psychoneuro 2004; 30(11): 586
DOI: 10.1055/s-2004-836985
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Gentherapie statt Psychotherapie? - Kein Abschied vom Sozialen!

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Publication Date:
02 December 2004 (online)

 
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    Scholten B, (Hrsg.) Gentherapie statt Psychotherapie? - Kein Abschied vom Sozialen! dgvt Verlag, Tübingen 2004 , 144 Seiten, € 14.80, ISBN 3-87159-046-0

    Unter gleichem Motto wie der Buchtitel veranstaltete die Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie (dgvt) im Februar 2002 einen überaus interessanten Kongress in Berlin. Es ist das Verdienst des Herausgebers, aus der großen und heterogenen Anzahl der Kongressbeiträge eine Auswahl getroffen zu haben, die das komplexe und schwierige Thema angemessen und in seinen wichtigsten Aspekten dem Leser des hier zu besprechenden Buches nahe bringt.

    Dabei erweist sich Scholtens inhaltlich profunde Einführung ebenso hilfreich wie die ihr folgende Ergebnisdarstellung humangenetischer Forschung, die er als eine Herausforderung an die Klinische Psychologie wertet. Darüber hinaus erleichtert er auch dem wenig vorgebildeten Leser den orientierenden Einstieg durch eine von ihm kommentierte Literaturliste zum Thema, womit er gleichzeitig den Service grundlegender und weiterführender Literaturempfehlungen bietet.

    Das Buch ist in drei Kapitel gegliedert: Grundlagen der Genforschung, Sozialwissenschaftliche und psychologische Wortmeldungen zu den Ergebnissen der Genforschung und empirisch psychologische Untersuchungen zu Folgen der Humangenetik.

    Deutlich wird in allen Beiträgen, dass, nicht zuletzt durch die öffentliche Debatte der letzten Jahre und die durch sie transportierten Heilserwartungen bezügl. gentechnischer Diagnostik und Therapie, Nüchternheit und bescheidenere und damit realistischere Dimensionen dem tatsächlichen Forschungsstand entsprechen. Scholten weist diesbezüglich Parallelen in den Verhaltenswissenschaften und Psychotechniken nach, die in der Vergangenheit ähnliche Machbarkeitsmythen erzeugt hätten.

    Zurück zu den Fakten: Das Genom ist komplex, die Determination ein Sonderfall, die Nichtderminiertheit die Regel (Kennerknecht, 29 f.). Genetische Beteiligung an Erkrankung ist immer im Sinne einer möglichen Disposition hin zu einer erhöhten Vulnerabilität zu verstehen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger! Und selbst somatische Prozesse und Merkmale sind nur mit einer 10-80% genetischen Weitergabewahrscheinlichkeit gestreut. Und diese erheblich Streuungsbreite trifft erst recht für alle seelischen Prozesse und eben da auch für ihre pathologischen Varianten zu. (Illes u.a., 119 ff.).

    Bei all dem bleibt festzuhalten, dass die Ursachen und Formen von Variabilität und Plastizität noch längst nicht hinreichend geklärt sind.

    Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass wir uns nach wie vor in Diagnostik und Therapie seelischer Störungen in hochkomplexen bio-psycho-sozialen Theorie- und Handlungskonzepten zurecht finden müssen, und mit ihnen zu arbeiten haben. Klare, schnelle und eindeutige "Königswege" wird es hochwahrscheinlich auch in Zukunft nicht geben,was potentiellen "Anwendern" in Pharma-und Apparateindustrie, aber auch Teilen der Ärzteschaft missfällt. Ungeduldig und mit z.T. zweifelhaften Methoden versuchen sie, Betreiber genetischer Grundlagenforschung zunehmend unter den Verwertungsdruck von Kapital- und Marktinteressen zu zwingen (Kennerknecht im Symposium). Denn der Markt für phantastische Heilbarkeitsversprechungen, der Herstellbarkeit zeit- und grenzenloser Gesundheit, Schönheit und vielleicht sogar eines Tages der Unsterblichkeit (anti aging), scheint unbegrenzt und damit ebenso unbegrenzt profitabel.

    Doch wir bleiben letztlich immer im Bereich relativer Unschärfe, bei allem was wir tun. Das ist die wichtigste Botschaft des Kongresses wie dieses sehr gut gemachten Buches. Mag sie uns - die Botschaft - gefallen oder nicht!

    Dr. Martin Wollschläger, Gütersloh

     
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