psychoneuro 2004; 30(3): 164-168
DOI: 10.1055/s-2004-823785
Serie Sexuelle Störungen

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Eine Herausforderung für die behandelnden Ärzte - Sexualstörungen in der Behandlung depressiver Erkrankungen

Simon A. Cohen1 , P. Scholz1
  • 1Rheinische Kliniken Essen, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Duisburg-Essen (Direktor: Prof. Dr. M. Gastpar)
Weitere Informationen
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Korrespondenzadresse

Dr. med. Simon Cohen

Oberarzt der Rheinischen Kliniken Essen

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Duisburg-Essen

Barkhovenallee 171

45239 Essen-Heidhausen

eMail: simon.cohen@uni-essen.de

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
20. April 2004 (online)

Inhaltsübersicht #

Zusammenfassung

Patienten mit depressiven Erkrankungen leiden häufig unter sexuellen Störungen. Diese Störungen gehören teilweise als Symptome zur depressiven Erkrankung selbst (Libidominderung, Antriebslosigkeit, Interesse- und Freudlosigkeit), teilweise werden aber gerade durch eine suffiziente antidepressive Behandlung sexuelle Funktionsstörungen hervorgerufen. Die Berücksichtigung dieser Nebenwirkungen ist für die Compliance und Zufriedenheit der Patienten von entscheidender Bedeutung. Ursachen und Interventionsmöglichkeiten sexueller Funktionsstörungen im Verlauf der Behandlung depressiver Erkrankungen werden erörtert.

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Summary

Sexual dysfunctions are common features in the course of depressive disorders. These disturbances may be symptoms of the depressive mood disorder itself (mainly loss of libido, list and interest). An effective anti-depressive treatment may generate sexual dysfunctions likewise. Observance of these side effects is of crucial importance for patients compliance and satisfaction. Possible causes for sexual dysfunctions and therapeutic options in the treatment of the depressive disorder are discussed.

In den Frühzeiten der Psychiatrie und insbesondere der Psychoanalyse wäre es unvorstellbar gewesen, dass der Bereich der Sexualität und insbesondere sexuelle Störungen in Zusammenhang mit psychiatrischen Erkrankungen aus dem Augenmerk der Psychiatrie geraten könnten. Mit wachsender Kenntnis über biologische und genetische Aspekte psychiatrischer Erkrankungen und entsprechend veränderter Erklärungsmodelle für die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Beschwerden nahmen das Interesse und die Kenntnis normaler sexueller Abläufe und gestörter sexueller Funktionen in der Psychiatrie ab. Klinisch ließ sich nur schwer differenzieren, inwiefern die Beschwerden ein therapieresistenter Teil der psychiatrischen Erkrankung waren. Teilweise entwickelte sich in der Psychiatrie eine defätistische Haltung mit der Tendenz, sexuelle Funktionsstörungen den Urologen und Gynäkologen zu überlassen. Seit sich nun aber zunehmend unter effektiver antidepressiver Medikation sexuelle Funktionsstörungen deutlich gegenläufig zu den sonstigen depressiven Symptomen entwickelten, nahm das Interesse in der Psychiatrie an sexuellen Abläufen und Funktionsstörungen auch in Deutschland erneut zu [1] [15].

Obwohl sexuelle Funktionsstörungen zu den wichtigsten Nebenwirkungen gehören, die schließlich zum Absetzen von Medikamenten führen [17], wird die Häufigkeit und die Relevanz sexueller Funktionsstörungen für die Betroffenen immer noch häufig unterschätzt. Für die Compliance und die Behandlungszufriedenheit der Patienten ist das Eingehen auf sexuelle Funktionsstörungen aber von großer Bedeutung, egal ob die Beschwerden durch die Erkrankung oder durch die Medikation hervorgerufen wurden. Die Berücksichtigung sexueller Funktionsstörungen in der Behandlung depressiver Erkrankungen wird in der klinischen Tätigkeit immer wieder durch eingefahrene Erwartungen oder „Mythen” beeinflusst:

  • ein solcher Mythos ist die Annahme, dass Patienten mit Depression (prinzipiell) nicht an ihrer Sexualität interessiert seien

  • ein weiterer ist, dass Patienten ein „wirksames Medikament” so lange einnehmen, wie es für die Behandlung der Depression sinnvoll ist - unabhängig von möglichen sexuellen Nebenwirkungen

  • ein dritter Mythos ist, dass Patienten ihrem behandelnden Arzt von sich aus sexuelle Probleme ausführlich berichten

  • und schließlich, dass sexuelle Nebenwirkungen bei einer Behandlung mit Antidepressiva unbeeinflussbar und unvermeidbar seien.

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Grundlagen sexueller Abläufe

In der DSM-IV werden vier Phasen des sexuellen Zyklus beschrieben: 1. Verlangen/Lust auf Sexualität, 2. Erregung, 3. Orgasmus, 4. Rückbildungsphase. Ein weiterer, subjektiv sehr bedeutsamer Aspekt ist die „Befriedigung”. Entsprechend können Störungen in den folgenden Bereichen auftreten: Beeinträchtigung der sexuellen Lust (Libidostörungen), Erregungsstörungen (bei Männern: Erektionsstörungen, bei Frauen: Störungen der Lubrikation), Orgasmusstörungen und schmerzassoziierte Störungen (Dyspareunie und Vaginismus). Die Befriedigung kann sowohl durch Probleme innerhalb einer bestimmten Phase des Sexualzyklus beeinträchtigt werden, als auch durch die verminderte Fähigkeit, im Rahmen der Depression Lust oder Freude zu erleben.

Zur Beschreibung der Abläufe des sexuellen Zyklus wird aktuell ein motivationales/psychophysiologisches Modell verwandt. Die Phase der Libido wird charakterisiert durch sexuelle Gedanken, Phantasien und Interesse an sexuellen Aktivitäten. Auf hormonaler Ebene wird die Libido über das Steroidhormon Testosteron beeinflusst, Dopamin triggert die sexuellen Bedürfnisse, während eine starke serotonerge Stimulation sexuelles Verlangen, Ejakulation und Orgasmusfähigkeit über Stimulation postsynaptischer 5-HT2-Rezeptoren vermindert [11].

In der Phase der sexuellen Erregung spielen neben der zentralen Stimulation periphere vasoaktive Peptide, cholinerg-adrenerge Interaktionen auf spinaler Ebene, eine adrenerge a1-Stimulation und das Vorhandensein von Nitrat-Oxid eine entscheidende Rolle. Insbesondere Medikamente mit einer starken anticholinergen und/oder a1-Rezeptor-antagonistischen Wirkung beeinträchtigen die sexuelle Erregungsfähigkeit.

Das Wissen über genaue physiologische Abläufe der Orgasmusphase ist noch rudimentär; eine Aktivierung des serotonergen 5-HT2-Rezeptors oder ein antagonistischer Effekt am a-Rezeptor rufen aber Orgasmusstörungen hervor.

Da ein befriedigendes Sexualleben neurochemisch ein adäquates hormonelles und Neurotransmittergleichgewicht voraussetzt, können antidepressive Medikamente auf verschiedenen Ebenen den physiologischen Sexualablauf direkt beeinflussen - am charakteristischsten über die Stimulation am Serotonin-2-Rezeptor, aber auch über anticholinerge, antihistaminerge, alpha-antagonistische Wirkmechanismen und indem sie über eine Verminderung des Gonadotropin-Releasing Hormons eine Senkung peripherer Hormonspiegel an Progesteron, Östrogen und Testosteron bewirken können [3].

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Sexuelle Funktions-störungen als Teil depressiver Erkrankungen

Bevor im Folgenden auf sexuelle Störungen als spezifischer Bestandteil depressiver Erkrankungen eingegangen wird, möchten wir kurz die Prävalenz sexueller Funktionsstörungen erörtern. Nach epidemiologischen Untersuchungen in den USA litten 1999 etwa 43 % der Frauen und 31 % der Männer unter sexuellen Funktionsstörungen unterschiedlichen Ausmaßes (repräsentative Untersuchung an 1749 Frauen und 1410 Männern [9]).

Sexuelle Störungen sind in hohem Grade mit depressiven Erkrankungen verbunden, der Verlust sexuellen Interesses gehört z.B. in der Hamilton-Depressionsskala zu einem Hauptsymptom depressiver Erkrankungen. Bei etwa 70 % aller depressiv Erkrankten finden sich Libidominderungen [2]. Die depressive Erkrankung wiederum kann sexuelle Störungen durch Gedankenkreisen, Interesseminderung, Freudlosigkeit, Beziehungsprobleme und sozialen Rückzug zusätzlich verstärken. Pathogenetisch ist es schwierig zu differenzieren, in welchem Ausmaß die Krankheit per se Libidominderungen und sexuelle Störungen verursacht, und in welchem Ausmaß krankheitsassoziierte Störungen diese Effekte bewirken.

Sexuelle Funktionsstörungen stellen immer erhebliche Stressoren dar, die die Lebensqualität beeinträchtigen, das Selbstwertgefühl mindern, Partnerschaftsprobleme hervorrufen können, emotionalen und sozialen Rückzug verstärken und ggf. die Compliance bezüglich der weiteren Behandlung einschränken können. In diesem Spannungsfeld ist es die Aufgabe des behandelnden Psychiaters, sexuelle Funktionsstörungen zu erfassen: sowohl die aktuellen Beschwerden, als auch Störungen, die sich vor der depressiven Erkrankung manifestierten. Im weiteren Verlauf ist es dann entscheidend zu differenzieren, inwiefern es sich um Symptome der depressiven Erkrankung oder um Nebenwirkungen der pharmakologischen Behandlung handelt - und daraus entsprechende Konsequenzen abzuleiten.

Bei einer systematischen Untersuchung an 134 Patienten mit einer depressiven Erkrankung - vor Beginn einer Pharmakotherapie - berichteten 40 % der Männer und 50 % der Frauen über relevante, aktuelle Libido- und Erregungsstörungen [6]. Diese Untersuchung kann als eine Referenzgröße herangezogen werden, um die Nebenwirkungsrate antidepressiver Medikamente bezüglich sexueller Störungen einordnen zu können. Vor Beginn einer antidepressiven Medikation waren in diesem Patientenkollektiv Orgasmusstörungen wesentlich seltener (15-20 %) als Libido- oder Erregungsstörungen.

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Sexualstörungen als Folge von Antidepressiva

Während die offiziellen Nebenwirkungsraten sexueller Funktionsstörungen bei Antidepressiva zwischen <1 % und 10 % schwanken, ist die tatsächliche Häufigkeit schwer einzuschätzen und wahrscheinlich wesentlich höher. Mit zunehmendem Bewusstsein über diese Zusammenhänge zwischen sexuellen Nebenwirkungen und pharmakologischen Interaktionen veränderten sich die Raten beschriebener sexueller Nebenwirkungen in Untersuchungen, beispielsweise bei Fluoxetin von 1,9 % bei der Zulassung bis auf 75 % in einer jüngeren Untersuchung [5].

Gerade viele depressive Patienten vermeiden es aber, von sich aus mit ihrem behandelnden Psychiater über sexuelle Störungen oder Nebenwirkungen zu sprechen. Viele Patienten empfinden dieses Thema als zu persönlich oder schambesetzt und haben Sorge wegen tradierter Klischees über psychiatrische Deutungen sexueller Beschwerden. Schließlich besteht oftmals Unkenntnis über die Zusammenhänge zwischen sexuellen Beschwerden und der depressiven Erkrankung bzw. der Medikation. Viele Patienten erwarten gerade in diesem Bereich nur wenig Hilfe oder Linderung von ihrem behandelnden Arzt [10].

Auch die behandelnden Ärzte sind oft wenig erfahren in der Exploration sexueller Probleme. Seitens vieler Ärzte besteht das Bedürfnis, sich selbst und den Patienten vermeintlich „peinliche Situationen” zu ersparen, aber auch Unsicherheit über mögliche Handlungsoptionen [3]. Durch diese Schwierigkeiten entstehen erhebliche Diskrepanzen in der Erfassung pharmakogener Funktionsstörungen. Während bei einer vergleichenden Untersuchung mit geeigneten Fragebögen etwa 59 % der Patienten mit einer antidepressiven Medikation unter sexuellen Beeinträchtigungen litten, hatten nur etwa 20 % der Betroffenen ihre sexuellen Funktionsstörungen spontan berichtet [11]. Der Einsatz validierter Fragebögen, in Versionen für Frauen und Männer, kann daher eine wichtige Hilfe darstellen, Beschwerden zu erfassen [8] und in die weitere Therapie zu integrieren. Ein Beispiel ist der „Essener Fragebogen zu Sexualstörungen”, der aktuell in einer Multicenterstudie zu „Sexualstörungen bei psychiatrischen Erkrankungen” eingesetzt wird.

In der Literatur gibt es divergierende Angaben zur absoluten Häufigkeit sexueller Nebenwirkungen unter Antidepressiva und unterschiedliche Gewichtungen, wie stark und in welcher Form die unterschiedlichen Gruppen von Antidepressiva sexuelle Störungen hervorrufen. Am stärksten ausgeprägt scheinen sexuelle Störungen bei folgenden Antidepressiva aufzutreten: bei klassischen, trizyklischen Antidepressiva, irreversiblen MAO-Hemmern, SSRI und Medikamenten mit einer ausgeprägten Serotoninwiederaufnahmehemmung wie Venlafaxin [8].

Klassische, trizyklische Antidepressiva verursachten Störungen sowohl der Libido, als auch der Erregungsfähigkeit und der Orgasmusfähigkeit. Kausal werden neben Erhöhungen des postsynaptischen Serotoninspiegels vor allem anticholinerge Wirkungen diskutiert [19]. Klassische Antidepressiva, die vorwiegend noradrenerg wirken wie Desipramin oder Nortriptylin, haben deutlich weniger sexuelle Nebenwirkungen.

Unter den neueren Antidepressiva werden die ausgeprägtesten sexuellen Funktionsstörungen unter SSRI berichtet (60-73 %), hier vor allem Libidominderung und Orgasmusstörungen bzw. -verzögerungen. Männer schildern sexuelle Nebenwirkungen etwas häufiger (62,4 % vs. 56,9 %), während Frauen über eine stärkere subjektive Beeinträchtigung berichteten [11]. Bemerkenswert ist, dass die SSRI - im Vergleich zu Libido- und Orgasmusbeeinträchtigungen - nur relativ wenig Erektionsstörungen verursachen. Erektionsstörungen sind weniger auf serotonerge Mechanismen als auf spinale, adrenerg-cholinerge Einflüsse und vaskuläre Faktoren zurückzuführen. Entsprechend scheint Paroxetin - durch eine spezifische Inhibition des Nitratoxids - unter den SSRI relativ am stärksten Erektionsstörungen zu bedingen [19].

Auch wenn die absoluten Zahlen sicher vorsichtig interpretiert werden müssen, verursachen Moclobemid und Nefazodon in dieser Untersuchung von Montejo [11] verhältnismäßig deutlich weniger sexuelle Funktionsstörungen als die SSRI (4 % Moclobemid, 8 % Nefazodon). Auch Mirtazapin bedingt mit etwa 24 % weniger sexuelle Nebenwirkungen [11].

Nefazodon bewirkt neben der Serotoninwiederaufnahmehemmung auch eine Blockade des postsynaptischen 5-HT2-Rezeptors und dadurch eine erhöhte Stimulation der 5-HT1A-abhängigen Neurotransmission. Da eine Stimulation des Serotonin-2-Rezeptors zu Ejakulations- und Orgasmusstörungen beiträgt, führt diese Blockade durch Nefazodon und die mittelfristige Down-Regulation der 5-HT2-Rezeptoren zu einem entsprechenden Schutz der sexuellen Funktionen. Ferner wirkt m-CPP, ein Metabolit von Nefazodon, agonistisch am 5-HT2c-Rezeptor-Subtyp, der sexuelle Stimulation positiv beeinflussen soll [5].

Auch Mirtazapin blockiert den 5-HT2-Rezeptor und verursacht dadurch weniger sexuelle Nebenwirkungen als die typischen SSRI.

Schließlich bewirken Medikamente, wie Bupropion, die vorwiegend über dopaminerge Stimulation antidepressiv wirken, ebenfalls sehr selten sexuelle Funktionsstörungen. Allerdings ist Bupropion in Deutschland nicht zur Behandlung von Depressionen zugelassen.

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Möglichkeiten therapeutischer Intervention

Das Ziel einer antidepressiven Medikation ist die Behandlung der depressiven Erkrankung bzw. die Rückbildung der Symptome. Wie alle anderen Symptome der Depression sollten sich auch sexuelle Beschwerden im Verlauf der Behandlung deutlich bessern. Sofern dies nicht der Fall ist, müssen mögliche Nebenwirkungen der antidepressiven Medikation in Betracht gezogen werden. Unter pharmakotherapeutischen Aspekten bieten sich u.a. die folgenden Möglichkeiten an:

  • Dosisreduktion der antidepressiven Medikation

  • Warten auf spontane Rückbildung der Beschwerden

  • Medikamentenpausen (nur unter sorgfältiger Risikoabwägung)

  • Wechsel des Antidepressivums

  • pharmakologische Interventionen (Gegenmittel).

In diesem Zusammenhang soll noch einmal explizit betont werden, dass psychoedukative und kognitiv verhaltenstherapeutische Verfahren hinsichtlich der nachgewiesenen Wirksamkeit bei der Behandlung sexueller Erregungsstörungen immer noch den ersten Rang einnehmen [18].

Bei der Wahl der geeignetsten Intervention müssen komorbide Störungen, mögliche neue Nebenwirkungen und vor allem die Wirksamkeit der aktuellen Medikation berücksichtigt werden. Ein Wechsel des Antidepressivums fällt beispielsweise leichter, wenn keine ausreichende Wirksamkeit vorhanden ist.

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Dosisreduktion der antidepressiven Medikation

Nebenwirkungen treten in der Regel dosisabhängig auf. Sofern eine ausreichende und stabile antidepressive Wirksamkeit vorhanden ist, ist der Versuch einer Dosisreduktion eine mögliche Option, vor allem dann, wenn auch andere Nebenwirkungen den Patienten belasten [12].

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Warten auf spontane Rückbildung der Beschwerden

In einer systematisierten Untersuchung berichteten 9,7 % der Patienten mit sexuellen Nebenwirkungen über eine komplette Rückbildung innerhalb von sechs Monaten bei gleichbleibender Medikation. Weitere 11,2 % berichteten über eine erhebliche Verbesserung der Beschwerden [11].

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Medikamentenpausen („drug-holidays”)

Bei Patienten mit Libido- und Orgasmusstörungen in Folge der Behandlung mit einem SSRI wurde an mehreren Wochenenden eine Unterbrechung der Einnahme von Sertralin bzw. Paroxetin im Sinne eines drug-holidays vereinbart. In mehr als 50 % der Fälle führte die Unterbrechung der Medikamenteneinnahme über 48 Stunden in diesem Zeitraum zu einer deutlichen Besserung der Libido, der Orgasmusfähigkeit und der sexuelle Befriedigung [14]. Dieses Vorgehen ist aber mit Risiken wegen der schwankenden Medikamentenspiegel verbunden, und sicher nicht geeignet, Spontaneität im Sexualleben der Betroffenen zu unterstützen.

Eigene klinische Erfahrungen zeigen eine mögliche Variante: bei Patienten, bei denen die Umstellung der antidepressiven Medikation geplant war, hatten sich die sexuellen Funktionsstörungen nach Absetzen des SSRI zurückgebildet. In Einzelfällen traten diese Nebenwirkungen auch dann nicht wieder auf, wenn im Verlauf (aus unterschiedlichen Gründen) eine erneute Medikation mit dem gleichen SSRI wieder aufgenommen wurde.

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Wechsel des Antidepressivums

Vor allem wenn die erwünschte antidepressive Wirkung nicht ausreichend ist, ist der Wechsel auf ein Antidepressivum mit einem anderen Wirkansatz eine ausgesprochen probate Option. Allerdings ergeben sich hier neuerdings Probleme, weil zwei Antidepressiva mit minimalen sexuellen Nebenwirkungen in Deutschland nicht mehr (Nefazodon) oder (noch) nicht zugelassen sind (Bupropion).

In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass ein Wechsel von SSRI auf Nefazodon oder Bupropion dazu führte, dass sich die sexuellen Funktionsstörungen deutlich zurückbildeten, während eine antidepressive Wirkung weiterhin erhalten blieb, oder sich sogar noch verbesserte [16] [19].

Aktuell gibt es in Deutschland die Option, unter den neueren Antidepressiva auf Moclobemid oder Mirtazapin umzustellen, bei denen sexuelle Nebenwirkungen seltener auftreten. Auch klassische Antidepressiva mit vorwiegend noradrenerger Komponente wie Nortriptylin oder Desipramin können eine geeignete Behandlungsalternative darstellen. Letztere sind aber mit dem Risiko höherer anticholinerger Nebenwirkungen verbunden, während Mirtazapin bei einigen Patienten zu deutlicher Gewichtszunahme und Sedierung führt.

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Pharmakologische Interventionen (Gegenmittel)

Bislang gibt es noch wenige kontrollierte Untersuchungen zur Verschreibung spezifischer Gegenmittel bei Antidepressiva-induzierten sexuellen Funktionsstörungen. Experimentell und in klinischen Untersuchungen wurden typische Stimulanzien wie Methylphenidat und Pemolin ebenso eingesetzt, wie Amantadin, Yohimbin, Ginkgo biloba und natürlich Sildenafil (für eine Übersicht vgl. Zajeka [19]).

Für den Bereich der Psychiatrie scheint eher ein anderer Ansatz therapeutische Relevanz zu haben: die adjuvante Gabe von Buspiron. In verschiedenen Untersuchungen, einschließlich einer prospektiven, doppelblinden und Plazebo-kontrollierten Studie, ergaben sich Hinweise für die Augmentation der antidepressiven Wirksamkeit durch die zusätzliche Gabe von Buspiron; vor allem zeigte sich aber eine Besserung SSRI-induzierter sexueller Funktionsstörungen. In der schwedischen Untersuchung zur adjuvanten Medikation mit Buspiron bei sexuellen Funktionsstörungen unter der Behandlung mit Citalopram oder Paroxetin berichteten 58 % der Buspiron-behandelten Patienten von einer deutlichen Besserung der Sexualfunktionen (vs. 30 % unter Plazebo). Die Besserung wurde bereits in den ersten Wochen beobachtet, weshalb ein spezifischer Wirkmechanismus vermutet wird: Agonismus am 5-HT1A-Rezeptor und Antagonismus am a2.-Rezeptor, wodurch sexuelle Funktionen verbessert werden [7] [13].

Mirtazapin blockiert ebenfalls den 5-HT2- und zusätzlich den 5-HT3- Rezeptor, wodurch ein vermehrter Serotonineffekt am 5-HT1A-Rezeptor bewirkt und dadurch die sexuelle Funktion verbessert werden soll. Teilweise kann eine zusätzliche Gabe von Mirtazapin durch diese selektive Blockade typische Nebenwirkungen der SSRI mindern, wenn es in niedriger Dosis gegeben wird [4].

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Fazit

Sexuelle Funktionsstörungen treten häufig und als wichtiges Symptom depressiver Erkrankungen auf. Sie können aber auch Folge der Erkrankung oder der antidepressiven Behandlung sein. Die Häufigkeit und die Bedeutung sexueller Beeinträchtigungen für die Betroffenen wird bei der Behandlung depressiver Erkrankungen häufig unterschätzt. Für die Behandlungszufriedenheit, die Lebensqualität und die Medikamentencompliance der Patienten ist es aber wichtig, dass sowohl die Beschwerden selbst, als auch die Schwierigkeiten, darüber zu sprechen, in der Behandlung berücksichtigt werden.

Um dem Ziel einer möglichst guten antidepressiven Behandlung bei möglichst geringen Nebenwirkungen gerecht zu werden, ist es notwendig, sexuelle Funktionsstörungen zu Beginn und im Verlauf der Behandlung zu erfassen und geeignete Behandlungsstrategien gemeinsam mit dem Patienten umzusetzen. Dies wird im klinischen Alltag dadurch erschwert, dass sexuelle Beschwerden für die Betroffenen und deren Zufriedenheit mit der Behandlung zwar ausgesprochen wichtig sind, es aber vielen depressiven Patienten schwer fällt, diese Probleme anzusprechen. Um sexuelle Funktionsstörungen zu erfassen und therapeutisch thematisieren zu können, sind Fragebögen ein günstiges Hilfsmittel, z.B. der „Essener Fragebogen zu Sexualstörungen”.

Für die Behandlung einer depressiven Erkrankung ist die Rückbildung der depressiven Symptome entscheidend. Keinesfalls sollte sich die psychiatrische Behandlung daher von vornherein mit einem Kompromiss bezüglich der sexuellen Nebenwirkungen zufrieden geben; unabhängig davon, ob diese Symptome nun Teil der depressiven Störung, Folge der Depression, oder Folge der antidepressiven Medikation sind.

Neben der primären Wahl entsprechend geeigneter Antidepressiva ist es notwendig, im Verlauf der Behandlung ggf. auf neu aufgetretene sexuelle Nebenwirkungen zu reagieren. Hierfür gibt es verschiedene pharmakotherapeutische Optionen (wobei es bedauerlich ist, dass die Zulassung für Nefazodon letztes Jahr vom Hersteller europaweit zurückgezogen wurde). Als genuin psychiatrische Behandlungsform haben sich psychoedukative und kognitiv- verhaltenstherapeutische Verfahren für die Behandlung sexueller Erregungsstörungen als ausgesprochen wirksam erwiesen.

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Literatur

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  • 3 Clayton A. Recognition and assessment of sexual dysfunction associated with depression.  J Clin Psychiatry. 2001;  62 5-9
  • 4 Farah A. Relief of SSRI-induced sexual dysfunction with mirtazapine treatment [letter].  J Clin Psychiatry. 1999;  4 260-261
  • 5 Ferguson JM. The effect of antidepressants on sexual functioning in depressed patients: a review.  J Clin Psychiatry. 2001;  62 22-34
  • 6 Kennedy SH, Dickens SE, Eisfeld BS. et al. . Sexual dysfunction before antidepressant therapy in major depression.  J Affect Disorder. 1999;  56 201-208
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  • 8 Lane RM. A critical review of selective serotonine re-uptake inhibitor-related sexual dysfunction: incidence, possible etiology and implications for management.  J Psychopharmacol. 1997;  11 72-82
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  • 12 Montejo-Gonzales AL, Llorca GL, Izquierdo JA. et al. . SSRI-induced sexual dysfunction: fluoxetine, paroxetine, sertraline and fluvoxamine in a prospective, multicenter an described clinical study of 344 patients.  J Sex Marital Ther. 1997;  23 176-194
  • 13 Norden MJ. Buspirone treatment of sexual dysfunction associated with selective serotonine re-uptake inhibitors.  Depression. 1994;  2 109-112
  • 14 Rothschild AJ. Selective serotonine reuptake inhibitors-induced sexual dysfunction: efficacy of a drug holliday.  Am J Psychiatry. 1995;  152 1514-1516
  • 15 Strauss B, Gross J. Psychopharmakabedingte Veränderungen der Sexualität, Häufigkeit und Stellenwert in der psychiatrischen Praxis.  Psychiatr Prax. 1984;  11 49-55
  • 16 Walker PW, Cole JO, Gardner EA. et al. . Improvement in fluoxetine-associated sexual dysfunction in patients switched to bupropion.  J Clin Psychiatry. 1993;  54 459-465
  • 17 Wang PS, Gilman SE, Kessler RC. et al. . Initiation of and adherence to treatment for mental disorders: examination of patient advocate group members in 11 countries.  Medical Care. 2000;  38 926-36
  • 18 Weig W. Die Rolle von Psychiatrie und Psychotherapie in der Sexualmedizin nach der Markteinführung von Viagra®.  Nervenarzt. 2000;  71 218-221
  • 19 Zajecka J. Strategies for treatment of antidepressant-related sexual dysfunction.  J Clin Psychiatry. 2001;  62 35-43
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Korrespondenzadresse

Dr. med. Simon Cohen

Oberarzt der Rheinischen Kliniken Essen

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Duisburg-Essen

Barkhovenallee 171

45239 Essen-Heidhausen

eMail: simon.cohen@uni-essen.de

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Literatur

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