Fortschr Neurol Psychiatr 2005; 73(1): 7-8
DOI: 10.1055/s-2004-830163
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Haben wir in der Therapie der Anorexia nervosa Fortschritte gemacht?

Did We Make Progress in the Treatment of Anorexia Nervosa?M.  de Zwaan1
  • 1Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum Erlangen
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Publication Date:
21 January 2005 (online)

Die Anorexia nervosa (AN) hat nach neuesten Untersuchungen eine standardisierte Mortalitätsrate (SMR), die im ersten Jahr nach der Erstvorstellung etwa um das 30fache gegenüber einer in Alter und Geschlecht vergleichbaren Gruppe in der Normalbevökerung erhöht ist. Eine erhöhte SMR lässt sich bei Patientinnen mit AN bis zu einem Katamnesezeitpunkt von 15 Jahren nachweisen [1]. Die AN ist damit jene Störung mit der höchsten SMR aller psychischen Erkrankungen. Es gibt leider keine Hinweise darauf, dass sich diese relativ schlechte Prognose im Laufe der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlich verbessert hätte [2]. Die oft fehlende oder zumindest sehr ambivalente Motivation zur Veränderung ist bei Patientinnen mit AN krankheitsimmanent und bringt Behandlerinnen und Behandler nicht selten in einen Zustand der Hilflosigkeit und Ohnmacht. Häufig wird versucht die Patientinnen mit Drohungen zur Behandlung zu bewegen. In den letzten Jahren wurde daher vermehrt Aufmerksamkeit auf therapeutische Strategien gelegt, deren Zielsetzung es ist, die Veränderungsmotivation bei anorektischen Patientinnen zu erhöhen [3].[1]

Prof. Dr. med. Martina de Zwaan

Bei den meisten Betroffenen kann zumindest eine gewisse Behandlungsmotivation erreicht werden, eine Subgruppe bleibt jedoch krankheitsuneinsichtig bzw. lehnt Therapie ab. Das stellt die Behandelnden vor eine schwierige Aufgabe. Es muss zwischen unfreiwilliger Hospitalisierung und Zwangsbehandlung unterschieden werden. Zwangsbehandlung bei akuten medizinischen Komplikationen ist selbstverständlich jederzeit ohne Einwilligung der Patientin möglich. Therapeutische Ansätze mit dem Ziel das Störungsbild dauerhaft zu bessern erfordern aber auf jeden Fall die Mitarbeit der Betroffenen, ob sie nun freiwillig oder unfreiwillig aufgenommen wurde. Es muss also zwischen medizinischer Behandlung zur Stabilisierung körperlicher Komplikationen und einer längerfristigen psychotherapeutischen, auf die Normalisierung des Essverhaltens ausgerichteten Behandlung, unterschieden werden. Es existieren weltweit nur 3 Untersuchungen, die unfreiwillig aufgenommene Patientinnen mit freiwillig aufgenommenen Patientinnen vergleichen. Die Untersuchungen wurden in England, USA und Australien durchgeführt und sind in der Publikation von Brunner u. Mitarb. [4] in dieser Ausgabe exzellent zusammengefasst. Das interessanteste Ergebnis dieser Untersuchungen ist, dass auch unfreiwillig aufgenommene Patientinnen eine kurzfristig zufriedenstellende Gewichtsrestitution erreichen können. Fraglich bleibt der Langzeiterfolg, wobei nicht geklärt ist, ob und in welchem Ausmaß die unfreiwillige Aufnahme die Prognose überhaupt beeinflusst. Auf der anderen Seite ist nicht bekannt, ob durch unfreiwillige Hospitalisierung und Behandlung Todesfälle vermieden werden können. Aus dem deutschsprachigen Raum liegen keine Studien vor. Es ist daher unbekannt, wie viele Patientinnen mit AN in Deutschland unfreiwillig hospitalisiert bzw. behandelt werden.

Es gibt keine verbindlichen Kriterien für eine unfreiwilligen Hospitalisierung bei AN. Häufig hängt es von der Erfahrung der Behandlerin oder des Behandlers im Umgang mit anorektischen Patientinnen ab. Nicht nur die Betroffenen selbst sondern auch das stationäre Behandlungsteam wird mit enormen Erwartungen der Umgebung konfrontiert. Vor allem in auf die Therapie schwerer Essstörungen spezialisierten Einrichtungen werden sich viele auch unfreiwillig aufgenommene Patientinnen dennoch verbessern, wobei die therapeutische Gemeinschaft mit anderen Essgestörten hierbei sicherlich eine große Rolle spielt. Die vorgegebenen klaren Behandlungsstrukturen und natürlich auch die Abgabe der Verantwortung an das Team bzw. die vorübergehende Übernahme der Verantwortung durch das Team kann eine Erleichterung für die Betroffenen mit sich bringen und muss die therapeutische Beziehung nicht notwendigerweise negativ beeinflussen [5]. Es bleibt jedoch weiterhin schwierig, einen Machtkampf mit den Betroffenen zu vermeiden. Auch bei unfreiwillig Aufgenommenen sollte die Therapie gewissen Regeln und Strukturen folgen und Konfrontationen zwischen Team und Patientin vermieden werden. Das Team muss sich bewusst werden, dass Anorexia nervosa eine schwere Störung ist und wir nicht bei jeder Patientin langfristig erfolgreich sein werden. Die Akzeptanz dieser Tatsache, jedoch ohne eine resignative Einstellung zu entwickeln, wird den Umgang sowohl mit freiwillig und unfreiwillig aufgenommenen Patientinnen erleichtern.

Literatur

  • 1 Nielsen S, Møller-Madsen S, Isager T, Jørgensen J, Pagsberg K, Theander S. Standardized mortality in eating disorders - a quantitative summary of previously published and new evidence.  J Psychosom Res. 1998;  44 413-434
  • 2 Steinhausen H-C. The outcome of anorexia nervosa in the 20th Century.  Am J Psychiatry. 2002;  159 1284-1293
  • 3 Vitousek K, Watson S, Wilson G T. Enhancing motivation for change in treatment-resistant eating disorders.  Clin Psychol Rev. 1998;  18 391-420
  • 4 Brunner R, Parzer P, Resch F. Unfreiwillige Hospitalisierung von Patienten mit Anorexia nervosa: klinische Aspekte und empirische Befunde.  Fortschr Neurol Psychiat. 2004;  72 1-7
  • 5 Russell G F. Involuntary treatment in anorexia nervosa.  Psychiatr Clin North Am. 2001;  24 337-349

Prof. Dr. med. Martina de Zwaan

Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie ·Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Schwabachanlage 6

91054 Erlangen ·

Email: martina.dezwaan@psych.imed.uni-erlangen.de

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