Im Review von Leucht et al. wurden Studien ausgewertet, bei denen als Vergleichssubstanzen
zu den Atypika niedrigpotente Neuroleptika zur Anwendung kamen. Während sogenannte
hochpotente Neuroleptika in vergleichsweise niedriger mg-Dosis antipsychotisch wirken,
aber ausgeprägtere extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen aufweisen, müssen mittel-
und vor allem niedrigpotente Neuroleptika zur Erzielung einer vergleichbaren antipsychotischen
Wirkung wesentlich höher dosiert werden, sind stärker sedierend und weisen ausgeprägtere
vegetative Begleitwirkungen auf. Die klinische Einteilung nach der neuroleptischen
Potenz mit Chlorpromazin als Bezugssubstanz gibt aber gerade im Übergangsbereich zwischen
niedrig- und hochpotent nur einen ungefähren Hinweis auf die antipsychotische Wirkstärke.
So wird beispielsweise die im Review als niedrigpotent bezeichnete Substanz Perazin
in Deutschland den mittelpotenten Neuroleptika zugerechnet.
Wirksamkeit
Nahezu alle neueren auf wissenschaftliche Evidenz gegründeten Leitlinien empfehlen
Atypika in der Therapie psychotischer Erkrankungen. Atypika werden als First-Line-Therapie
bei Ersterkrankungen und bei Patienten mit bisher unzureichendem Therapieerfolg, nicht
akzeptablen Nebenwirkungen oder aus anderen Gründen empfohlen, da die Mehrzahl der
aktuellen Meta-Analysen sowohl in der Akut- als auch in der Langzeit-Therapie Vorteile
der Atypika nachgewiesen haben.
Die umfassendste Beurteilung des Nutzens atypischer Neuroleptika wurde vom National
Institute for Clinical Excellence (NICE), einer vom britischen Gesundheitsministerium
mit der Formulierung von evidenzbasierten Behandlungsempfehlungen beauftragten Institution
im September 2001 vorgenommen. Basierend auf einem Update vorliegender Cochrane-Reviews
(die in der Regel nicht älter als fünf Jahre waren) erfolgten zusätzliche systematische
Literaturrecherchen nach neueren randomisierten kontrollierten Studien [2]. Der NICE-Review kam zu dem Ergebnis, dass, obgleich weitere Untersuchungen mit
längerem Zeithorizont gefordert wurden, in den vorliegenden Studien „Risperidon, Quetiapin,
Amisulprid, Zotepin, Olanzapin und Clozapin zur Reduktion der Schizophrenie-Symptome
und Clozapin zur Rezidivprophylaxe genauso wirksam oder wirksamer sind wie typische
Neuroleptika”.
Clozapin habe sich „bezüglich der Besserung der Negativsymptome bei therapieresistenter
Schizophrenie im Vergleich zu typischen Neuroleptika als eindeutig wirksamer herausgestellt”.
Ebenfalls in Übereinstimmung mit den vorliegenden Cochrane-Reviews zu Clozapin, Olanzapin,
Quetiapin, Risperidon, Zotepin wurde herausgearbeitet, dass atypische Neuroleptika
mit weniger extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen verbunden sind als typische
Neuroleptika. In einem neueren Cochrane-Review erwies sich auch Ziprasidon in seiner
antipsychotischen Wirkung dem Haloperidol zumindest gleichwertig bei geringerer Rate
an extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen [3]. An Schizophrenie Erkrankte sind, wie die Studien sowie die klinische Erfahrung
zeigen, überwiegend positiver gegenüber atypischen Neuroleptika eingestellt.
Daher wurde in den Empfehlungen der auf dem NICE-Review basierenden aktuellen Schizophrenie-Leitlinie
des NICE vom Dezember 2002, wie auch in den Leitlinien der DGPPN von 1998, der American
Psychiatric Association von 1997, dem Texas Medication Algorithm Project von 1999
und einer kanadischen Leitlinie von 1999 [1]
[4]
[6]
[11] empfohlen, atypische Neuroleptika als Therapie der ersten Wahl bei folgenden Indikationen
anzuwenden:
-
in der Behandlung neu aufgetretener Schizophrenien
-
bei Vorliegen nicht akzeptabler Nebenwirkungen unter typischen Neuroleptika
-
wenn der Patient seine Präferenzen nicht äußern kann
-
bei Patienten mit Krankheitsrezidiv unter Therapie sowie
-
bei anamnestisch mangelndem Ansprechen auf typische Neuroleptika.
Neuere systematische Reviews zeigen eine z.T. überlegene Wirksamkeit atypischer Neuroleptika
in der Akuttherapie [5] und - als Gruppe - eine geringfügige, aber signifikante Überlegenheit in der Verhinderung
von Krankheitsrezidiven [9]. Inwiefern die bessere Compliance bei den Ergebnissen dieser Studien eine Rolle
spielte, kann nicht abschließend beurteilt werden.
Nebenwirkungen
In einem aktuellen systematischen Review zur Langzeittherapie mit Atypika war die
Studienabbruchquote bei Behandlung mit Atypika vergleichbar mit der unter typischen
Neuroleptika. Allerdings gab es in den Atypika-Studien nicht häufiger Studienabbrüche
wegen Nebenwirkungen als unter Plazebo, so dass die Autoren folgern, dass die Verträglichkeit
der Atypika insgesamt derjenigen von Plazebo entspricht [9].
Diese Zusammenhänge spielen für die Beurteilung des mittels meta-analytischer Techniken
durchgeführten Reviews von Leucht et al. [10] eine Rolle. Der Review kommt zu dem Ergebnis, dass die Rate an extrapyramidal-motorischer
Symptomatik (EPS) bei atypischen möglicherweise nicht geringer als bei optimal dosierten
niedrigpotenten Neuroleptika ist. Die in der Gesamtauswertung der Studien signifikant
geringere Rate an EPS bei atypischen Neuroleptika werde vielmehr durch die Ergebnisse
derjenigen Studien erklärt, bei denen hohe Dosierungen (d.h. oberhalb von 600 mg/Tag
Chlorpromazin-Äquivalenten) der niedrigpotenten typischen Neuroleptika zur Anwendung
kamen.
Ob die antipsychotische Wirksamkeit der atypischen jedoch bei einer Dosis der typischen
Neuroleptika unter 600 mg/Tag Chlorpromazin-Äquivalenten geringer, gleichwertig oder
überlegen ist, wird im Review von Leucht et al. ausdrücklich nicht behauptet. Vielmehr
wird herausgearbeitet, dass die angewendeten Atypika in den Studien insgesamt (d.h.
ohne Berücksichtigung der Dosis) signifikant wirksamer waren als niedrigpotente Neuroleptika,
wobei diese statistische Überlegenheit allerdings nicht mehr zu sichern war, wenn
solche Studien ausgeschlossen wurden, bei denen niedrigpotente Neuroleptika in sehr
geringer Dosierung (unterhalb von 300 mg/Tag Chlorpromazin-Äquivalenzdosis) zum Einsatz
kamen. Offensichtlich konnte für den Bereich oberhalb von 300 mg/Tag Chlorpromazin-Äquivalenzdosis
eine vergleichbare Wirksamkeit niedrigpotenter Neuroleptika, oberhalb von 600 mg/Tag
jedoch auch eine erhöhte extrapyramidal-motorische Nebenwirkungsrate im Vergleich
zu den Atypika festgestellt werden. Die interindividuelle Variabilität der Nebenwirkungsrate
ist bei niedrigpotenten Neuroleptika jedoch erheblich und die individuelle Toleranzbreite
teilweise so gering, dass sie oft nicht im optimalen Bereich dosiert werden können.
Demnach trifft die häufig geäußerte Behauptung nicht zu, dass der Review zum Ergebnis
gekommen sei, der Vorteil der Atypika beruhe auf einem ungeeigneten Vergleich mit
hoch dosiertem Haloperidol. Diese Behauptung wird in der Einleitung des Reviews unter
Bezug auf die Arbeit von Geddes et al. [7] erwähnt, jedoch hier nicht untersucht. Geddes war in seiner Meta-Analyse zu dem
Ergebnis gekommen, dass die unterschiedlichen Studienergebnisse bezüglich der Wirksamkeit
der Atypika im Vergleich zu typischen Neuroleptika durch die unterschiedlichen Vergleichsdosen
erklärbar sind. Die Überlegenheit der Atypika verschwände, wenn die Vergleichsdosis
berücksichtigt würde. Dieser Befund wurde in der Meta-Analyse von Leucht (mit Bezug
auf konventionelle niedrigpotente Neuroleptika) nicht repliziert, was Geddes auf die
unterschiedliche statistische Methodik zurückführt [8]. Eine weitere aktuelle Meta-Analyse kommt hingegen zu dem Ergebnis, dass die Haloperidol-Vergleichsdosis
keinen Einfluss auf das Ergebnis der Atypika-Wirksamkeitsstudien hat [5]. Mit dieser Arbeit von Davis werden die Schlussfolgerungen von Geddes weiter relativiert.
Auch dass niedrigpotente Neuroleptika eine kostengünstige Option in der Behandlung
der Schizophrenie seien, wurde nicht evaluiert und auch so nicht von den Autoren behauptet.
Eine auf die Akutbehandlung beschränkte Kostenanalyse greift in jedem Fall zu kurz.
Insbesondere Krankheitsrezidive und Krankenhausaufnahmen sind kostenintensiv - hier
zeichnen sich, möglicherweise durch bessere Compliance, deutliche Vorteile der Atypika
ab. Häufig werden aber auch die Begriffe „niedrig dosiert” und „niedrigpotent” verwechselt,
wenn, wie im Deutschen Ärzteblatt, kommentiert wird, dass keinesfalls sicher sei,
dass die „niedrig dosierten Medikamente schlechter wirken als die neuen atypischen
Antipsychotika”. Auch von „schwach wirksamen Neuroleptika” kann nicht gesprochen werden.
Der Review von Leucht et al. diente nach Aussagen der Autoren lediglich der Hypothesengenerierung.
Zum Vergleich atypischer gegenüber hochpotenten typischen Neuroleptika können hiernach
keine Aussagen gemacht werden. Es ergaben sich Hinweise, dass die älteren niedrigpotenten
Substanzen in individuell optimaler Dosierung vergleichbar wirksam sind und unter
dieser Dosisbedingung möglicherweise nicht häufiger extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen
als die neuen Substanzen aufweisen. Andere Nebenwirkungen der älteren wie neueren
Substanzen wurden nicht untersucht. Die Frage, ob niedrigpotente Neuroleptika im niedrigen
Dosisbereich gleich wirksam sind wie Atypika, wollten die Autoren des Reviews hingegen
nicht beantworten. Die kurz- und langfristige gute und z.T. bessere Wirksamkeit atypischer
Neuroleptika gegenüber typischen, die von neueren Meta-Analysen gestützt wird, rechtfertigt
deren wachsende Bedeutung und zunehmenden klinischen Einsatz - auch unter Berücksichtigung
gesundheitsökonomischer Überlegungen.