Während hinsichtlich neurobiologischer Grundlagen und der medikamentösen Behandlung
isolierter psychiatrischer Störungsbilder auf relativ breites Wissen zurückgegriffen
werden kann, findet der Aspekt des gemeinsamen Auftretens verschiedener psychiatrischer
Erkrankungen (Komorbidität) erst in den letzten Jahren zunehmende Beachtung. Im klinischen
Alltag stellt die Pharmakotherapie komorbider Störungen ein häufiges praktisches Problem
dar. Im Folgenden soll eine praxisbezogene Übersicht zur medikamentösen Behandlung
relevanter komorbider Störungsbilder aus dem Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie,
vor dem Hintergrund neurobiologischer Grundlagen, verfügbarer Literatur und eigener
klinischer Erfahrung gegeben werden.
Epidemiologie
Epidemiologie
Erste systematische quantitative Erhebungen zur Komorbidität im Fachbereich der Kinder-
und Jugendpsychiatrie stammen aus der zweiten Hälfte der 80er-Jahre, seither steigt
die Zahl der Publikationen sprunghaft an [1]. Die Betonung des Komorbiditätsprinzip mit Einführung der ICD-10 bzw. DSM-IV spielt
möglicherweise eine Rolle. Zu beachten ist der zeitliche Verlauf des Auftretens (simultan
vs. sukzessiv), der oft nicht ausreichend differenziert wird.
Die Angaben zur Prävalenz komorbider Störungen unterliegen einer hohen Streubreite.
Für das gemeinsame Auftreten von ADHS mit affektiven Störungen wird eine Häufigkeit
von 15-75 % angegeben [18], eines Tourette-Syndroms mit ADHS 25-85 % [6], von Zwangsstörungen mit ADHS 6-33 % [5], von Zwangsstörungen und Tourette-Syndrom/ Ticstörungen 13-26 % [9]. Zumeist sind psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen in ihrer Ätiologie
und Klinik heterogen. Aus diesem Grund werden höhere Komorbiditätsraten als im Bereich
der Erwachsenenpsychiatrie gefunden [1]
[17]. Multimodale Behandlungskonzepte werden daher bei fast allen psychischen Störungen
des Kindes- und Jugendalters empfohlen.
Klinik
Klinik
Zur Klinik der Zwangs- und Ticstörungen dürfen wir auf die Beiträge von Mehler-Wex
und Kratz in diesem Heft verweisen. Hyperkinetische Störungen (ADHS) sind durch ein
durchgehendes Muster von Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität gekennzeichnet.
Die Symptomatik muss situationsübergreifend auftreten und im Vorschulalter beginnen.
Eine Persistenz der Störung im Erwachsenenalter wird heute in einem bis zwei Drittel
der Fälle angenommen [12].
Affektive bzw. emotionale Störungen bei Kindern und Jugendlichen umfassen i.W. depressive
Störungen, Angststörungen, Phobien und im weiteren Sinne auch Zwangsstörungen. Depressionen
werden in ihrer Häufigkeit oft unterschätzt. Nach einer neueren Metaanalyse der Literatur
werden Prävalenzraten bei Kindern zwischen 0,4 % und 2,5 %, für Jugendliche zwischen
0,4 % und 8,3 % angegeben. Für die Dysthymie liegen die entsprechenden Zahlen bei
0,6 % bis 1,7 % für Kinder und 1,5 % bis 8 % für Jugendliche [3]
[4]. Vor der Pubertät erkranken Jungen häufiger, nach der Pubertät überwiegt das weibliche
Geschlecht [11]. Zu unterscheiden ist eine primäre affektive Störung von sekundären Belastungs-
und Anpassungsstörungen. Komorbidität, insbesondere mit Angststörungen, ist häufig.
Typische Merkmale emotionaler Störungen sind Ängstlichkeit, Verstimmtheit, sozialer
Rückzug, Empfindsamkeit oder Beziehungsstörungen. Im Gegensatz zum Jugendalter, in
dem sich die Symptomatik der des Erwachsenenalters angleicht, sind die klinischen
Erscheinungsmuster bei Kindern oft weniger spezifisch. Eine genaue fachärztliche Diagnostik
ist daher wesentlich.
Im Unterschied zu Europa werden im US-amerikanischen Raum häufiger manische und bipolare
affektive Störungen im Kindesalter diagnostiziert und spezifisch pharmakologisch behandelt.
Möglicherweise findet das Krankheitsbild bipolarer affektiver Störungen im Kindesalter
im europäischen Raum noch zu wenig Beachtung.
Neurobiologie einiger dopaminerger bzw. serotonerger Störungen
Neurobiologie einiger dopaminerger bzw. serotonerger Störungen
Zwänge/Tics
Eine genetische Vulnerabilität wird bei beiden Störungen angenommen. Bei der Zwangserkrankung
umfassen die neurobiologischen Störungen, im Unterschied zur Ticstörung, auch Frontalhirn-sensitve
exekutive Funktionen. Im Wesentlichen wird eine Dysfunktion des orbitofrontal-subkortikalen
Schaltkreises i.S. einer neuronalen Überaktivität im kognitiv-emotionalen Regulationssystem
angenommen. Resultierend aus einer verringerten Hemmung des Thalamus durch den Globus
pallidus wird eine verstärkte thalamokortikale Erregung postuliert. Neben weiteren
Neurotransmittern wird einem serotonergen/dopaminergen Ungleichgewicht mit verminderter
Serotoninaktivität eine besondere Rolle zugeschrieben, wofür insbesondere die Symptomsuppression
durch serotonerg wirksame Antidepressiva spricht [13]. Eine besondere Rolle des Dopamins bei einer Subgruppe mit Tics oder schizotypischen
Persönlichkeitsmerkmalen wird diskutiert.
Bei den Ticstörungen wird eine Dysfunktion im sensomotorischen System i.S. einer mangelhaften
motorischen Hemmung in den Basalganglien vermutet. Möglicherweise liegt dabei eine
Überempfindlichkeit von Dopaminrezeptoren oder ein Überschuss Dopamin vor, wofür auch
das Ansprechen der Symptomatik auf Neuroleptika spricht [13].
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS)
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS)
Der ADHS liegt zumeist eine genetische Komponente zugrunde. Neben diesen vorwiegend
konstitutionellen Formen gibt es eine wesentlich geringere Anzahl symptomatischer
hyperkinetischer Störungen als Folge von Frontalhirnaffektionen oder anderer hirnorganischer
Beeinträchtigungen. Letztere sprechen häufig schlechter auf Psychopharmaka an. Die
ADHS basiert auf einer Störung sogenannter exekutiver Funktionen als Folge einer Dysfunktion
neuronaler Netzwerke fronto-kortiko-striataler Regelsysteme. In neurophysiologischen
Studien konnte ein zentralnervöses Underarousal und Inhibitonsdefizit v.a. im kognitiven
und motorischen Regelsystem aufgezeigt werden. Neuroanatomisch finden sich umschriebene
Volumenverminderungen, was für eine Abweichung in der Neurogenese spricht [14]. Auf der Neurotransmitterebene kann eine verminderte Aktivität dopaminerger und
noradrenerger frontostriataler Regelkreise angenommen werden. Diskutiert werden eine
Dysfunktion striataler postsynaptischer D4-Rezeptoren und präsynaptischer Dopamintransporter (DAT). SPECT-Untersuchungen konnten
eine um etwa 70 % erhöhte Dichte präsynaptischer striataler DAT bei erwachsenen ADHS-Patienten
nachweisen. Noradrenalin spielt eine zentrale Rolle in der Modulation visueller, auditiver,
somatosensorischer und motorischer Funktionen. Kognitive noradrenerge Funktionen wie
Aufmerksamkeit und Vigilanz werden wahrscheinlich über a2A-adrenerge Rezeptoren im Kortex entfaltet [2]
[12]
[14]. Für eine Beteiligung des noradrenergen Systems an der Pathophysiologie der ADHS
sprechen die positiven Effekte noradrenerg wirksamer Antidepressiva auf die Symptomatik,
wie auch die aktuelle Einführung der (in Deutschland noch nicht zugelassenen) noradrenergen
Substanz Atomoxetin in die ADHS-Behandlung zeigt. Stimulanzien entfalten ihre Wirksamkeit
wahrscheinlich über eine Erhöhung der Verfügbarkeit biogener Amine im synaptischen
Spalt. Diskutiert wird eine DAT-Blockade für Methylphenidat. Amphetamin wirkt wahrscheinlich
weniger spezifisch und entfaltet zusätzlich direkt dopaminerge und noradrenerge Effekte.
Affektive Störungen
Affektive Störungen
Trotz intensiver Forschung gibt es bislang kein überzeugendes biologisches Erklärungsmodell
der Depression. Eine multifaktorielle genetisch bedingte Vulnerabilität ist gesichert.
Hervorzuheben ist die pathogenetische Heterogenität. Auf Dysfunktionen des serotonergen
und noradrenergen Systems i.S. einer Minderaktivität beruht die Wirksamkeit von Antidepressiva.
In beiden Fällen handelt es sich um neuromodulatorische Systeme umschriebener Kerngruppen
mit vergleichsweise kleiner Zahl von Neuronen, die jedoch einen hohen Verzweigungsgrad
aufweisen. Demnach ist von einem eher unspezifischen Wirkmechanismus herkömmlicher
Antidepressiva auszugehen. Einige Untersuchungen sprechen für eine Beteiligung des
mesokortiko-limbischen dopaminergen Systems, insbesondere hinsichtlich Teilaspekten
wie Anhedonie und psychomotorischer Hemmung.
Auch eine Rolle des cholinergen Systems wird diskutiert. Spezielles Interesse gilt
neuroendokrinologischen Aspekten und intrazellulären Signaltransduktionskaskaden.
Die antidepressive Wirksamkeit von CRH- und Substanz-P-Rezeptorantagonisten wird in
klinischen Studien getestet. Inwieweit bei Kindern und Jugendlichen spezielle Pathomechanismen
zugrunde liegen, ist unklar. Die bei Erwachsenen gut belegte Wirksamkeit von Antidepressiva
ist in dieser Altersgruppe nur z.T. wissenschaftlich belegt [11].
Pharmakotherapie
Pharmakotherapie
Die Auswirkungen von Psychopharmaka auf Reifungsprozesse des kindlichen Gehirns sind
noch unzureichend erforscht. Zudem sind pharmakokinetische Kenngrößen häufig nicht
aus dem Erwachsenenalter übertragbar, so dass in dieser Altersgruppe mit unvorhergesehenen
Neben- und Wechselwirkungen gerechnet werden muss. Im Vorschulalter ist daher große
Zurückhaltung, generell bei Kindern und Jugendlichen eine sorgfältige Indikationsstellung
geboten. Dennoch spielt die medikamentöse Behandlung psychischer Störungen im Kindes-
und Jugendalter eine wichtige Rolle. Zahlreiche Substanzen besitzen in Deutschland
keine Zulassung für Minderjährige und/oder spezielle Indikationsbereiche („Off-Label-Use”).
Sie können aber nach der gegenwärtigen deutschen Rechtslage im Rahmen eines sog. individuellen
Heilversuchs, unter Berücksichtigung besonderer Vorgaben, mit Einverständnis der Sorgeberechtigten
vom Arzt verordnet werden. In letzter Zeit gab es Warnhinweise zur möglichen Provokation
suizidaler Impulse bei der Anwendung von SSRI und Venlafaxin im Kindes- und Jugendalter.
Der Einsatz dieser Substanzen bedarf daher einer gründlicheren Abwägung als bisher
und einer ausdrücklichen Information der Betroffenen und ihrer Eltern. Unter diesen
Bedingungen ist eine Verschreibung bei entsprechender Indikation aktuell auch weiterhin
gerechtfertigt [7]. Für die Behandlung komorbider Störungen gelten einige grundsätzliche Überlegungen.
Sinnvollerweise sollten bekannte neurobiologische Mechanismen ausgenutzt werden um
die Symptomatik, wenn möglich beider Störungen, zu verbessern. Zumindest sollte die
komorbide Erkrankung aber nicht verschlechtert werden. Wichtig ist, zu entscheiden,
welche Störung den Patienten wie stark beeinträchtigt und vorzugsweise zu behandeln
ist. Oft genügt es, diese Störung dann isoliert zu therapieren. Falls ausreichend,
ist eine Monotherapie zu bevorzugen. Zum Teil sind aber auch Kombinationsbehandlungen,
unter Berücksichtigung möglicher Interaktionen, angezeigt.
ADHS/Tic-Störung
ADHS/Tic-Störung
Mittel der Wahl zur Behandlung einer isolierten ADHS sind Stimulanzien, deren Wirksamkeit
und Verträglichkeit in kontrollierten Studien gut belegt sind. Bei gleichzeitigem
Vorliegen beider Störungsbilder ist wegen einer möglichen Exazerbation der Ticsymptomatik
Zurückhaltung bei deren Anwendung geboten. In der Literatur werden aber vereinzelt
auch günstige Effekte mit Stimulanzien auf die Ticsymptomatik beschrieben [6]
[8]. Prädiktive Kriterien, wann mit einer Exazerbation der Ticstörung zu rechnen ist,
gibt es jedoch nicht. Aus unserer Sicht ist bei einer komorbiden, nicht zu ausgeprägten
Ticstörung, nach Aufklärung der Sorgeberechtigten und soweit möglich des Kindes, ein
Behandlungsversuch mit Stimulanzien gerechtfertigt. Gegebenenfalls kann eine Kombinationsbehandlung
mit einem Neuroleptikum, z.B. Tiaprid, erfolgen. Alternativ zu Stimulanzien können
Antidepressiva mit noradrenerger Wirkkomponente wie Atomoxetin, Reboxetin oder Moclobemid
hilfreich sein. Eine Exazerbation der Ticstörung ist dabei weniger wahrscheinlich.
Steht die Ticstörung im Vordergrund, sollte deren Behandlung nach den üblichen Richtlinien
erfolgen. Mittel der ersten Wahl ist Tiaprid, welches sich als wirksam und gut verträglich
erwiesen hat, was jedoch nicht durch methodisch adäquate Studien belegt ist. Mittel
der zweiten Wahl sind Risperidon oder eventuell Olanzapin, die wegen geringerer Nebenwirkungsraten
gegenüber Pimozid und Haloperidol den Vorzug erhalten sollten. Der Effekt von Risperidon
ist durch Studien, u.a. einer Doppelblindstudie gegen Pimozid, gut belegt [15]. Clonidin stellt als zentraler a2-Rezeptoragonist ein Reservemedikament dar. Bei gleichzeitig vorliegenden Störungen
des Sozialverhaltens und der Impulskontrolle kann aggressives Verhalten durch Neuroleptika
günstig beeinflusst werden. Dies ist am besten für Risperidon belegt. Obwohl keine
evidenzbasierten Daten vorliegen, werden niederpotente Neuroleptika wie Pipamperon
oder Melperon in der klinischen Praxis häufig zur Behandlung von Aggressionen, Impulskontrollstörungen
und Unruhe bei hyperaktiven Kindern und Jugendlichen eingesetzt. Aufmerksamkeitsdefizite
können durch Neuroleptika unter Umständen verstärkt werden. In der amerikanischen
Literatur werden bei Komorbidität ADHS/Tics Clonidin, Guanfacin, Imipramin und Desipramin
empfohlen [6]. Zentrale a2-Agonisten spielen hierzulande in der Kinder- und Jugendpsychiatrie mangels überzeugender
Daten bei hoher Nebenwirkungsrate keine wesentliche Rolle [10]. Clonidin wurde von uns nur selten eingesetzt. Imipramin ist bei Kindern gut untersucht
und verträglich, die Wirksamkeit bei Ticstörungen aber nicht eindeutig belegt. Die
Anwendung von Desipramin erscheint uns wegen vereinzelt berichteter Todesfälle aufgrund
kardialer Komplikationen im Kindes- und Jugendalter obsolet.
Tic-Störung/Zwangsstörung
Tic-Störung/Zwangsstörung
Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) oder Clomipramin sind Mittel der
Wahl bei der Behandlung der Zwangsstörung. Diese Empfehlung gilt trotz vereinzelter
Hinweise, dass Zwangsstörungen bei komorbiden Ticstörungen schlechter auf SSRI ansprechen
[9]
[17]. Einzelfallberichte einer Exazerbation der Ticstörung unter bestimmten SSRI (z.B.
Paroxetin) ändern ebenfalls nicht die bisherige Empfehlung [9]
[16]. In der amerikanischen Literatur wird dem Clomipramin wegen seiner noradrenergen
Wirkkomponente zumindest ein theoretischer Vorteil i.S. modulierender Effekte auf
das dopaminerge System bei Ticstörungen zugedacht [9]. Erfordert eine schwerere Ticstörung eine zusätzliche Behandlung, kann die Kombination
eines SSRI oder von Clomipramin mit einem Neuroleptikum angeraten werden. Zu Risperidon
gibt es kontrollierte Untersuchungen hinsichtlich der Augmentationsbehandlung der
Zwangsstörung, speziell bei komorbiden Tics und schizotyper Störung [20]. Aber auch andere Neuroleptika, z.B. Tiaprid, Olanzapin oder Pimozid kommen in Frage.
Wegen möglicher Interaktionen über Cytochrom-P-450-Monooxygenasen wird eine Kombination
mit Citalopram oder Sertralin empfohlen, die sich diesbezüglich weitgehend neutral
verhalten. In der amerikanischen Literatur werden auch Kombinationen serotonerger
Antidepressiva mit Clonidin oder Guanfacin empfohlen [9].
ADHS/Zwangsstörung
ADHS/Zwangsstörung
Zunächst sollte die vorrangige Störung isoliert behandelt werden. Den vorliegenden
Daten und eigenen Erfahrungen nach kann jeweils auf Substanzen der ersten Wahl zurückgegriffen
werden, d.h. Stimulanzien zur Behandlung einer Hyperkinetischen Störung und SSRI zur
Therapie der Zwangsstörung. Beide Substanzgruppen scheinen die jeweils komorbid vorliegende
Störung nicht zu verschlechtern. Allerdings sind auch keine positiven Effekte durch
SSRI auf eine ADHS oder durch Stimulanzien auf eine Zwangssymptomatik zu erwarten.
Ob Clomipramin durch den noradrenerg aktiven Metaboliten Desmethylclomipramin günstige
Eigenschaften hinsichtlich hyperkinetischer Symptome aufweist, ist bislang nicht belegt
[9]. Gleiches gilt für Venlafaxin als Antidepressivum mit dualem Wirkmechanismus (selektiver
Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer, SSNRI). Erfordern beide Störungsbilder
eine medikamentöse Behandlung, kann eine Kombination eines SSRI mit Stimulanzien erfolgen.
Bisherige Untersuchungen und eigene Erfahrungen sprechen für eine gute Verträglichkeit.
Bei zusätzlich behandlungsbedürftiger Ticstörung kann ein Neuroleptikum zugegeben
werden. Mögliche Interaktionen sind dann zu berücksichtigen.
ADHS/affektive Störungen
ADHS/affektive Störungen
Bei gleichzeitig vorliegender depressiver und hyperkinetischer Störung bietet sich
an, auf Antidepressiva mit noradrenergem Wirkmechanismus zurückzugreifen, die bislang
bei ADHS als Mittel der zweiten Wahl eingesetzt werden. Im Gegensatz zu Stimulanzien,
die unmittelbar nach Einnahme ihre Wirkung entfalten, zeigen Antidepressiva, analog
zu den affektiven Störungen, auch in ihrem Effekt auf die hyperkinetischen Kernsymptome
eine Wirklatenz von etwa ein bis drei Wochen. Neben Imipramin ist Moclobemid hinsichtlich
seiner Verträglichkeit bei Kindern- und Jugendlichen gut bewährt. Speziell zu Moclobemid,
das ohne diätetische Einschränkung anwendbar ist, gibt es vielversprechende, allerdings
nicht plazebokontrollierte Untersuchungen, zu seiner Wirksamkeit bei ADHS [19]. Von uns wird es mit überwiegend gutem Erfolg bei Kindern eingesetzt. Vor allem
bei jüngeren Kindern (Grundschulalter) bietet sich die Substanz wegen ihrer guten
Verträglichkeit an. Neben positiven Effekten auf die Stimmung ist meist eine Besserung
der ADHS-Symptomatik festzustellen. Bei Jugendlichen mit ADHS und depressiver Störung
bevorzugen wir Reboxetin oder Venlafaxin. Unter Venlafaxin konnten wir nur bei etwa
der Hälfte der Patienten Besserungen der hyperkinetischen Symptomatik beobachten,
möglicherweise, weil der noradrenerge Effekt erst bei höheren Dosierungen zum Tragen
kommt (Warnhinweise des Herstellers von Venlafaxin zur möglichen Provokation suizidaler
Impulse bei Kindern und Jugendlichen sind zu beachten). Mit Reboxetin konnten wir,
bei bislang begrenzter Erfahrung, bei Jugendlichen recht gute Effekte auf die hyperkinetische
Symptomatik erzielen. Zu möglichen Nebenwirkungen bei Kindern gibt es wenig Daten,
wobei der verwandte Wirkstoff Atomoxetin offenbar gut verträglich ist. Erste Untersuchungen
zu Buspiron bei Kindern mit ADHS sprechen für günstige Eigenschaften bei hyperkinetischen
Kindern mit emotionalen Störungen [10]. Erweist sich eine Monotherapie mit einer der diskutierten Substanzen als nicht
ausreichend, können Stimulanzien oder andere Antidepressiva eingesetzt werden, falls
notwendig auch in Kombination. Psychische Nebenwirkungen unter Stimulanzien sind möglich.
Vereinzelt werden, zumeist dosisabhängig, depressive Reaktionen und/oder Apathie beobachtet.
Zur Pharmakotherapie von Angststörungen im Kindes- und Jugendalter gibt es wenig gesicherte
Daten. Eine plazebokontrollierte Studie bei einem gemischten Kollektiv (generalisierte
Angststörung, soziale Phobie, Trennungsangst) fand eine signifikante Wirksamkeit von
Fluvoxamin, zur generalisierten Angststörung gibt es nur eine kleine Studie, in der
Sertralin signifikant gegenüber Plazebo überlegen war, zur Panikstörung gibt es in
dieser Altersgruppe nur offene Studien [15]. Bipolare oder manische Syndrome werden analog zu den Richtlinien im Erwachsenenbereich
behandelt. Bei emotionalen Störungen des Kindesalters stehen i.d.R. psychotherapeutische
Interventionen im Vordergrund.
Tab. 1 Neurobiologische Störungsmechanismen
Störungsbild
|
Neurotransmitterstörung
|
Lokalisation
|
ADHS |
DA ↓, NA ↓ |
frontostriataler Regelkreis |
Ticstörung |
DA ↑ |
Basalganglien |
Zwangsstörung |
5HT/DA-Ungleichgewicht |
orbitofrontal-subkortikaler Regelkreis |
5HT ↓, (Modulation) |
Depressive Störung |
5HT ↓,NA ↓ |
? |
ADHS=Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, DA=Dopamin, NA=Noradrenalin,
5HT=Serotonin |
Tab. 2 Übersicht Pharmakotherapie
Komorbide Störungsbilder
|
Pharmakotherapie
|
ADHS / Tic-Störung |
ADHS: Antidepressiva mit noradrenerger Wirk-komponente Stimulanzien unter Zurückhaltung
(mögliche Exazerbation der Tic-Störung), ggf. Kombination mit Neuroleptika Tic-Störung:
Neuroleptika |
Tic-Störung / Zwangsstörung |
jeweils isoliert: Neuroleptika bzw. SSRI, Clomipramin, ggf. Kombination |
ADHS / Zwangsstörung |
jeweils isoliert: Stimulanzien bzw. SSRI, Clomipramin, ggf. Kombination |
ADHS / Depressive Störung |
Antidepressiva mit noradrenerger Wirkkomponente |