Z Sex Forsch 2004; 17(1): 11-25
DOI: 10.1055/s-2004-818787
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Über Judith Butler[*]

Reimut Reiche
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Publication Date:
04 May 2004 (online)

Übersicht

In seiner Kritik des Theoriegebäudes von Judith Butler betont der Autor einleitend deren Einfluss auf die Gender Studies. In ihren frühen Schriften drehe sich alles um die Untersuchung des Heterosexismus der Macht und der heterosexistischen Normalisierung. Während Butler in diesen Schriften den Begriff der Macht ganz im Sinne Foucaults verwendet habe, rücke sie von diesem später, unter Rekurs auf die Psychoanalyse, ab und werfe Foucault vor, den Doppelaspekt von Macht als Unterwerfung und Erzeugung nicht gesehen zu haben. Im Zentrum der Überlegungen des Autors steht die Untersuchung der Frage, welchen Gebrauch Butler und andere Theoretikerinnen des Feminismus von der Psychoanalyse, vor allem von Lacan, machen. Die vorherrschende Argumentationsstrategie dieser Autorinnen liegt nach Auffassung von Reiche darin, Lacan etwas zuzuschreiben, was Freud verleugnet habe, um dann in einem zweiten Schritt Lacan „feministisch aufzubessern”. Der Autor hält die Substanz von Butlers Denken für weitaus weniger radikal, als das gemeinhin angenommen wird. Die Radikalität Butlers liege eher in ihrem Schreibgestus als in der Sache selbst. Allerdings mache sie ein „attraktives Angebot” an alle, die sich sexuell nicht festlegen wollen oder können.

1 Nach einem Vortrag, der am 23. Mai 2003 am Frankfurter Psychoanalytischen Institut im Rahmen einer Kontroverse über Judith Butler zwischen Ilka Quindeau und Reimut Reiche gehalten wurde.

Literatur

  • 1 Adornrno T W. Ästhetische Theorie. Ges. Schriften, Bd. 7. Frankfurt/M.: Suhrkamp; 1970
  • 2 Bossinade J. Wedekinds Monstretragödie und die Frage der Separation (Lacan). In: Gutjahr 0 (Hrsg). Frank Wedekind. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 20.  Würzburg: Königshausen und Neumann. 2001;  143-162
  • 3 Bronfen E. Das verknotete Subjekt - Hysterie in der Moderne. Berlin: Volk und Welt; 1998
  • 4 Bronfen E. Heimweh - Illusionsspiele in Hollywood. Berlin: Volk und Welt; 1999
  • 5 Butler J. Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M.: Suhrkamp; 1991 (Orig. Gender trouble. Feminism and the subversion of identity. New York: Routledge; 1990)
  • 6 Butler J. Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen der Geschlechts. Berlin: Berlin Verlag; 1995 (Orig.: Bodies that matter. On the discursive limits of „sex”. New York: Routledge; 1993)
  • 7 Butler J. Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt/M.: Suhrkamp; 2001 (zit. als 2001a) (Orig.: The psychic life of power. Theories in subjection. Stanford, Calif.: Stanford University Press; 1997)
  • 8 Butler J. Eine Welt, in der Antigone am Leben geblieben wäre. Judith Butler interviewt von Carolin Emcke und Martin Saar.  Dtsch Z Philos. 2001;  49 587-599 (zit. als 2001b)
  • 9 Gagnon J H. „Sexual Conduct” revisited. Interview mit Gunter Schmidt.  Z Sexualforsch. 1998;  11 353-366
  • 10 Kristeva J. Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt/M.: Suhrkamp; 1990
  • 11 Lacan J. Die Bedeutung des Phallus. In: Lacan J. Schriften 11. Olten, Freiburg i.  Br.: Walter-Verlag. 1975;  119-132 (zit. als 1975a)
  • 12 Lacan J. Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten. In: Lacan J. Schriften 11. Olten, Freiburg i.  Br.: Walter-Verlag. 1975;  165-204 (zit. als 1975b)
  • 13 Lacan J. (1975/76). Les seminaires de J. Lacan. Livre XXIII. Le sinthome (1975/76). Ornicar? - Bulletin periodique du Champ freudien, Nr. 6 - 11, Paris 1976 - 1977
  • 14 Lichtenberg Ettinger B. Metamorphic borderlinks and matrixial borderspace. In: Welchman J (ed). Rethinking borders. London: McMillan; 1996
  • 15 Morgenthaler F. Homosexualität. In: Sigusch V (Hrsg). Therapie sexueller Störungen. 2., neubearb. und erweit. Auflfl. Stuttgart, New York: Thieme; 1980
  • 16 Pollock G. Three thoughts on femininityty, creativity ty and elapsed time/Drei Gedanken über Weiblichkeit, Kreativität und verlorene Zeit.  In: Parkett. 2000;  59 107-122
  • 17 Quindeau I. Melancholie und Geschlecht. Psychoanalytische Anmerkungen zur Theorie von Judith Butler.  Z Sexualforsch. 2004;  17 1-10
  • 18 Reiche R. Gender ohne Sex. Gender als Begriff und als Metapher.  Psyche. 1997;  51 926-957
  • 19 Silverman K. Male subjectivity ty at the margins. New York: Routledge; 1992 Weber S. Freud-Legende. Wien: Passagen; 1989
  • 20 Žižek S. Die Tücke des Subjekts. Frankfurt/M.: Suhrkamp; 2001

1 Nach einem Vortrag, der am 23. Mai 2003 am Frankfurter Psychoanalytischen Institut im Rahmen einer Kontroverse über Judith Butler zwischen Ilka Quindeau und Reimut Reiche gehalten wurde.

2 Siehe hierzu den beleidigten Rückblick des Kinsey-Schülers Gagnon im Interview mit Gunter Schmidt (Gagnon 1998).

3 Deffinition des Begehrens: Anspruch des Subjekts auf Liebe minus Befriedigung (die aus dem „Appetit auf Befriedigung” herrührt) - also das Nicht-zu-Befriedigende = „die Spaltung im Subjekt” (Lacan 1975a: 127).

4 Vgl. 1975b: 202: „die Frau hinter ihrem Schleier: die Abwesenheit des Penis macht sie zum Phallus”.

5 Bronfens Text repräsentiert einen typischen Fall von Kotau vor Lacan bei gleichzeitiger opportunistischer Lacan-Revision. Sie möchte dem Phallus als „nur zufälligem” Statthalter der Kastration den Bauchnabel (Omphalos) als „wesentlichen” Statthalter der Kastration zur Seite stellen. Ihr zufolge „beschreibt der Omphalos einen Aspekt des Schicksals unserer Anatomie, der sich von Freuds Phallus-Geschichte unterscheidet, indem er uns dazu auffordert, den Nabel als solch einen Grabstein aufzufassen, der an den Tod unserer Python, der Nabelschnur, die wir verloren haben, erinnert. […] Meine Neudefinition des Omphalos folgt Lacans Darstellung der psychischen Geschichte des Subjekts als einer durch den fundamentalen Verlust des mütterlichen Körpers strukturierten. […] Für Lacan impliziert die Kastration, dass man mit dem zurechtkommen muss, was man nicht ist, was man nicht hat, was man nicht sein kann, eine Anerkennung der Endlichkeit, der Tatsache, dass etwas Entscheidendes bereits verloren ist. […] Und weil die väterliche Drohung und ihr privilegierter Signifikant, der Phallus, nur in einem zufälligen Zusammenhang mit einer Kastration stehen, bei der es eigentlich um die Fehl- und Verwundbarkeit des Subjekts geht, während der Verlust der Mutter wesentlich für das Subjekt ist, werde ich die Begriffe Entnabelung und symbolische Kastration nebeneinander gebrauchen” (Bronfen 1998 : 52 f).

6 Vgl. Weber 1989 (Kapitel „Die Bedeutung des Thallus”).

7 Vgl. Quindeau 2004 (in diesem Heft S.1 - 10)

Priv.-Doz. Dr. Reimut Reiche

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