunft? Bessere Chancen für frühere Therapie und Verhinderung von Spätschäden”. Zitat Prof. Forsting, Radiologische Klinik Uni Essen: „Wenn ein Patient über viele Jahre einen - nicht mal drastisch - erhöhten Blutdruck hat, zum Beispiel 160 mmHg, entstehen Mikroangiopathien im Gehirn … die lassen sich im MRT sichtbar machen”. „Präventionsmaßnahmen wie diese senkten zwar nicht die Kosten der gesundheitlichen Versorgung, aber die Früherkennung lebensbedrohlicher Krankheiten bessere die Lebensqualität des Individuums. Deshalb seien die Kosten dafür auch von Einzelnen zu tragen, nicht von der Solidargemeinschaft der gesetzlich Krankenversicherten”. Pressestelle Charité Berlin, 4.10.2004: Neues radiologisches Forschungszentrum (ISI) Charité-Siemens für 4,5 Millionen Euro eröffnet. „Wir wollen prüfen, ob … ein Blick in den ganzen Körper bei hartnäckigen unklaren Beschwerden wie Abnahme der Leistungsfähigkeit, Gewichtsverlust oder Schwindel helfen kann, erläuterte Prof. Hamm, Direktor der Instituts für Radiologie … und zugleich wissenschaftlicher Leiter des ISI … Alle Untersuchungen werden als Vorsorgemaßnahmen angeboten … Die Kosten für einen solchen Check-up belaufen sich zwischen 400 und 950 Euro” … Auf internationaler Ebene sollen weitere Institutsgründungen folgen.” Diagnoseklinik München (Internetzugriff 19.12.2004): „Moderne Hightech-Technology für das kranke Herz. Die Belastung ist niedrig, der Zeitaufwand gering, die Schmerzen nicht vorhanden. Und die diagnostische Aussagekraft? Könnte nicht besser sein. Wenn das Herz aus dem Takt kommt, sind schonende Hightechmethoden gefragt. Schmerzhafte, langwierige und mit Risiken behaftete Katheter-Untersuchungen mit Krankenhausaufenthalt gehören damit in vielen Fällen der Vergangenheit an”.

Weitere Kostproben will ich Ihnen ersparen. In den USA haben sich solche Angebote schon seit Ende der 90-er Jahre ausgebreitet. Tatsache ist jedoch, dass es für deren Wirksamkeit keine wissenschaftliche Grundlage gibt und die Risiken dieses „Direct-to-Consumer-Marketings” erheblich sind (z. B. falsch-positive Testresultate, falsche Krankheitszuordnung, Ängste und Befürchtungen, ggf. Strahlenbelastung, Kosten, verminderte Versicherungschancen). Wie Patienten auf diese Werbung reagieren, kann man oben ablesen. In einem nationalen Telefonsurvey sagten 85 % von 500 befragten Amerikanern, sie würden ein solches bildgebendes „Krebs-Screening” einer Geschenksumme von 1 000 $ vorziehen.

In den USA ist jetzt ein „Aufruf an alle Beteiligten” publiziert worden, die Laienwerbung für diese Angebote gesetzlich zu regulieren. Passivität auf diesem Gebiet, heißt es da, würde unsere professionelle Glaubwürdigkeit ernsthaft gefährden - wenn das nicht schon geschehen wäre.

Meine Prognose für die Zukunft? Nun, ich will Ihnen das gerade begonnene Jahr nicht verderben …

Ihr
Michael M. Kochen

Prof. Dr. Michael M. Kochen, MPH, FRCGP, Facharzt für Allgemeinmedizin

Abteilung Allgemeinmedizin · Georg-August-Universität

Humboldtallee 38

37073 Göttingen

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