Der Klinikarzt 2004; 33(5): 149-152
DOI: 10.1055/s-2004-828639
Übersicht

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Score-System als Entscheidungshilfe - Operatives oder konservatives Behandlungskonzept bei spinalen Metastasen

Score-System for Easier Decisions - Operative or Conservative Treatment of Spinal MetastasesH.-E. Clar1
  • 1Neurochirurgische Klinik, Klinikum Ingolstadt (Chefarzt: Prof. Dr. H.-E. Clar)
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Anschrift des Verfassers

Prof. Dr. H.-E. Clar

Neurochirurgische Klinik, Klinikum Ingolstadt

Postfach 21 06 62

85021 Ingolstadt

Publication History

Publication Date:
09 June 2004 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Spinale Metastasen bei Malignomen sind häufig, sie treten in 70 % der metastasierenden Tumoren auf, 30-40 % davon zeigen klinische Symptome und 10 % verursachen eine Kompression des Rückenmarks. Sie können heute gezielt diagnostiziert werden. Für eine genaue Planung des Therapiekonzepts ist ein Score-System für Wirbelmetastasen sinnvoll, das die prognostisch wichtigen Parameter des Patienten gewichtet. So kann reproduzierbar in eine operative und konservative Gruppe differenziert und die Risiken für den Patienten kontrolliert werden.

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Summary

Spinal metastases are frequent and occur in 70 % of all malignant tumours; 30-40 % produce symptoms and 10 % present compression of the spinal cord. They can be diagnosed exactly by magnetresonance imaging (MRI). With a score-system proposed it is possible to analyse the prognostic important parameters of any patient with spinal metastases. The score-system helps to decide the form of therapy - operative or conservative - to control the risk for the patient.

Im Rahmen von regelmäßigen Nachkontrollen und Staging von Patienten mit Malignomen werden immer häufiger Wirbelmetastasen festgestellt. Mamma-, Prostata- und gastrointestinale Tumoren können in 20-40 % zu spinalen Metastasen führen. Da diese in enger Beziehung zu den nervalen Strukturen im Spinalkanal und Neuroforamina stehen, ist eine genaue Analyse erforderlich.

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Klinik

Als Frühsymptom stehen häufig länger andauernde Schmerzen im Vordergrund. Diese können radikulär, lokal oder uncharakteristisch funikulär sein. Neurologische Ausfälle treten radikulär oder als Querschnittssymptomatik auf. Besteht Gangunsicherheit (z.B. spinale Ataxie), weist dies auf eine Kompression der Hinterstränge des Rückenmarks hin. Wenn alle drei Qualitäten Sensibilität, Motorik und vegetative Funktion betroffen sind, muss von einer hochgradigen Querschnittssymptomatik ausgegangen werden.

Bei spinalen raumfordernden Prozessen ist der zeitliche Verlauf von besonderer Bedeutung, da das Wachstum des Tumors oder eine potenziell mögliche Einblutung zu rasch progredienten Querschnittslähmungen führen kann. Bemerkbar macht sich eine beginnende Instabilität durch eine Fehlhaltung des Patienten oder eine Gibbusbildung.

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Diagnostik

Diagnostisch hat sich das Kernspintomogramm als sicherste Methode etabliert, denn diese nichtinvasive Methode birgt nicht die Gefahr einer neurologischen Verschlechterung durch die Untersuchung. Die Lage der Herde kann mit diesem Verfahren sowohl innerhalb als auch außerhalb des Spinalkanals nachgewiesen werden, möglich ist es auch, ihre Beziehung zu benachbarten Strukturen zu dokumentieren. Kompressionen in mehreren Höhen werden ebenfalls erkannt, myelopathische Herde und Infiltrationen neuraler Strukturen sind ebenfalls abzubilden.

Aus der sicheren Diagnostik ergibt sich dann ein differenziertes Spektrum für die Therapie, das von der Natur des Tumors, der Progredienz des Leidens und dem Zustand des Patienten abhängt. Um im Einzelfall entscheiden zu können, welches Konzept - operativ oder konservativ - verfolgt werden soll, müssen vorher folgende, prognostisch bedeutsame Parameter abgeklärt und analysiert werden:

  • Gesamtzustand des Patienten (Karnofsky)

  • Progression des Tumorleidens

  • Risikofaktoren (ASA)

  • spinale Raumforderung

  • neurologische Symptome.

Einzeln erhoben und gewichtet ergibt sich aus diesen Parametern ein Score nach dem die gesamte individuelle Situation des Patienten beurteilt werden kann. Jeder Komponente sind Score-Punkte (0-1-2), je nach der Schwere der Störung, zugeordnet.

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Gesamtzustand des Patienten

Der Zustandes des Patienten [Tab. 1] wird allgemein nach dem Karnofsky-Index bewertet [3], da sich dieser wesentlich auf die Gesamtprognose des Tumorleidens auswirkt. Hierbei ist zu beachten, dass neurologische Ausfallserscheinungen (z.B. inkompletter Querschnitt) die Beurteilung erheblich beeinträchtigen können. Daher ist es hilfreich, den klinischen Verlauf in die Überlegungen einzubeziehen.

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Progression des Tumorleidens

Das Staging des Tumorleidens ist für die Einschätzung der Gesamtprognose von Bedeutung. Je weiter fortgeschritten dieses ist, desto ungeeigneter ist das invasive Therapiekonzept. Bei unbekanntem Primärtumor kann dagegen ein operatives Konzept verfolgt werden.

Zu berücksichtigen sind insbesondere Metastasen in funktionswichtigen Organen (Leber, Lunge, Gehirn). Andererseits können große Lokaltumoren, die in die Wirbelsäule eingebrochen sind, ohne weitere Metastasierung einen wichtigen Einfluss auf die Therapie haben. Ungünstig auf das Operationsergebnis wirken sich stark vaskularisierte Metastasen von Prostata- oder Schilddrüsenkarzinomen aus.

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Risikofaktoren

Zusätzliche Risikofaktoren (Diabetes, Herzinsuffizienz, Gerinnungsstörungen) schränken die operative Möglichkeit ein. Sie wirken sich auf das Narkoserisiko aus, das nach dem Schema der „American Society of Anaestesiologists” (ASA) eingeteilt werden kann [Tab. 2]. Hieraus lässt sich die perioperative Morbidität und Letalität ableiten. Besondere Beachtung finden hierbei Tumorkachexie oder Anämie [4].

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Spinale Raumforderung

Die Einengung des Spinalkanals spielt eine besondere Rolle für die Entscheidung zur Operation. So ist die operative Entlastung umso eher anzustreben, je weiter der Wirbelkanal eingeengt und das Myelon daher komprimiert ist. Kann aus besonderen Gründen (Herzschrittmacher) kein Kernspintomogramm durchgeführt werden, ist eine Myelografie und ein Myelo-Computertomogramm zur Klärung der Einengung des Spinalkanals sinnvoll.

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Neurologische Symptome

Je geringer die neurologische Symptomatik ausgeprägt ist, desto eher wird man sich zu aktiven Maßnahmen entschließen - umgekehrt kann keine Operation einen kompletten Querschnitt noch verbessern. Besonders wichtig ist der Tumorschmerz: Denn es ist abzuwägen, ob eine lokale Entlastung das Schmerzgeschehen günstig beeinflussen kann oder eine andere Therapie (Schmerztherapie) sinnvoller ist.

Wegen der oft raschen Progredienz der neurologischen Symptomatik durch die zunehmende Kompression des Myelons ist eine gezielte Diagnostik zur Einschätzung des Gesamtzustandes (Kurzstaging) mit Röntgen/CT des Thorax, Ultraschall des Abdomens und Laboruntersuchungen (Gerinnung/Nierenfunktion) notwendig. Diese Parameter können auch notfallmäßig erhoben werden, sodass eine Score-Einteilung möglich ist.

Eine absolute Kontraindikation für eine operative Entlastung des Wirbelkanals ist der komplette motorische und sensible Querschnitt. Denn in dieser Situation ist - unabhängig von der Dauer der Paralyse - mit einer Erholung der Funktion nicht mehr zu rechnen. Daher kommt hier unabhängig vom Gesamtzustand (Score) nur noch eine konservative Therapie infrage. Auch eine intradurale Schmerztherapie ist wegen der gestörten Liquorzirkulation nicht effektiv.

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Score-System

Aus diesen Fakten, die für den einzelnen Patienten analysiert und gewichtet werden, kann analog zum Score-System von Tokuhashi [6] ein vereinfachtes System entwickelt werden. Je mehr Punkte der Patient erreicht, desto eher wird man ein operatives (kuratives) Konzept anstreben, bei niedrigen Werten dagegen wird man konservativ palliativ therapieren. In der Grenzzone ist die Entscheidung im Einzelfall unter Einbeziehung des Patienten sinnvoll [1].

Wenn neurologische Störungen als Erstsymptome eines unbekannten Primärtumors den Patienten zum Arzt führen, ist zunächst eine Rasterdiagnostik (Röntgen-Thorax, Abdomensonogramm, Knochenszintigramm, Labor) erforderlich. So können die häufigsten metastasierenden Tumoren nachgewiesen werden. Eine rasch fortschreitende neurologische Symptomatik macht eine schnelle Entscheidung notwendig.

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Therapie

Das Score-System ist eine Hilfe zur Differenzierung der Gesamtsituation eines Patienten mit einem metastasierenden Malignom. Je höher der errechnete Punktewert, desto besser ist der Gesamtzustand des Patienten und seine Prognose des Tumorleidens.

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Operative Therapie

Eine operative Therapie bei metastasierenden Tumoren der Wirbelsäule führt in der Regel nicht zu einer Lebensverlängerung [2]. Dennoch kann eine Operation in verschiedenen Situationen indiziert sein:

  • nicht ausreichende Schmerzkontrolle

  • Verbesserung neurologischer Störungen (Blasen- und Mastdarmkontrolle, Gehfähigkeit)

  • Stabilität der Wirbelsäule.

Die Entscheidung wird zwischen Operation und Bestrahlung oder Bestrahlung allein gefällt werden müssen. Ist der Spinalkanal eingeengt, macht die Operation bereits innerhalb kurzer Zeit (Stunden) eine Entlastung der neuralen Strukturen möglich. Der Effekt einer Bestrahlung (Radiation) ist dagegen erst nach Tagen oder Wochen zu erwarten.

Für die Schmerzkontrolle von Tumorschmerzen ist eine Entlastungsoperation mit Verkleinerung der Tumormasse sehr wirksam. Weniger effektiv wirkt sich eine Freilegung auf radikuläre Schmerzen aus, wenn Nervenwurzeln oder Plexusfasern von Tumorgewebe eingemauert sind. Eine intradurale Schmerztherapie ist nur effektiv, wenn der Wirbelkanal frei und die Liquorzirkulation nicht gestört ist. Bei hohem Score-Wert und längerer Lebenserwartung ist zur Schmerzkontrolle die Implantation eines intraduralen Katheter mit einer Morphinpumpe zu erwägen. Patienten mit niedrigem Score profitieren wegen des geringen Risiko mehr von einem Port mit externer Pumpe.

Die operative Freilegung des Wirbelkanals und der Nervenlöcher kann häufig eine Verbesserung neurologischer Störungen bedingen. Die Ergebnisse sind umso besser, je geringer die Ausfälle und je kürzer der Zeitraum der Schädigung ist. Jedoch ist eine Erholung eines kompletten Querschnittsyndroms (Paralyse) auch nach sofortiger Freilegung nicht zu erwarten. Daher ist eine Entlastungsoperation kontraindiziert.

Durch Tumorinfiltration und Osteolyse kommt es bei Wirbelmetastasen oft zur Instabilität der befallenen Segmente. Dislokation und eine Einengung des Wirbelkanals mit Kompression neurogener Strukturen sind die Folge. Da Wirbelrekonstruktionen, Wirbelersatz oder Stabilisationsoperationen für den Patienten mit einem erhöhten perioperativen Risiko verbunden sein können, werden sich diese Maßnahmen vorwiegend für Patienten mit einem hohen Score-Wert eignen. Patienten mit niedrigerem Wert sollten zurückhaltender operiert werden.

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Konservative Therapie

Im Vordergrund der Behandlung steht heute die Strahlentherapie (Feldbestrahlung) lokalisierter Wirbelmetastasen [5]. Ob die Patienten auf diese Therapieform ansprechen, hängt jedoch von der Natur des Primärtumors ab. Da eine lokale Bestrahlung den Patienten weniger stark belastet als eine Operation, ist stets zu prüfen, ob eine lokale Strahlentherapie als Behandlungsoption infrage kommt. In einigen Fällen kann sich unter der Bestrahlung der neurologische Befund jedoch verschlechtern. In diesem Fall ist umgehend die Indikation für eine Operation zu prüfen.

Zur Kontrolle der Schmerzen ist bei metastasierenden Wirbelprozessen in erster Linie eine ausreichende Dosierung der Schmerztherapie (Kombination von nichtsteroidalen Antirheumatika mit Morphinabkömmlingen) erforderlich. Zur Kontrolle eines perifokalen Ödems kann eine zusätzlich Gabe von Kortikoiden eingesetzt werden. In einigen Fällen ist eine Radiatio als „Schmerzbestrahlung” zu erwägen. Eine Chemotherapie ist bei der Behandlung nur einzusetzen, wenn der Primärherd sensibel ist (z. B. Lymphom).

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Fazit

Die Therapie spinaler Metastasen maligner Tumoren ist sehr komplex. Es ist daher für jeden einzelnen Patienten ein individuelles Konzept zu erstellen. Hierzu ist ein Score-System hilfreich, das erlaubt, die Gesamtprognose des Patienten abzuschätzen. Im Vordergrund sollte die Frage stehen: „Von welcher Therapie profitiert der Patient am meisten” [1].

Tab. 1 Karnofsky-Schema zur Beurteilung der Lebensqualität

100 %

normal, keine Beschwerden, keine Krankheitszeichen sichtbar

90 %

normale körperliche Aktivitäten, geringfügige Symptome

80 %

normale Aktivitäten unter Anstrengung, einige Krankheitszeichen oder Symptome

70 %

versorgt sich selbst, unfähig zu normaler Aktivität oder Arbeit

60 %

versorgt sich weitgehend selbst, gelegentliche Hilfe notwendig

50 %

benötigt ständige Hilfe und häufig ärztliche Betreuung

40 %

spezielle Hilfe erforderlich

30 %

stark behindert, bettlägerig, Krankenhausaufnahme indiziert

20 %

Krankenhausaufnahme notwendig, aktive stützende Therapie erforderlich

10 %

moribund

Tab. 2 ASA-Risikogruppen für Narkose

1

normaler, sonst gesunder Patient

2

leichte Allgemeinerkrankung ohne Leistungseinschränkung

3

schwere Allgemeinerkrankung mit Leistungseinschränkung

4

schwere Allgemeinerkrankung, die mit oder ohne Operation das Leben des Patienten bedroht

5

moribund, Tod innerhalb von 24 Stunden mit oder ohne Operation zu erwarten

Tab. 3 Score-System für Wirbelmetastasen

Gesamtzustand (Karnoswsky)

Punkte

schlecht (10-40 %)

0

mäßig (50-70 %)

1

gut (80-100 %)

2

Progress des Tumorleidens

Punkte

multiple Organmetastasen, exazerbierter Primärtumor

0

isolierte Metastasierung, kontrollierter Primärtumor

1

keine Herde, Vollremission

2

Risikofaktoren

Punkte

schwere Allgemeinerkrankung (ASA ≥ 4)

0

leichte Allgemeinerkrankung (ASA 2-3)

1

keine Allgemeinerkrankung

2

spinale Raumforderung

Punkte

keine

0

hochgradige Einengung des Spinalkanals

1

vollständige Verlegung des Spinalkanals

2

neurologische Symptome

Punkte

kompletter Querschnitt

0

inkompletter Querschnitt

1

keine / Schmerzsyndrom

2

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Literatur

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