Fortschr Neurol Psychiatr 2005; 73(7): 415-426
DOI: 10.1055/s-2004-830141
Fort- und Weiterbildung
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Dysthymie

DysthymiaM.  Schmauß1 , T.  Messer1
  • 1BKH Augsburg
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Publication Date:
13 July 2005 (online)

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Lernziel

In den neuen Diagnosesystemen ICD-10 und DSM-IV wurde bei der Diagnose depressiver Störungen die traditionelle Unterscheidung zwischen endogener und neurotischer Depression verlassen, da diese eine ätiopathogenetische Unterscheidbarkeit vorgab, die sich durch wissenschaftliche Studien nicht ausreichend belegen ließ. Depressive Störungen werden nunmehr nach primär klinischen Kriterien wie Schweregrad und Verlauf eingeteilt. Sowohl nach ICD-10- als auch nach DSM-IV-Kriterien handelt es sich bei der Dysthymie um eine chronische, leichte depressive Verstimmung über mindestens 2 Jahre, die nach Schweregrad und Dauer der einzelnen Episoden nicht die Kriterien einer leichten oder mittelgradigen rezidivierenden depressiven Störung erfüllt. Die Störung beginnt meist im frühen Erwachsenenalter und dauert mindestens mehrere Jahre, manchmal lebenslang. Die Dysthymie ist häufig, die Prävalenzraten variieren jedoch ausgesprochen stark. Die Komorbidität mit anderen psychiatrischen Erkrankungen ist hoch. Die Dysthymie wird zu selten diagnostiziert und vor allem behandelt.

„Dysthymie” stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Verstimmtsein” bzw. „schlechte Laune”. Der Begriff Dysthymie findet sich bereits im 19. Jahrhundert in der französischen, englischen und deutschen psychiatrischen Literatur als Synonym für Depression, in die deutschsprachige Psychiatrie wurde er von C.F. Flemming 1844 [17] eingeführt. „Dysthymie” wurde von ihm als Synonym für „Gemütsstörungen” benutzt und darunter verschiedene Affektstörungen subsumiert (Flemming 1844). Kahlbaum verstand als erster den Dysthymiebegriff ähnlich seiner heutigen Bedeutung: Er wies in seiner Einteilung der psychiatrischen Krankheiten auf den Ausgang als Ordnungskriterium hin und differenzierte deshalb zwischen „Dysthymie” und „Melancholie”[1]. Die Dysthymie verlaufe zwar chronisch, aber mit guter Prognose, während die Melancholie die Tendenz habe, „schließlich in den Blödsinn überzugehen”. In der deutschsprachigen Psychiatrie des 20. Jahrhunderts ist der Begriff Dysthymie ausgesprochen vieldeutig. Weitbrecht [2] prägte den Begriff der „endoreaktiven Dysthymie”, die zwischen endogener und reaktiver Depression zu finden ist. Dabei schilderte er die Symptomatik teilweise vergleichbar mit den modernen Dysthymiekonzepten: Lange Verläufe einer eher missmutig anmutenden Verstimmung, häufig mit Hypochondrie verbunden, ohne Manien oder primäre Schuldgefühle bei erschöpfbaren, reizbaren, eher asthenischen Menschen. Anders als beim modernen Dysthymieverständnis wurde von Weitbrecht aber eine - reaktive - Auslösung durch körperliche Schwäche oder seelische Belastung beschrieben. Brieger u. Marneros [3] weisen darauf hin, dass auch andere Autoren den Begriff „Dysthymie” benutzt hatten, ohne dass er jedoch größere Verbreitung gefunden hätte. Huber u. Mitarb. [4] kritisierten in ihrer Arbeit über „zyklothyme Residualsyndrome” die in den 60er-Jahren gängige triadische Depressionsklassifikation „endogen, neurotisch und reaktiv” und betonten, dass endogene Depressionen auch mit anhaltenden Veränderungen ausheilen können. In den folgenden Jahren wurden zudem in den USA von Winokur und Morrison [5] in großen Verlaufsstudien die zu dieser Zeit gängigen Klassifikationskonzepte infrage gestellt. Weissman u. Klerman [6] wiesen darüber hinaus verstärkt auf die Bedeutung der Chronifizierung von Depressionen hin. H. Akiskal u. Mitarb. [7] konnten schließlich in einer prospektiven Studie zeigen, dass „neurotisch depressive” Patienten innerhalb von 3 - 4 Jahren ein breites Spektrum psychiatrischer Diagnosen entwickelt hatten - 39 % davon sogar eine psychotische Depression oder bipolare Psychose. Sie zogen daraus den Schluss, dass die Diagnose „neurotische Depression” wegen ihrer prognostischen und diagnostischen Heterogenität nicht sinnvoll sei.

Der Begriff Dysthymie findet sich bereits im 19. Jahrhundert in der französischen, englischen und deutschen psychiatrischen Literatur als Synonym für Depression. Im DSM-III ersetzt er erstmals 1980 die Diagnose „neurotische Depression” - die Erkrankung „Dysthymie” ist in ihrer heutigen Form somit ein relativ neues Konstrukt. Mit der ICD-10 (1991) wurde die Diagnosekategorie „Dysthymie” auch im Bereich der WHO eingeführt.

So hatten auf der Basis dieser Ergebnisse bereits Spitzer u. Mitarb. [8] in den Research diagnostic criteria (RDC) die Diagnose „neurotische Depression” durch die Bezeichnung „chronische depressive Störung” ersetzt. Die Diagnose „chronisch depressive Störung” fand jedoch keinen Eingang in das DSM-III [9]. Nach langem Streit wurde stattdessen im DSM-III der Kompromissvorschlag „dysthyme Störung (oder neurotische Depression) DSM-III 300.40” zum ersten Mal in ein internationales Klassifikationssystem als Diagnosekategorie aufgenommen - die Erkrankung einer „Dysthymie” in ihrer heutigen Form ist somit ein relativ neues Konstrukt. DSM-III-R [10] und DSM-IV [11] behielten diese Diagnosekategorie bei - die Operationalisierung der Dysthymie unterscheidet sich in ihnen jedoch grundsätzlich von der des DSM-III, die sich als viel zu unspezifisch erwiesen hatte - nahezu jede Depression mit 2jähriger Dauer war nach DSM-III nämlich als dysthym klassifiziert worden. Mit der ICD-10 (WHO 1991) wurde die Diagnosekategorie Dysthymie schließlich auch im Bereich der WHO eingeführt.

Literatur

Prof. Dr. med. Max Schmauß

Bezirkskrankenhaus Augsburg

Dr.-Mack-Straße 1

86156 Augsburg

Email: m.schmauss@bkh-augsburg.de