ZFA (Stuttgart) 2004; 80(10): 411-413
DOI: 10.1055/s-2004-820385
Kommentar

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Generalist und Spezialist - Zwei unterschiedliche Welten von Arbeit und Arbeitsauftrag[*]

All-Rounder and Specialitst - Two Entirely Different Spheres of Work and of Job DirectivesH.-H. Abholz1
  • 1Abteilung Allgemeinmedizin, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
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Publication Date:
15 October 2004 (online)

Deutschland leistet sich weiterhin die gesellschaftliche Verschwendung, mit einem ungegliederten System gesundheitlicher Versorgung im ambulanten Bereich zu arbeiten. Politisch als auch zunehmend mehr in der Öffentlichkeit ist jedoch unüberhörbar: Wir brauchen ein gegliedertes System - wie es schon im SGB V seit fast zehn Jahren vorgesehen ist.

Die Forderung nach einem gegliederten System bedeutet auch immer: Der hausärztliche Sektor muss gestärkt werden, weil eben dieses „Glied” bisher vernachlässigt wurde und auf Basis dieser Vernachlässigung selbst auch zunehmend orientierungslos und demoralisiert geworden ist.

Da aber im deutschen System des Aushandelns von Vertragspartnern, Bundesländern und Berufsgruppen sowie zuständigen Ministerien in der Regel im Gesundheitswesen nichts „aus einem Guss” herauskommt, sondern Disparität das Gemeinsame ist, was konkrete Politik und deren Ergebnisse auszeichnet, haben wir überall im System - von der Ausbildung bis zu den Strukturvorgaben im Versorgungssystem - unterschiedliche Entwicklungen mit förderlichen, aber weiterhin auch hinderlichen Bedingungen für ein gegliedertes System. Damit aber ist überhaupt nicht das Optimum an Voraussetzungen für die Arbeitsfähigkeit von Spezialisten und Generalisten angegeben.

Die fehlende Abgestimmtheit, die Vielfalt von Hinderlichen und Förderlichen bei gleichzeitiger unterschiedlicher Zuständigkeit macht das deutsche System so unbeweglich für entscheidende Veränderungen. Kommt es einmal - nach langem Hin- und Her - doch zu Teilentscheidungen, dann sind nicht selten die Beteiligten im System schließlich so müde, noch etwas zusätzlich zu tun oder gar mit Elan an die neue Aufgabe zu gehen, dass wiederum nichts Entscheidendes geschieht.

Es gibt aber auch einiges, was an allen Stellen im System leider einheitlich geblieben ist: Gemeint ist hier das in Deutschland allenthalben bestehende Unverständnis der fundamentalen Unterschiedlichkeiten der Arbeitsweise von Spezialisten und Generalisten. Damit wiederum wird auch nicht deren gesellschaftlich unterschiedlicher Auftrag gesehen. Selbst die Mehrheit derjenigen, die vom gegliederten System sprechen, es sogar fordern, scheinen den eigentlichen Sinn, die inhaltliche Vernunft eines solchen Systems nicht begriffen zu haben.

Was zeichnet die Arbeit des Spezialisten, der auch konzeptionell heute noch im deutschen System dominierenden Figur und Orientierungsgröße, im Wesentlichen aus? Ein Spezialist hat in seinem Bereich mit größtmöglicher Tiefe all das abzuklären und zu behandeln, was möglich ist. Die Arbeitsaufgabe lautet immer: Was liegt hier definitiv vor, was kann man hier definitiv - unter Abwägung von Nutzen und Risiko - tun? Die Arbeit ist klar definiert und - bei ausreichender Kenntnis aufseiten des Spezialisten - auch relativ einfach zu erfüllen. In dieser ideal-typisierenden Darstellung hat die Tätigkeit des Spezialisten etwas sehr - berufssoziologisch gesprochen - Handwerkliches: Es gibt Vorgaben, übliche Wege, eine Differenzialdiagnostik, eine Differenzialtherapie, die alle jeweils abgearbeitet werden müssen.

Sicherlich handelt es sich hier um eine ideal-typisierende und damit vereinfachende Vorstellung - weil nämlich der Spezialist aus Alltagserfahrung heraus und mit zunehmender Erfahrung etwas vom Generalisten übernimmt.

Der Generalist - ebenso ideal-typisierend dargestellt - hat eine völlig andere Aufgabe: Er hat aus einer breiten Palette von Krankheiten, Befindlichkeitsstörungen, ungeordneten Symptomen herauszuarbeiten, was vorliegt, ob es definierte Krankheit (eher selten), möglicher, wenn auch untypischer Beginn definierter Erkrankung, Funktionelle Störung, Befindlichkeitsstörung, vorgeschobene Symptomatik für ein eigentlich gemeintes Anliegen ist. Er hat dabei nicht selten herauszufinden, ob es psychisch oder körperlich bedingt bzw. - weitaus häufiger - welcher Anteil im Vordergrund steht. Beim Generalisten ist also die Breite der Kenntnis und - notgedrungen - weniger die Tiefe derselben gefordert. In einem solchen Aufgabenfeld ist jedoch die Breite nur verantwortlich zu meistern, wenn auch von der jeweils dahintersteckenden Tiefe eine Ahnung und Kenntnis besteht und/oder zugleich die Fähigkeit entwickelt wurde, dort wo es notwendigerweise sehr „tief” werden sollte, auch einen Patienten oder ein Problem abzugeben, das heißt zu überweisen.

Wie kann man diese Breite medizinisch, ärztlich verantwortungsvoll überhaupt bearbeiten? Formal bietet sich an, dass jedes Symptom - zum Beispiel an eine hinterlegten Differenzialdiagnostik-Tabelle - in aller Tiefe - wie beim Spezialisten - abgearbeitet wird. Dann stehen hinter jedem Schmerz im linken Thorax drei bis vier ernsthafte Erkrankungen mit teilweise erheblichem diagnostischen Aufwand und 10 bis 20 eher harmlose Erkrankungen, die wegen des Schmerzcharakters aber auch herausgefunden werden müssen - und dann ebenfalls erheblichen Aufwand an Diagnostik erfordern. Dies stellt den Versuch dar, auf keinen Fall etwas zu übersehen - dies um den Preis, den Patienten - in der Regel dann - unnötig - zu maltretieren, und der Gesellschaft unendliche Kosten zu bescheren. Am Ende steht dann zudem, dass in der Summe überwiegend falsch-positive Befunde erhoben werden, die ihrerseits wieder diagnostisch abgeklärt werden müssen. In Bezug auf die Therapie lässt sich ein in etwa analoges Szenario entwerfen. Eines aber steht schon von vornherein immer fest: Sollte der Generalist so wie skizziert vorgehen, dann behindert ihn die Breite der geforderten Aufgabe, bei zugleich dann fehlender Tiefe in der Kenntnis der zahlreichen abzuklärenden Erkrankungen.

Er würde dann - wollte er beim verantwortlich Arbeiten bleiben - nur die Möglichkeit haben, als Dispatcher zu arbeiten, also fast alles an Problemen und Patienten zur Abklärung an Überweisungs-annehmende Spezialisten weitergeben. Der deutsche Allgemeinarzt hat aufgrund der hierzulande spezifischen Bedingungen mit hoher Zahl erreichbarer Spezialisten, den Besonderheiten des Abrechnungssystems und der eigenen Demoralisierung und konzeptionellen Orientierungslosigkeit sowie im Erleben der Konkurrenz zu den zahlreichen Spezialisten z. T. diesen Weg eingeschlagen. Man hat Indikatoren hierfür: Nirgendwo gibt es derartige viele Überweisungen bzw. von vornherein akzeptierte „Abgaben” von Aufgaben an „andere” wie in Deutschland (West). Die „Barfußärzte” aus Holland, England und Skandinawien, aber auch Spanien und Portugal machen in der Regel deutlich mehr und arbeiten in der Regel deutlich breiter als wir.

Bei einer solchen, die Kompetenz einschränkenden Arbeitsweise des Dispatchers kommt die berechtigte Frage auf, warum kann denn dann in der Regel nicht der Patient sich selbst zum „Richtigen” dirigieren; auch hier hat das deutsche System mit dem Patienten - gesteuerten Gebrauch der chip-Karte seine stille Antwort gegeben. Man könnte auch - wie in England erfolgreich ausprobiert (NHS-direct) - zur Hilfe und Unterstützung der Patienten eine ausgebildete Krankenschwester als Beratung einschalten.

Der Generalist arbeitet aber anders: Er nimmt Symptome, Befunde - identisch wie der Spezialist - zum Ausgangspunkt, hat aber die Arbeitsaufgabe, nicht alles, an das er denken sollte, auch weiter zu verfolgen, sondern nur das, was zur ganz offensichtlich und schnell herauszufindenden Krankheitsbehandlung, der Symptomlinderung und zur Abwendung gefährlicher Verläufe - also Erkrankungen, die nicht übersehen werden dürfen - notwendig ist. Diese - im Vergleich zum Spezialisten - fundamental andere Arbeitsaufgabe bedeutet also sehr häufig Verzicht auf weitergehende Diagnostik in alle Richtungen und Verzicht auf auch Therapie, wenn sie nicht dringend notwendig oder gewünscht wird. Dies macht das System primärärztlicher Versorgung, also der durch den Generalisten, so preiswert und - mindestens ebenso wichtig - so schonend für den Patienten.

Nur könnte dies auch zulasten der Qualität gehen: Es könnten Leiden übersehen, zu spät entdeckt und unzureichend therapiert werden. Sicherlich wird dies bei dieser Arbeitsweise notgedrungen immer wieder auch vorkommen. Aber was bewahrt davor, dass es die Regel ist? Der Generalist interpretiert - anders als der Spezialist - die angegebenen Symptome, Befunde, Fragen etc. Er interpretiert sie auf dem Hintergrund des ihm in der Regel gut bekannten Patienten, den er in unterschiedlichen Krankheits- und Gesundheitssituationen erlebt hat z. B. seine Reaktionen auf Schmerz, Leid kennen gelernt hat. Sofort einleuchtendes Beispiel ist, dass es Menschen gibt, die ihre Beschwerden übertreiben, Diagnosen unangemessen stark als Leid erleben, und dass es Patienten gibt, die gerade umgekehrt reagieren. Der Generalist kennt eine Vielzahl seiner Patienten und weiß, wie sie reagieren.

Die menschliche Vielfalt ist aber noch weitaus differenzierter und komplexer als dieses vereinfachende Beispiel nahelegt. Diese Vielfalt lernt der Generalist bei seinen Patienten kennen und interpretiert. Auf diesem Hintergrund sowie dem Wissen um das Umfeld des Patienten, dessen Arbeitsplatz, dessen Familie, dessen generellen Sorgen etc. leitet er ab, was er von den Beschwerden und Befunden bei einer Konsultation zu „halten hat”.

Der Generalist muss dabei seine Interpretation des Geschehens immer gegen die beiden folgenden Fragen gedanklich „laufen” lassen: Was, welche Diagnose etc. ist hier einerseits am wahrscheinlichsten und welche Diagnosen mit potenziell gefährlichen Verläufen kommen andererseits in Frage, dürfen also auf keinen Fall undiagnostiziert bleiben. Auf grundsätzlich immer diesem Hintergrund ist dann zu handeln.

Was erlaubt ihm, diese Interpretationsarbeit bei komplexen medizinischen, psychologischen und soziokulturellen „Befunden” dann in eine Priorisierung nach einerseits Wahrscheinlichkeit und andererseits Dringlichkeit zu stellen, um dann am Schluss einigermaßen treffsicher zu einem adäquaten Ergebnis zu kommen? Es ist im Wesentlichen die „Gute Kenntnis des Patienten”, nur diese erlaubt zu interpretieren und eben nicht immer alles zu tun, an das gedacht wurde.

Das, was er mehr an Kenntnis über den Patienten als ein Spezialist hat, ist über die Vielfältigkeit seiner Kontakte zum Patienten zustande gekommen. Durch seine Generalisten-Funktion hat er - idealerweise - den Patienten in einem breiten Spektrum von Gesundheitsstörungen sowie über Jahre gesehen. Er hat damit einen diagnostischen Vorteil gegenüber dem Spezialisten, die „erlebte Anamnese”, wie der Fachterminus heißt. Er hat die Krankheitsreaktionen des Patienten in verschiedenen Situationen erlebt, er hat dessen bekannte Diagnosen parat und er hat - wesentlich unterschiedlich zum Spezialisten - auch zahlreiche dezente Symptome mit fragmentärem Charakter im Gedächtnis, die möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt (dem Zeitpunkt der „jetzigen Vorstellung”) erst eine Bedeutung bekommen, nun nämlich in eine Diagnose einbezogen werden können. Er kann also Bausteine zusammensetzen, die vorher zum Teil gar keiner Diagnose zuordenbar waren. Dies erst erlaubt ihm, einigermaßen treffsicher, die oben skizzierte Interpretation - hermeneutisches Fallverständnis genannt - überhaupt verantwortungsvoll vornehmen zu können.

Und noch etwas kommt hinzu: Über die Breite und Kontinuität der Versorgung wächst über die Zeit ein persönliches Verhältnis zu dem Patienten, eine gewachsene Arzt-Patienten-Beziehung. Diese muss nicht nur gut, sondern kann auch spannungsreich sein, sie erlaubt aber auch fast immer auf einer emotionalen Ebene mehr Zugang zum Patienten zu gewinnen, Dinge zu fragen, die man ansonsten nicht fragen kann. Und sie erlaubt Dinge zu spüren, die derjenige, der kein entwickeltes Verhältnis zum Patienten hat, nicht spüren würde oder nicht interpretieren könnte.

Es sind also die erlebte Anamnese und das gewachsene Arzt-Patienten-Verhältnis, die die Stärke und Solidität der Arbeit des Generalisten ausmachen. Beide aber brauchen zum Entstehen: Breite und Kontinuität in der Versorgung.

Welche struktur-politischen Implikationen hat dies für ein Versorgungssystem: Ein Generalist kann nur dann arbeiten, wenn er die Breite und Kontinuität der Versorgung für möglichst jeden seiner Patienten realisieren kann. Kennt er - ähnlich wie ein Spezialist - nur wenige Ausschnitte und sieht seinen Patienten immer nur einmal und dann über Monate und Jahre nicht, dann ist sein Arbeitsansatz des hermeneutischen Fallverständnisses auf Basis von Kontinuität und Breite der Versorgung sowie eines gewachsenen Arzt-Patienten-Verhältnisses zunehmend brüchiger - und Entscheidungen werden fehlerhafter.

Wer also politisch ein gegliedertes System haben will und die Vorteile hoher Kosteneffizienz aus diesem System genießen will, der muss für diese genannte Voraussetzung sorgen. Tut er es nicht, dann schiebt er dieses System aus dem Optimum seiner Arbeitsfähigkeit hinaus: Es wird entweder in der Qualität schlechter oder - bei gewissenhaften Ärzten - teurer, da diese dann massiv überweisen, um auf die spezialistische Arbeitsweise auszuweichen, die dann, wenn man den Patienten nicht gut kennt, sogar auch adäquater ist.

Interessenkonflikte: keine angegeben

1 In Anlehnung an ein gleichnamiges Referat, gehalten auf dem 3. Deutschen Kongress für Versorgungsforschung, Bielefeld 18. bis 19.6.04

    1 In Anlehnung an ein gleichnamiges Referat, gehalten auf dem 3. Deutschen Kongress für Versorgungsforschung, Bielefeld 18. bis 19.6.04

    Prof. Dr. Heinz-Harald Abholz

    Facharzt für Allgemeinmedizin

    Abt. Allgemeinmedizin

    Heinrich-Heine-Universität

    Moorenstraße 5

    40225 Düsseldorf

    Email: abholz@med.uni-duesseldorf.de

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