ZFA (Stuttgart) 2004; 80(7): 269
DOI: 10.1055/s-2004-822840
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Warum ist der Psychosomatiker so dummdreist?

M. M. Kochen
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Publication Date:
14 July 2004 (online)

Vielleicht werden Sie, liebe Leserinnen und Leser, Ihren Augen nicht trauen, wenn Sie diese Überschrift lesen. Vielleicht meinen Sie, ein solches verallgemeinerndes Urteil über einen ganzen Berufszweig sei ja wohl eher der Stil der Boulevardpresse. Gerne offenbare ich, wie ich zu solchen Einschätzungen stehe: Sie haben vollkommen Recht! In Wirklichkeit halte ich „den Psychosomatiker” keineswegs für dummdreist.

Wer diesen vermeintlichen Widerspruch aufklären möchte, sollte das Februar-Heft der Zeitschrift „Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie”, das Organ des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin zur Hand nehmen. Dort erschien ein Artikel mit der Überschrift „Warum übersieht der Hausarzt die psychischen Störungen seiner Patienten?”. Sie haben richtig gelesen: „Der Hausarzt”, „die psychischen Störungen”. Erstautor ist Johannes Kruse, Privatdozent an der Klinik für Psychotherapeutische Medizin der Universität Düsseldorf. Kurz zusammengefasst werden in dieser Publikation anhand 120 Konsultationen aus 16 Düsseldorfer Hausarztpraxen Faktoren untersucht, welche die Identifikation psychischer Störungen beeinflussen. Konkret wurden die Patienten im Anschluss an eine Konsultation bei ihrem Hausarzt (Tonbandaufzeichnung) durch eine ärztliche Psychotherapeutin mit einem strukturierten klinischen Interview nachbefragt. Dabei zeigte sich, dass die Erkennungsrate psychischer Störungen mit der Konsultationsdauer anstieg und die Symptompräsentation der Patienten durch das kontrollierende Gesprächsverhalten des Hausarztes gesteuert wird. 52 % der untersuchten Patienten sprachen ihre psychischen Beschwerden beim Hausarzt nicht, bei der Psychotherapeutin aber sehr wohl an. Eine durchaus interessante Arbeit, in deren Verlauf die Autoren auch auf mögliche methodische Mängel eingehen (u. a. geringe Anzahl von Konsultationen, Selektionsbias bei den Hausärzten, unsicheres Modell der ärztlichen Urteilsbildung). Die Widersprüche zwischen Überschrift und Artikeltext weisen auf die Notwendigkeit hin, auch in Deutschland Umgangsformen zu pflegen, die besonders in Großbritannien schon lange hochgehalten werden: „Sachliche Schärfe ohne persönliche oder pauschale Verletzungen”.

Damit will ich es aber nicht bewenden lassen. Die beschriebene Verunglimpfung im Titel ist keine Einzelerscheinung. Aus durchsichtigen (meist ökonomischen) Motiven maßen sich einige überhebliche Kollegen immer wieder an, die Tätigkeit von Hausärzten aus spezialistischem Blickwinkel als defizitär hin zu stellen (Defizite im ärztlichen Handeln gibt es zweifelsfrei - auf beiden Seiten!). Leider haben die meisten dieser Kritiker noch nie hausärztlich gearbeitet (in Dänemark oder Finnland ist Allgemeinmedizin für alle Kolleginnen unabhängig von ihrem Berufsziel ein obligater Weiterbildungsteil!). Sonst wüssten sie mehr über Selektionsprozesse, fundamental unterschiedliche Patientenpopulationen, andere epidemiologisch begründete Prognostik oder notwendig differente Arbeitsweisen. Schon der erste Satz im Artikel von Johannes Kruse („Hausärzte übernehmen eine wichtige Screeningfunktion in der Versorgung von Patienten mit psychischen und psychosomatischen Störungen”), weist den Hausärzten eine auf das Screening begrenzte (nicht etwa behandelnde) Rolle zu, die letztendlich dazu beitragen soll, Patienten den „eigentlichen Fachleuten” zuzuführen, deren Zahl dafür natürlich bei weitem nicht ausreicht. Es ist an der Zeit, Verhaltensweisen der freien ökonomischen Wildbahn auf sachliche, wissenschaftlich begründete Kooperationsformen zurückzuführen (wissenschaftlich begründet heißt übrigens auch, dass nach dem Baye'schen Theorem das Screening psychischer Störungen in der hausärztlichen Praxis eine Vorhersagesicherheit von lediglich 30-50 % hat!).

Prof. Dr. Michael M. Kochen, MPH, FRCGP

Facharzt für Allgemeinmedizin, Abt. Allgemeinmedizin

Georg-August-Universität

Humboldtallee 38

37073 Göttingen

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