Fortschr Neurol Psychiatr 2005; 73(5): 245-248
DOI: 10.1055/s-2004-830250
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Situations- und Kontextangemessenheit von Leitlinien

Argumente für eine psychologische und soziologische PerspektiveSituation and Context Appropriateness of GuidelinesU.  Hasenbein1 , C.-W.  Wallesch1
  • 1Klinik und Poliklinik für Neurologie, Otto-von-Guericke-Universität Leipzig
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Publication Date:
09 May 2005 (online)

Der Beitrag von Linden [1] ist Teil einer breiten Debatte um Sinn und Effektivität von Leitlinien, die mittlerweile fast 20 Jahre lang anhält. Auch die Verbreitung des neuen Paradigmas einer evidenzbasierten Medizin (EbM) [2] [3] hat daran nichts geändert. Im Gegenteil - die Vielfalt und Tiefe dieser Auseinandersetzungen scheint noch zugenommen zu haben. Ein Beispiel hierfür liefert der Beitrag von Kienle u. Mitarb. [4] und die darauffolgende Diskussion im „Deutschen Ärzteblatt”. Einmütigkeit der Meinungen besteht wohl am ehesten darin, dass Leitlinien Orientierungshilfen in einer immer undurchschaubarer werdenden Welt von Studien und Meta-Analysen sein sollen [5]. Dabei steht auch fest, dass Leitlinien zwar ein wesentliches EbM-Instrument sind, Leitlinien jedoch auch durchaus ohne EbM - etwa basierend allein auf dem Konsens von Experten - etabliert werden können [6]. Es scheint so, als träten die Probleme mit (evidenzbasierten) Leitlinien um so mehr zutage, je umfassender sie sich verbreiten und Anspruch sie auf praktische Relevanz erheben (u. a. [7]).

Mit seinem Votum für eingehendere Analysen ärztlichen Handelns und Entscheidens wendet sich Linden [1] berechtigt gegen Ansätze, Leitlinien normative Geltung zu verschaffen, ohne die Praxisbedingungen ihrer gewünschten Anwendung zu kennen und zu berücksichtigen. Für Leitlinienautoren ist es bequem, bei der Erstellung von Leitlinien lediglich auf eigene Praxiserfahrungen zurückzugreifen und auf Analysen in der Zielgruppe ihrer Leitlinien zu verzichten. So ergab eine Analyse internationaler Leitlinien zur Versorgung von Depressionen in der Allgemeinarztpraxis, dass lediglich drei von 15 der seit 1990 veröffentlichten Leitlinien in praxisrelevanten Pilotstudien getestet wurden, und ebenfalls nur drei Leitlinien enthielten Implementierungshinweise [8]. Zudem stehen Leitlinien auch in dem Ruf, der Durchsetzung fachpolitischer Interessen zu dienen. Die Nutzung von Leitlinien stellt in jedem Fall eine Transformationsleistung von theoretischem in praktisches Wissen dar [9], die den potenziellen Anwendern um so schwerer fällt, je weniger die Leitlinienautoren auf den Hilfsbedarf ihrer Zielgruppe eingegangen sind bzw. in weiteren Überarbeitungen einzugehen beabsichtigen.

Linden [1] geht es allerdings um ein noch weiterführendes Problem, nämlich um das der prinzipiellen Eignung von Leitlinien als Orientierungshilfen im Vergleich zu anderen Informationsquellen. Angezweifelt wird insbesondere, dass der Algorithmen- oder Checklisten-Charakter von Leitlinien der Logik medizinischen Handelns entsprechen kann. Während der Autor Algorithmen, die zudem unter dem Anwendungsvorbehalt einer richtig gestellten Diagnose stünden, für entweder banal oder unüberschaubar hält, wertet er Checklisten zwar als Erinnerungshilfe, die allerdings zu komplex seien und der ärztlichen Adaption an den konkreten Patienten bedürften. Die Argumentation von Linden [1] führt also darauf hinaus, dass Leitlinien nicht zur Orientierung, sondern eher zur Desorientierung beitragen. Die ärztliche Urteilskraft werde dadurch entwertet, dass der „leitlinienexponierte Arzt” seine Entscheidungen immer weniger aus den in Fachartikeln und Lehrbüchern dargelegten Hintergründen herleite und stattdessen zu einer unreflektierten Übernahme der Leitlinienempfehlungen angestiftet werde.

Diese Argumente sind nicht neu und spiegeln nur einen Teil der EbM-Kritik wider. Beizupflichten ist Linden darin, dass derzeit nicht klar ist, welche Orientierungshilfen welcher medizinischen Problemlage adäquat sind. Allein die Diskussion um die mangelnde Angemessenheit der medizinischen Aus-, Fort- und Weiterbildung - insbesondere bei der Entwicklung methodischer Kompetenzen - macht deutlich, welche Defizite bei der Aufbereitung von Informationen und ihrer handlungswirksamen Vermittlung auch ohne EbM bestehen. Die ärztliche Urteilskraft kann durch EbM sicher nicht ersetzt werden, und nach den EbM-Initiatoren soll sie dies auch keinesfalls [3] [10]. Mittels Checklisten, Algorithmen und anderen Denkschemata kann EbM, verbunden mit neuen Ausbildungsformen, allerdings dazu beitragen, bisher übliche Vorgehensweisen kritisch reflektieren zu können und sich für Neues (v. a. externe Evidenz) offen zu halten. Damit dies gelingt, ist deutlich stärker als bisher zu untersuchen und zu beachten, wie Praxis- bzw. Erfahrungswissen generiert wird, in welchem Verhältnis Handeln und Erfahrung stehen und wie fremdes Wissen mit eigener Erfahrung verbunden werden kann.

Welche Informationsquelle und welche Methode des Urteilens bei welchen Entscheidungsproblemen das höchste Unterstützungs- und Problemlösepotenzial besitzt, hängt wesentlich von folgenden Faktoren ab: a) von den bereits vorhandenen Kompetenzen des Arztes, b) von der Beschaffenheit des Entscheidungsproblems, c) von der Entscheidungssituation, d) vom ärztlichen Entscheidungsspielraum, e) von der Bereitschaft des Arztes, fremde Erkenntnis neben den eigenen gelten lassen zu wollen.

a) Eine zentrale Unterscheidung, die den Umgang mit Wissen bestimmt, betrifft das Ausmaß ärztlicher Erfahrung. Um die Wissensklassifikation von Linden [1] aufzugreifen, kann man sagen: Novizen greifen überwiegend auf Theoriewissen zurück, während Experten alle Wissensbasen nutzen. So unterscheiden sich „Novizen” und „Experten” in ihrem Handlungsergebnissen bei gleicher Verfügbarkeit von situationsbezogenen Informationen und (abrufbarem) Faktenwissen aus Ausbildung und Berufserfahrung. Interessanterweise sind diese Unterschiede nicht primär auf Informations- bzw. Wissensdifferenzen zwischen Experten und Novizen, sondern auf den Umgang mit Informationen („information processing”) zurückzuführen (u. a. [11]). So zeigt eine ältere Untersuchung bei Neurologen, dass sich Experten von Novizen durch kürzere Entscheidungsketten, weniger bearbeitete Fragen und Konzentration auf die ergiebigsten Informationsquellen unterscheiden [12]. Intuitives Denken ist bei Experten deutlich ausgeprägter als „kalkulative Rationalität” [13]. Epstein [14] verweist darauf, dass erfahrene Ärzte stärker als unerfahrene Ärzte nicht in der Lage sind, ihr Handeln zu beschreiben bzw. zu explizieren. Daneben hat sich als zentraler Prädiktor für die Stellung der richtigen Diagnose die Richtigkeit der ersten Hypothese herausgestellt (Zusammenfassung der Literatur dazu bei: [15]). Zudem unterscheiden sich berufserfahrene Ärzte von weniger berufserfahrenen Ärzten durch eine höhere Unsicherheitstoleranz [16].

b) Entscheidungsprobleme unterscheiden sich nach Merkmalen wie innerer Komplexität, Einbettung in andere Probleme und Bedingungsgefüge (z. B. Bedeutung des Problems für das Behandlungsergebnis), Dynamik, Klarheit, etc. voneinander. Von Entscheidungen ist definitionsgemäß nur dann zu sprechen, wenn Problemlösungen nicht bereits feststehen, sondern zwischen Handlungsoptionen gewählt werden muss. Für die Medizin kann man vermuten, dass das Standardisierbarkeitspotenzial von Problemlösungswegen dort am größten ist, wo biologische und naturwissenschaftliche Problemstellungen überwiegen, und am geringsten dort ist, wo soziale Aspekte (v. a. die Interaktion mit dem Patienten) den Problemlösungsprozess maßgeblich mitbestimmen oder sogar definieren. Insofern verwundert es nicht, dass der Umgang mit Problemen der Chirurgie besser prognostizierbar und standardisierbar ist als in der Psychotherapie oder Psychiatrie.

c) Eng mit der Problembeschaffenheit (Punkt b) hängt zusammen, dass trotz der Individualität jedes Patienten und der Einzigartigkeit seines Gesundheitsproblems die Medizin ein aus verschiedenen Gründen beschränktes Handlungsrepertoire bereit hält. Aus diesem Definitions- und Lösungsraum wählt der Arzt nicht willkürlich einzelne Maßnahmen aus, sondern greift auf seine individuellen und seiner Einrichtung entsprechenden spezifischen Routinen zurück. Lediglich der implizite Charakter arzt- und einrichtungsspezifischer Routinen und Regeln überdeckt, dass ein Großteil der Patientenversorgung routineförmig stattfindet. Genau an diesem Punkt kann EbM fruchtbringend einsetzen, wenn sich nämlich der Arzt verdeutlicht, ob die von ihm „in der Regel” durchgeführten Maßnahmen dem Stand der Wissenschaft entsprechen. Leitlinien sind also nicht dazu geeignet, Hilfe für den außergewöhnlichen Fall, sondern für den prototypischen Fall zu geben. Als fruchtbarer Weg könnte sich erweisen, Leitlinienempfehlungen nicht als theoretisches Wissen neben das praktische Wissen fernab vom Handeln stehen zu lassen, sondern „Signalsituationen” zu definieren (vgl. [8]), schwerpunktmäßig Versorgungsabläufe leitlinienadäquat zu gestalten und Erinnerungssysteme (Reminder) zu installieren (Beispiel zur leitlinienorientierten Demenzversorgung [17]).

d) Leitlinienempfehlungen machen dort keinen Sinn, wo sie auf die Änderung bestimmter Elemente des Handelns von Akteuren abzielen, welche von diesen Akteuren nicht beeinflusst werden können (vgl. zur Settingabhängigkeit der Depressionsbehandlung: [18] [19]). Prinzipiell bestimmt jedoch der Arzt wie kaum eine andere Berufsgruppe auf autonome Weise das Versorgungsgeschehen. Es darf nicht übersehen werden, dass EbM und Leitlinien über ein Mobilisations- und Legitimationspotenzial verfügen, welches sinnvoll dort eingesetzt werden kann, wo die Versorgung nicht dem Stand der Medizin entspricht. So weist die Analyse von Dietrich u. Mitarb. [20] darauf hin, dass in Deutschland ca. 822 Mio. Euro mehr für die Arzneimitteltherapie bei Depression ausgegeben werden müsste, wenn diese leitliniengerecht erfolgen würde.

e) Das Misstrauen von Ärzten in Erkenntnisse, die nicht auf eigener Erfahrung beruhen, wie auch in Bezug auf Methoden der Biometrie und Statistik ist weit verbreitet. Dies mag weitgehend im dualen Charakter der Medizin als Wissenschaft und Kunst begründet sein [21] [22] [23]. Medizinische Forschung und Praxis folgen unterschiedlichen Logiken, deren Kriterien „Wahrheit” auf der einen Seite und „Behandlungserfolg” auf der anderen Seite sind. Während die Praxis „Versuch und Irrtum” als legitimen Handlungsmodus gelten lässt, operiert Wissenschaft nach dem Prinzip des Ausschlusses von Irrtum durch Kontrolle wesentlicher Störgrößen. Dies schließt natürlich nicht aus, dass Forscher auch irren können. Zudem folgt Forschung primär einem naturwissenschaftlich geprägten Wissenschaftsmodell, zumal hier die Kontrolle von Einfluss- und Störgrößen leichter fällt. Die medizinische Praxis ist jedoch mehr als angewandte Humanbiologie. Der Zugriff auf (externe) wissenschaftlich gewonnene Informationen (aus welcher Quelle auch immer) kann nicht nur zur Unsicherheitsminimierung des Praktikers, sondern auch zur neuer Verunsicherung führen. Mit Leitlinien wird der Versuch unternommen, eine wissenschaftlich glaubwürdige Quelle zu schaffen, durch die vermieden werden soll, dass Forschungsergebnisse nur ausschnitthaft wahrgenommen werden und aus methodisch möglicherweise zweifelhaften Studien falsche Schlüsse gezogen werden.

Eine weitere analytische Ebene ist in die Arbeit von Linden [1] als Differenz zwischen der Qualität einer Leitlinie und ihrer Wirksamkeit einzuziehen. Qualitativ hochwertige Leitlinien können unwirksam sein, wenn sie von den potenziellen Adressaten als schlechtere Informationsquelle wahrgenommen werden als beispielsweise Journale und Lehrbücher.

Linden [1] ist beizupflichten, dass Leitlinien im dreifachen Sinn evidenzbasiert sein müssen, nämlich indem a) sie auf einer methodisch hochwertigen und zuverlässigen Analyse der wissenschaftlichen Literatur beruhen sollten, b) die Überleitung von Informationen in Empfehlungen unmissverständlich und nachvollziehbar erfolgt und c) ihre Auswirkungen auf Versorgungsprozesse und -ergebnisse kritisch überprüft werden. Dass die wissenschaftliche Methodik zur Effektivitätsprüfung einfach ist, stellen allerdings bisherige Untersuchungen zu diesem Gegenstand infrage. Art und Umfang der Leitlinienanwendung ist hochgradig von den Implementierungsprozessen abhängig (zur Implementierung von Depressionsleitlinien siehe [18]). Der Erfolg der Implementierung ist seinerseits davon abhängig, welche Auffassung Ärzte von Leitlinien im Allgemeinen und im Konkreten haben, inwiefern sie die (biostatistischen und epidemiologischen) Begrifflichkeiten deuten können und welche praktischen Anwendungsbarrieren bestehen (vgl. Zusammenfassung in: [24]; spezifisch für Depressionsleitlinien in Großbritannien: [25]). Außerdem kann man erwarten, dass sich zeitliche Interventionseffekte zeigen. So sinkt beispielsweise der Bekanntheitsgrad von Leitlinien mit zeitlichem Abstand von ihrer Veröffentlichung. Außerdem stellen Leitlinien keinen Kanon dar, der umfassend praktiziert wird, sondern Effekte können partiell (in Hinblick auf bestimmte Leitlinienempfehlungen) erfolgen. Daher ist auch die Frage, welche Indikatoren zur Wirksamkeitsmessung gewählt werden, alles andere als trivial. Empirische Effektivitätsuntersuchungen dürfen jedenfalls nicht auf eine pauschale Befürwortung oder Ablehnung von Leitlinien abzielen, sondern sollten a) die Wirksamkeit bestimmter Leitlinien bzw. einzelner Leitlinienempfehlungen unter bestimmten Anwendungsbedingungen bewerten und b) einen Beitrag zur weiteren Aufdeckung grundsätzlicher Mechanismen der Integration von Leitlinieninformationen in das ärztliche Wissen und Handeln leisten.

Leider ist festzustellen, dass die Argumente, die Linden [1] gegenüber Leitlinien ins Feld führt, auch für andere - evidenzbasierte wie weniger evidenzbasierte - Informationsquellen gelten: Weder Leitlinienautoren noch der einzelne Arzt kann das Problem des Publikations-Bias oder die interessengesteuerte Auswahl von Forschungsthemen lösen. Die Zusammenfassung in Lehrbüchern, Abstracts in Studien, Kollegenmeinungen in Visiten oder Merksätze in Vorlesungen beanspruchen durchaus, in der Praxis beachtet zu werden und tragen oftmals Checklisten-Charakter. Und in einigen Ausbildungsstätten wird seitens der Ausbildungsverantwortlichen bestimmten Lehrbüchern durchaus normative Geltung zugeschrieben. Zudem stellt die Menge der dargebotenen, wenn auch im Einzelfall didaktisch gut aufbereiteten Informationen keinen Indikator für ihre Qualität und schon gar nicht für die Qualität des Umgangs mit ihnen dar. Der angemessene Umgang mit Leitlinien wie mit Lehrbüchern und Studien ist jedenfalls, im Zweifelsfall nicht nur die Zusammenfassungen zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch die dargebotenen Hintergrundinformationen, Begründungs- und Deutungszusammenhänge.

Die Annahme von Linden [1], dass Leitlinien allein kontext- und erfahrungsfreies Theoriewissen enthalten, wird von ihm selbst widerlegt, indem er die Interessengebundenheit und Selektivität der Leitlinienautoren anspricht. Leitlinien beinhalten durchaus Wertungen - allein schon durch die Entscheidung darüber, ob und aus welchen Studienergebnissen welche Handlungsempfehlungen abzuleiten sind. Gute Leitlinienautoren fragen deshalb auch danach, ob ihre Empfehlungen umsetzbar sind oder ob Missverständnisse ausgeschlossen werden können (siehe zur Einführung von Depressions-Leitlinien in Deutschland den Supplementband IV der Zeitschrift für ärztliche Fortbildung und Qualitätssicherung - v. a. [26]).

Die Behauptung, dass anderes als theoretisches Wissen den „hauptsächlichen Teil ärztlichen Verhaltens” erklärt, kann nicht bewiesen werden. Wissen ist - anders als Information - stets in einen praktischen Kontext eingeordnet und wird in diesem Kontext aktualisiert, bewertet und gelöscht. Was im Studium einst gelernt worden ist, behält für den handelnden Akteur Relevanz nur dann, wenn es in der Arbeit angewendet wird. Im Praxis- oder Erfahrungswissen eines Experten verwischen die Grenzen zwischen den Wissensformen. Eine eigene, noch unveröffentlichte Untersuchung zum Praxiswissen von Neurologen in der Schlaganfallbehandlung hat gezeigt, dass selbst auf der Ebene des Wissens (ohne Bezug auf eine konkrete Behandlungssituation) in einigen Handlungsfeldern deutliche Unterschiede in der Übereinstimmung der Befragten hinsichtlich allgemeiner Behandlungskriterien bestehen.

Die Leitliniendefizite, auf die Linden [1] am Beispiel fehlender Kriterien für Arbeitsunfähigkeit bei Depression aufmerksam macht, sind Ausdruck einer unterentwickelten Versorgungsforschung. In diesem Zusammenhang ist jedoch darauf hinzuweisen, dass zwischen EbM und evidenzbasierter Gesundheitsversorgung (evidence based health care) ein entscheidender Unterschied besteht, nämlich dass Versorgungsprobleme ab einem bestimmten Abstraktions- und Komplexitätsgrad nicht mehr durch Regeln strukturiert und gelöst werden können. Derartige Probleme können dann nicht mehr auf medizinischer Ebene, sondern nur noch auf moralischer und politischer Ebene erörtert werden. Nur in einem umfassend planwirtschaftlichen Gesundheitssystem, dessen Praktikabilität jedoch bezweifelt werden kann und von Linden implizit abgelehnt wird, ließen sich derartige Fragen allumfassend und einheitlich lösen.

Abschließend sei darauf verwiesen, dass es eine allgemeingültige oder allein anerkannte Handlungstheorie nicht gibt. Allein Soziologie, Psychologie und Wirtschaftswissenschaften haben eine Vielzahl von Theorien und Theorieansätzen hervorgebracht (u. a. [27]). Das von Linden [1] dargestellte Modell spricht eher für als gegen die Einbeziehung normativ aufbereiteten Theoriewissens aus Leitlinien. Dies würde bei Verwendung anderer Handlungstheorien wie des Pragmatismus, der die Ausrichtung der Wahl der Handlungsmittel an ex ante festgelegten Handlungszielen infrage stellt, deutlich schwerer fallen. Jedoch unabhängig davon, inwiefern das Modell rationalen Handelns den Alltag ärztlicher Praxis adäquat abbildet, kann unter Hinzuziehung von Handlungsmodellen in der Tat mehr Klarheit über Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von Leitlinien und anderen Informationsquellen gewonnen werden. Die verwendeten Modelle sollten den unterschiedlichen Settings und Organisationsformen im Gesundheitswesen entsprechen; rein individualistisch-psychologische Ansätze dürften gegenüber arbeits- und organisationswissenschaftlichen Ansätzen hierfür schlechter geeignet sein.

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Prof. Dr. med. C. W. Wallesch

Klinik und Poliklinik für Neurologie, Otto-von-Guericke-Universität

Leipziger Straße 44

39120 Magdeburg

Email: Neuro.Wallesch@Medizin.Uni-Magdeburg.de

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