In Deutschland leben fast zwei Millionen Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit,
dies entspricht einem Anteil von 27,4 % aller nichtdeutschen Menschen [1]. Die Mehrheit gehört zu den Arbeitsmigranten und deren Familien, die insbesondere
in den 60er und 70er-Jahren angeworben wurden. Vor der Ankunft in Deutschland mussten
sich alle Arbeitsmigranten einer Untersuchung des Gesundheitszustandes unterziehen,
sodass der Anteil der kranken Migranten zum Zeitpunkt der Migration sehr gering war.
Von keiner Seite wurde aber über mögliche psychische Folgen der Migration nachgedacht.
Nach dem Stress-Modell der Migration von Slutzki [15] kommt es bei Migranten nicht unmittelbar während oder nach der Migration zu Belastungserscheinungen.
Oft entwickeln Migranten erst nach einer Phase der Euphorie - Slutzki spricht in diesem
Fall von Überkompensation - psychische und körperliche Krankheitssymptome [15]. Die Entscheidung für eine Migration kann sehr unterschiedliche Gründe haben. I.d.R.
handelt es sich um eine belastende Entscheidung. Durch die Migration werden Menschen
einer Vielzahl an Stressoren ausgesetzt: bedrohliche Lebensumstände, fragliche Zukunftsorientierung,
Identitätskrisen, Entwurzelung, Trennungen etc. [2].
Es zeigt sich ein Defizit im psychosozialen Bereich sowohl in der Forschung als auch
in den fehlenden Anstrengungen seitens der Psychiatrie, Migranten als besondere Patientengruppe
zu berücksichtigen und ihnen spezielle Behandlungsangebote zu machen [2]. Untersuchungen zu einer adäquaten Versorgung von Migranten sind selten. Es besteht
also die Notwendigkeit eines besseren Verständnis in der Beratung und Behandlung von
psychiatrisch erkrankten Migranten, um eine optimale psychiatrische Versorgung zu
gewährleisten und die Compliance der Patienten zu erhöhen. Nach Lazaridis [13] nehmen Migranten im Vergleich zu der einheimischen Bevölkerung die psychosozialen
Versorgungsdienste des Gastlandes weit weniger in Anspruch. Diese Tatsache führt Lazaridis
auf die organischen Krankheitsentstehungs-, Krankheitserklärungs- und Krankheitsdarbietungskonzepte
zurück. Weiter beschreibt er übermäßige Somatisierungstendenzen bei vielen psychisch
erkrankten Migranten.
Gründe für die geringe Inanspruchnahme liegen u.a. in den sprachlichen und kulturellen
Barrieren und in der Orientierung des Hilfesystems an den Bedürfnissen westlicher
Populationen, sowie in den negativen Konsequenzen, die eine psychiatrische Hospitalisierung
mit sich bringen könnte [13]. Wenn das Individuum keine andere Möglichkeit mehr sieht, seine Konflikte, sei es
in der Familie, in seinem Umfeld oder am Arbeitsplatz, auszudrücken und auszutragen,
flüchtet es in die ihm letzte Möglichkeit der Konfliktverarbeitung, die Krankheit.
Dabei können nach Kiesel et al. [11] die Erkrankungen vielerlei Gestalt annehmen: sie können stärker psychisch oder überwiegend
körperlich, also psychosomatisch sein. Das Krankheitserleben, Krankheitsempfinden,
das Verhalten im Kranksein und das Krankheitsäußern sind dabei von bestimmten historischen,
kulturellen und religiösen Hintergründen abhängig.
So fanden Günay & Haag [7] in einer Studie in Allgemeinpraxen, dass türkische Frauen ihren Allgemeinarzt überwiegend
mit körperlichen Symptomen und Antriebslosigkeit aufsuchen und somit eine höhere Prävalenz
psychosomatischer und depressiver Störungen bei Migranten zu verzeichnen ist. Generell
ist davon auszugehen, dass ein großer Teil der türkischen Patienten mit psychischen
Symptomen sich in ihrer Heimat oder in Deutschland von traditionellen Heilern (Hodscha)
behandeln lassen [6]. Diese Hodschas sprechen die Sprache der Patienten, teilen i.d.R. eine ähnliche
kulturspezifische Symptomwahrnehmung und -bewertung und nehmen eine aktive therapeutische
Haltung an. Und genau dieses aktive Verhalten erwarten türkische Patienten von dem
in ihrem Kulturkreis hoch angesehenen Arzt, während deutsche Ärzte von ihren Patienten
eine differenzierte Eigenbeschreibung der Probleme und Symptome erhoffen [4].
Haasen et al. [8] konnten zeigen, dass in einem psychiatrischen Krankenhaus mit allgemeinem Versorgungsauftrag
nur 6 % der Patienten Migranten waren, obwohl 12 % Migranten im Einzugsgebiet lebten,
und dass im Gegensatz zu den übrigen Patienten (Deutsche 27 %) fast 50 % der Migranten
die Diagnose einer schizophrenen Störung bekamen. Dies ließe sich darin begründen,
dass die Schwelle zur Inanspruchnahme der Behandlung in der psychiatrischen Klinik
u.a. aufgrund von fehlenden speziellen Angeboten zu hoch sei und daher nur die schweren
psychiatrischen Störungen zur Aufnahme kämen.
Diese Studie stellt einen Versuch dar, die aktuelle Versorgung von türkischen Migranten
im ambulanten Bereich zu untersuchen, da sich die neueren Studien zu den psychischen
Störungen bei Migranten ausschließlich auf den stationären Bereich beziehen (u.a.
[8]
[10]). Ausgangslage für diese Untersuchung war eine Studie von Haasen et al. [9], die die Versorgung türkischer Migranten in Allgemeinarztpraxen untersuchten.
Methodik
Methodik
Um zu überprüfen, ob die Inanspruchnahme psychiatrischer Einrichtungen von türkisch
sprechenden Menschen mit psychischen Beschwerden erhöht werden kann, wurde ein spezielles
ambulantes Behandlungsangebot für türkische Migranten konzipiert. Verschiedene Hypothesen
sollten überprüft werden:
-
Ein spezielles ambulantes Behandlungsangebot für türkisch sprechende Migranten senkt
die Schwelle für die Inanspruchnahme von psychiatrischen Einrichtungen
-
Ein Behandlungsangebot im ambulanten Bereich wird vor allem von Patienten mit Depressionen
und somatoformen Störungen in Anspruch genommen
-
Durch mangelnde Kulturkenntnisse seitens der behandelnden Ärzte und durch die vorherrschenden
Sprachprobleme werden psychische Erkrankungen bei Migranten verkannt und/ oder fehldiagnostiziert,
was mit einer Spezialambulanz aufgefangen werden kann.
Alle Psychiater und Nervenärzte sowie türkischsprechende Ärzte in niedergelassenen
Praxen in Hamburg wurden angeschrieben und über die Möglichkeit informiert, türkischsprechende
Patienten mit psychischen Problemen in einer Spezialambulanz im Universitätsklinikum
Eppendorf zur weiteren kulturspezifischen Diagnostik vorzustellen. Nach einer ausführlichen
Untersuchung und Diagnosestellung durch einen Psychiater türkischer Herkunft wurden
die Patienten von dem gleichen Arzt mit einem halbstandardisierten Interview befragt.
In diesem Interview wurden soziodemographische Daten der Patienten erfasst sowie deren
Migrations- und Krankheitsgeschichte. Die im Rahmen der Spezialsprechstunde gestellten
Diagnosen wurden von dem verantwortlichen Arzt nach ICD-10 [3] codiert.
Der Erhebungszeitraum betrug sechs Monate (Januar bis Juni 1998). Einschlusskriterium
war die türkische Herkunft der Patienten, wobei es keine Rolle spielte, ob sie in
der Türkei oder in Deutschland geboren waren. Die Daten wurden mit Hilfe statistischer
Verfahren (x2, t-Test, ANOVA) ausgewertet.
Ergebnisse
Ergebnisse
Zwischen Januar und Juni 1998 wurden insgesamt 49 Migranten vorgestellt. 30 Patienten
wurden von einem niedergelassenen deutschen Arzt in die Spezialsprechstunde überwiesen,
17 Patienten von einem Arzt türkischer Herkunft und zwei Patienten von anderen niedergelassenen
Ärzten. Im Durchschnitt besuchte jeder der 49 Patienten 1,4 mal (SD = 0,34; Min =
1, Max = 5) die Spezialambulanz in der Psychiatrischen Klinik des Universitätsklinikums
Eppendorf.
Von diesen 49 Migranten waren 25 weiblich (51 %) und 24 männlich (49 %). Das Durchschnittsalter
lag bei 37,7 Jahren (SD = 10,5), wobei die Frauen im Durchschnitt 39 Jahre und die
Männer 36 Jahre alt waren.
Soziodemographische Daten
Soziodemographische Daten
37 Patienten waren verheiratet, sechs Patienten waren ledig, vier getrennt lebend
und jeweils ein Patient gab an, verwitwet zu sein bzw. in einer Beziehung zu leben.
Dabei wurden keine geschlechtsspezifischen Unterschiede beobachtet. Im Durchschnitt
betrug das Alter bei der Migration nach Deutschland 21,4 Jahre (SD = 8). Bei der Vorstellung
in der Spezialambulanz lebten die Patienten durchschnittlich 17,3 Jahre in Deutschland
(SD = 8,2). 82 % der Patienten haben Kinder, im Durchschnitt 2,3 Kinder (SD = 1).
In Bezug auf die berufliche Situation zeigte sich, dass 37 % der Patienten zum Erhebungszeitpunkt
voll beschäftigt und 33 % arbeitslos waren. Zehn Frauen (20 %) bezeichneten sich als
Hausfrauen, drei Patienten (6 %) waren bereits berentet und zwei (4 %) Personen teilzeitbeschäftigt.
Bezüglich der beruflichen Situation unterschieden sich Männer und Frauen signifikant
voneinander (x2 = 17,2; p < 0,01, [Tab. 1]). Männer waren häufiger arbeitslos, aber auch häufiger vollzeitbeschäftigt im Vergleich
zu den Frauen. Bezüglich der beruflichen Situation der Patienten ist auffällig, dass
85 % aller Patienten in der Spezialambulanz keine Schul- bzw. Berufsausbildung hatten.
Migrationsspezifische Daten
Migrationsspezifische Daten
38 der untersuchten Migranten kamen alleine nach Deutschland und nur drei Personen
sind hier geboren. 59 % der Migranten besaßen eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung
und 20 % hatten bereits die deutsche Staatsangehörigkeit, während fünf Personen sich
in einem laufenden Asylverfahren befanden, zwei Patienten Asyl gewährt bekommen hatten
und zwei Patienten jeweils eine Duldung sowie eine befristete Aufenthaltsgenehmigung
hatten.
Hinsichtlich der Deutschkenntnisse und der Aufenthaltsdauer in Deutschland fand sich
ein signifikanter Unterschied: Die 15 Patienten (26 %) mit eher guten Deutschkenntnissen
lebten im Durchschnitt 21 Jahren in Deutschland, im Gegensatz zu 34 Patienten (69
%) mit eher schlechten Deutschkenntnissen, die im Durchschnitt seit 15 Jahren in Deutschland
lebten (t = 3,3; p = 0,01).
Diagnosen, Psychopathologie und weitere Krankheitsmerkmale
Diagnosen, Psychopathologie und weitere Krankheitsmerkmale
Das Ersterkrankungsalter, welches als das Alter der ersten psychiatrischen Diagnose
definiert wird, lag in der Spezialambulanz im Durchschnitt bei 33,1 Jahren (SD = 10,6).
Bei der Vorstellung im Universitätsklinikum lebten die Miganten durchschnittlich seit
17 Jahren (SD = 8,2) in Deutschland und waren im Mittel bereits seit 4,5 Jahren (SD
= 5,5) erkrankt.
Bei 27 Migranten (55 %) wurde die Diagnose einer F4-Störung nach ICD-10 (F4 = Neurotische-,
Belastungs- und somatoforme Störungen) gestellt, während zwölf Migranten (24 %) die
Diagnose einer affektiven Störung (F3) erhielten. Bei fünf Migranten wurde eine Schizophrenie
oder wahnhafte Störung diagnostiziert, während die restlichen Migranten die Diagnose
einer Persönlichkeits- und Verhaltensstörung (F7) oder einer Störung durch psychotrope
Substanzen (F1) erhielten. In Bezug auf die psychiatrischen Diagnosen lassen sich
keine geschlechtsspezifischen Unterschiede erkennen [Tab. 2].
Der psychopathologische Befund ergab, dass 88 % der Migranten unter depressiven Symptomen
und 71 % unter Somatisierungen litten. 57 % wiesen Angstsymptome auf und 22 % zeigten
psychotische Symptome. Bezüglich der Somatisierung konnte gezeigt werden, dass die
Migranten ohne Somatisierungen mit durchschnittlich 17 Jahren länger in Deutschland
vor Beginn der Erkrankung leben als die Migranten mit Somatisierungserscheinungen
mit 11,6 Jahren (t = 2; p < 0,05). Somatisierungen und depressive Symptome treten
bei Migranten mit den unterschiedlichsten Diagnosen auf und nicht nur bei denen mit
einer affektiven oder neurotischen und Belastungsstörung (Tab. 3). In Bezug auf depressive
Symptome und Somatisierung zeigte sich ein signifikanter Unterschied insofern als
Patienten mit einer depressiven Symptomatik eher somatisierten als Patienten ohne
Anzeichen von Depressivität (x2 = 10,3; p = 0,01).
Nur bei sieben Migranten stellte der Psychiater türkischer Herkunft in der Spezialambulanz
eine andere Diagnose als der überweisende niedergelassene Arzt. Es konnte auch kein
Zusammenhang zwischen den Sprachkenntnissen der Migranten und dem Auftreten eines
Diagnosewechsels festgestellt werden.
Diskussion
Diskussion
Trotz der methodischen Schwäche dieser Untersuchung, dass nur 49 Migranten in der
Spezialsprechstunde für Patienten türkischer Herkunft erfasst werden konnten, ergeben
sich einige interessante Aspekte für die zukünftige Behandlung und Forschung. Ein
möglicher Grund für die geringe Inanspruchnahme der Spezialambulanz kann in der schweren
Zugänglichkeit liegen, da sich nur Migranten mit einem Überweisungsschein des niedergelassenen
Arztes anmelden konnten. Aber auch Ängste vor Stigmatisierung, Diskriminierung bis
zu Ängsten vor der Ausweisung aus Deutschland erklären die geringe Inanspruchnahme
psychiatrischer und psychologischer Angebote bei Menschen mit türkischem Hintergrund
und führen dazu, dass häufig auch nicht dem Allgemeinarzt von psychischen Problemen
berichtet wird.
Aufgrund der kleinen Stichprobengröße kann kein Anspruch auf eine repräsentative Untersuchung
erhoben werden. Die Hypothese, dass eine Spezialambulanz für Menschen türkischer Herkunft
die Schwelle der Inanspruchnahme deutlich senkt, kann nicht eindeutig bestätigt werden,
da wenige Migranten dieses Angebot in Anspruch genommen haben. Es kann aber auch daran
liegen, dass die niedergelassenen Ärzte nur ihre „Problemfälle” in die Ambulanz überwiesen
hatten. Die Patienten, die das Angebot in Anspruch genommen hatten, gaben an, davon
profitiert zu haben.
Die Tatsache, dass zwischen dem Migrationsalter und dem Ersterkrankungsalter zwölf
Jahre liegen, bestätigt das Phasenmodell der Migration nach Slutzki [15], dass auf die Phase der Euphorie unmittelbar nach der Migration eine Phase der Dekompensation
folgt, in der heftige Krisen mit somatischen und/oder psychiatrischen Symptomen auftreten.
Eine ungünstige psychosoziale Konstellation zeigt sich für den Betroffenen in der
Verschlechterung des psychischen Befindens. Der Zeitpunkt der Ersterkrankung markiert
dann die psychische Dekompensation einer über Jahre schleichenden Entwicklung, die
als spezifisch für Migranten angesehen werden kann.
Betrachtet man die Störungen, mit denen die Migranten die Spezialambulanz aufgesucht
haben, so fällt auf, das die Mehrheit der Patienten an affektiven sowie neurotischen
Belastungs- und somatoformen Störungen litten. Es scheint sich zu bestätigen, dass
Migranten eine stationäre Behandlung eher bei schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankungen
in Anspruch nehmen [8]
[10], während sie bei depressiven und somatoformen Störungen ambulante Hilfe suchen,
insbesondere bei ihrem niedergelassenen Arzt. Diese Tatsache erlaubt aber nicht die
Aussage, dass sich psychisch kranke Migranten vermehrt in der Allgemeinarztpraxis
behandeln lassen [9]. Mögliche Ursachen für die geringe Offenheit Menschen türkischer Herkunft, über
psychische Probleme zu reden, sind u.a. Ängste vor Diskriminierung und Stigmatisierung,
aber auch Sprachprobleme führen oft zu Missverständnissen.
Die Auswertung der psychopathologischen Befunde ergab einen sehr hohen Anteil depressiver
und somatoformer Symptome in der gesamten Stichprobe [Tab. 3]. Wie bereits schon bei den Diagnosen deutlich wurde, lässt sich mit den Analysen
der Psychopathologie die Hypothese bestätigen, dass Menschen mit depressiven und somatoformen
Symptomen eher Hilfe im ambulanten Bereich suchen. Dieses Ergebnisse stehen in Einklang
mit früheren Studien, die insbesondere die Somatisierungstendenzen bei Migranten im
ambulanten Bereich belegen konnten [7]. Mit der „Somatization Study” von Goldberg & Bridges [5] konnte gezeigt werden, dass Migranten, Aussiedler und Flüchtlinge häufig mit Somatisierungen
auf Stress und Schwierigkeiten reagieren, da sie ihre Probleme selten psychologisch
erklären und zu psychotherapeutischen Hilfeangeboten wenig Zugang haben.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf die Jahre in Deutschland bei Migranten
mit Somatisierungen einzugehen. Die Migranten ohne somatoforme Symptome lebten im
Durchschnitt 5,4 Jahre länger in Deutschland vor Beginn der Erkrankung. Eine Erklärung
für diesen signifikanten Unterschied kann sein, dass Menschen, die eine kürzere Zeit
hier leben, im Verständnis der Entstehung, Bedeutung und Behandlung von Krankheiten
durch ihre jeweilige Kultur geprägt sind. Je länger die Menschen in Deutschland leben,
um so mehr nehmen sie die Kultur und auch das kulturelle Bild von Krankheit und Gesundheit
des Gastlandes an. Eine solche Annahme des Krankheitsverständnisses kann sich u.a.
in dem Eingestehen von psychischen Problemen zeigen.
Betrachtet man die Anzahl der Diagnosewechsel, wird deutlich, dass nur bei wenigen
Patienten eine neue Diagnose gestellt werde musste. Und diese Wechsel scheinen in
keinem Zusammenhang mit den Sprachkenntnissen zu stehen. Dies kann einerseits an der
großen Kompetenz der überweisenden Ärzte liegen, aber auch an der sehr geringen Stichprobengröße.
Dieses Ergebnis bestätigt, dass es beim Thema Migration und psychische Krankheit oft
zu einer Überbewertung der Sprachproblematik kommt [9]. Deutlich wird aber, dass es bei älteren Migranten häufiger zu Schwierigkeiten im
Diagnoseprozess kommt, was mit der stärkeren Ausprägung historischer, kultureller
und religiöser Normen erklärt werden kann. Die Hypothese, dass mangelnde Kulturkenntnisse
der behandelnden Ärzte und Sprachprobleme zu einer hohen Zahl an Fehldiagnosen führen,
kann nicht bestätigt werden. Hier zeigt sich die Notwendigkeit, dass es weiterer Studien
bedarf, die mir Aspekte als Kultur und Sprache als Hindernisse in der Diagnose und
Behandlung von Migranten einbeziehen.
Für die Migranten in der Spezialambulanz war es hilfreich, ein Gespräch mit einem
Psychiater in ihrer Muttersprache zu führen, der ihre kulturellen Normen und kulturspezifische
Symptomgestaltung kennt und sie somit nicht mit den Patienten des Gastlandes vergleicht.
Es ist wichtig und notwendig, kulturspezifische diagnostische Kriterien zu entwickeln,
um sie dann bei Migranten anzuwenden. Insbesondere die Somatisierungserscheinungen
als Zeichen von psychischen Störungen sollten in diesen Kriterien mitberücksichtigt
werden.
Tab. 1 Geschlecht und Arbeitssituation
|
|
arbeitslos
|
Vollzeit
|
Teilzeit
|
Hausfrau
|
Rente
|
|
weiblich |
4 |
7 |
2 |
10 |
2 |
|
männlich |
12 |
11 |
0 |
0 |
1 |
|
Gesamt |
16 |
18 |
2 |
10 |
3 |
|
x2 = 17,2; p < 0,01 |
Tab. 2 Verteilung der ICD-10-Diagnosen
|
Geschlecht
|
F1
|
F2
|
F3
|
F4
|
F6
|
Gesamt
|
|
Männer |
2 |
2 |
6 |
12 |
2 |
24 |
|
Frauen |
0 |
3 |
6 |
15 |
1 |
25 |
|
Gesamt |
2 |
5 |
12 |
27 |
3 |
49 |
|
F1 = Suchtstörung, F2 = Schizophrenie und wahnhafte Störungen, F3 = Affektive Störung,
F4 = neurotische oder Belastungs- und somatoforme Störungen, F6 = Persönlichkeits-
oder Verhaltensstörung |
Tab. 3 Diagnosen der Patienten mit depressiven Symptomen und Somatisierung
|
Depressivität |
F1
|
F2
|
F3
|
F4
|
F6
|
Gesamt
|
|
ja |
0 |
3 |
12 |
26 |
2 |
43 |
|
nein |
2 |
2 |
0 |
1 |
1 |
6 |
|
Somatisierung
|
|
ja |
0 |
3 |
10 |
19 |
3 |
35 |
|
nein |
2 |
2 |
0 |
8 |
0 |
14 |