ZFA (Stuttgart) 2004; 80(10): 403
DOI: 10.1055/s-2004-832363
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Wieder sehen

M. M. Kochen1
  • 1Georg-August-Universität, Göttingen
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Publication Date:
15 October 2004 (online)

Neben Meinungen und Stellungnahmen zu hausärztlichen Themen interessieren sich die meisten von Ihnen auch für medizinische Fortschritte, die auf den ersten Blick wenig mit der alltäglichen Praxis zu tun haben. Dafür gibt es viele Gründe, nicht zuletzt dass einige dieser Innovationen in absehbarer Zeit Teil der primärärztlichen Versorgung werden könnten, aber auch dass HausärztInnen auf Fragen von Patienten vorbereitet sein müssen, die auf Informationen aus Presse oder Internet beruhen. Ich werde künftig die Gelegenheit nutzen, Ihnen an dieser Stelle gelegentlich über Innovationen zu berichten, die häufig in der unendlichen Zeitschriftenlandschaft untergehen.

Das heutige Thema behandelt eine neue Möglichkeit, Krankheiten mit körpereigenen Zellen zu behandeln, die fernab vom Ort des Geschehens entnommen werden. Versuche in dieser Richtung sind nicht ganz neu, wenn man z. B. an die Experimente denkt, Patienten nach Myokardinfarkt eigene Blutstammzellen zu injizieren. Was sich dann genau am geschädigten Organ abspielt, ist bis heute genau so schwer zu bestimmen wie die Antwort auf die Frage, ob es sich bei Zellen, die nicht aus dem Knochenmark stammen, wirklich immer um die viel diskutierten adulten (im Gegensatz zu embryonalen) Stammzellen handelt.

Die Behandlungsmöglichkeiten für Patienten, die durch Hornhautschädigungen nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr sehen können, sind bis heute begrenzt. Die Ursachen solcher Schäden sind meist thermische oder chemische Traumata des Auges oder immunologische Erkrankungen (wie z. B. das Stevens-Johnson-Syndrom, das okuläre Pemphigoid - eine chronische, vernarbende Bindehauterkrankung - oder die Graft-versus-host Krankheit des Auges als Folge der bei malignen Erkrankungen immer häufiger angewandten Stammzelltransplantation). Für die Integrität und Produktion der Epithelzellen der Hornhaut sind Stammzellen aus dem sog. Limbus, der Übergangsstelle zwischen Hornhaut und Lederhaut, verantwortlich.

Bei einseitiger Erkrankung wurde bislang versucht, Limbus-Stammzellen vom gesunden auf das kranke Auge zu transplantieren - mit dem Risiko, dass nach Zellentnahme auch diese Seite erkrankt. Sind beide Seiten betroffen, kommt nur die Verpflanzung von einem Fremdspender infrage, die jedoch eine langfristige Immunsuppression mit erheblichen lokalen und systemischen Risiken (Infektionen, Leber- und Niereninsuffizienz) erfordert. Selbst wenn solche Eingriffe technisch gelingen, wird ein Transplantat trotz Immunsuppression oft abgestoßen.

Japanischen Augenärzten und Bioingenieuren ist es jetzt gelungen, die Transplantation mit einer neuen Technik zu vereinfachen und gleichzeitig das Risiko für die betroffenen Patienten zu vermindern. 4 Patienten mit beidseitiger Hornhautschädigung wurden in Lokalanästhesie 3 × 3 mm große Zellbiopsien aus der Wangenschleimhaut entnommen und auf speziellen temperaturempfindlichen Polymer-Oberflächen kultiviert. Durch die Reduktion der Standardtemperatur von 37 °C auf unter 30 °C konnte ohne weitere Zusätze eine komplette Ablösung des zusammenhängenden Zellrasens erreicht werden, der dann (nach Entfernung des fibrovaskulären Gewebes von der Hornhautoberfläche) ohne Naht transplantiert wurde. Innerhalb einer Woche kam es zu einer kompletten Re-Epithelisierung der nun wieder transparenten Hornhautoberfläche und zu einer erheblichen Verbesserung der Sehkraft. Auch die notwendige regelmäßige Zufuhr von konservierungsmittelfreier Tränenflüssigkeit (die Patienten leiden unter einer ausgeprägten, Sjögren-ähnlichen Trockenheit) führte nicht zu einer Transplantatablösung.

Die Erfahrungen mit 4 Patienten reichen naturgemäß nicht aus, diese Technik in die klinische Routine einzuführen. Größere Krankenzahlen und langfristige Kontrollen sind notwendig. Betroffene Patienten können aber heute schon hoffen, sich in absehbarer Zukunft einen verloren geglaubten Traum zu erfüllen: Wieder sehen.

Ihr Michael M. Kochen

Michael M. KochenMPH, FRCGP, Facharzt für Allgemeinmedizn 

Abteilung Allgemeinmedizin · Georg-August-Universität

Humboldtallee 38

37073 Göttingen

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