Z Sex Forsch 2004; 17(1): 46-59
DOI: 10.1055/s-2004-818752
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Sexualverhalten und soziale Erwünschtheit

Ein Vergleich von drei ErhebungsmethodenHans-Ullrich Mühlenfeld
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Publication Date:
04 May 2004 (online)

Einleitung

Seit den Kinsey-Reports von 1948 bzw. 1953 sah sich die Sexualforschung der Schwierigkeit gegenüber, verlässliche und valide Daten über das Sexualverhalten zu erheben (Clement 1990: 290 f; Laumann et al. 2000: 35). Das ist zum einen deshalb der Fall, weil Untersuchungen zum Sexualverhalten schon immer eine besondere Brisanz besaßen bzw. immer noch besitzen. Zum anderen gehören Fragen zum Sexualverhalten in der empirischen Forschung zu den so genannten peinlichen oder unangenehmen Fragen (Friedrichs 1990: 203; Diekmann 1995: 383 f; Schnell et al. 1999: 316 f), welche in besonderem Maße mit der Tendenz, eine sozial erwünschte Antwort zu geben, einhergehen. Dabei wirkt sich das Phänomen der sozialen Erwünschtheit nicht nur auf die Probanden aus, auch Forscher orientieren sich bei der Anlage ihrer Studie an gesellschaftlichen Meinungen und Normen (Clement 1990: 292; Ericksen und Steffen 1999: 6 f) und müssen bei der Entwicklung ihres Messinstruments die internalisierten Normen und Meinungen der Interviewten reflflektieren (Laumann et al. 2000: 35). So wies eine vergleichende Studie zwischen Studierenden in der BRD und der DDR (Clement und Starke 1988) stark differierende Verweigerungsquoten (BRD 63,4 % - DDR 1,2 %) auf, die die Autoren mit dem unterschiedlichen sozialen Druck erklären (ebd.: 32).

Bei Interviewten erzeugen „peinliche” Fragen besonders große Spannungen zwischen dem (unbekannten) „wahren” Wert einer Antwort und der letztlich geäußerten, sozial erwünschten Antwort (Koolwijk 1969), die für sie psychische Kosten darstellen. Für die Forschenden bedeutet dies Folgendes: Sie können a) nicht genau wissen, ob und in welchem Ausmaß die Antworten der Versuchspersonen (Vp) verzerrt sind, und sie haben dementsprechend b) keine verlässliche Ausgangsbasis für ein weiteres Vorgehen (Turner et al. 1997: 39).

Die Tendenz zu sozial erwünschten Antworten wird neben dem Inhalt der Frage durch weitere Faktoren bestimmt, die, allgemein gesprochen, mit der Anonymität der Befragungssituation zu tun haben. Zum einen stellt sich die Befragungssituation an sich als eine ungewöhnliche Situation für beide Kommunikationspartnerinnen (Interviewende und Interviewte) dar. Die Befragung weicht unter anderem von einer normalen Kommunikationssituation durch ihr asymmetrisches Frage-Antwort-Spiel ab, weil nicht beide Kommunihationspartnerlnnen gleichberechtigt Fragen stellen können (Kromrey 2000: 337 ff). Darüber hinaus handelt es sich in den meisten Fällen um zwei vollkommen fremde Personen, die miteinander kommunizieren. Bei der Mehrzahl der Umfragen werden die Interviews nicht vorher verabredet, so dass die Interviewten häufig überrascht werden. Hinzu kommt, dass die Interviewenden als Funktionsträgerinnen an der Kommunikationssituation teilnehmen. Also nicht aus eigenem Interesse am anderen wird die Kommunikationssituation gesucht, sondern als Mitglied eines Instituts (Behörde, Hochschule), was für die zu Interviewenden etwas Abstraktes darstellt. Auch ist ein Face-to-face-Gespräch nie wirklich anonym. Zudem werden die Informationen, die die Interviewten über sich preisgeben, zwar anonymisiert, aber dennoch zur Datenaufarbeitung weitergereicht. Zusätzlich haben Untersuchungen gezeigt, dass die Anwesenheit Dritter (Partner, Freunde, Kinder etc.) die Kommunikationssituation noch „öffentlicher” macht und die Tendenz, sozial erwünschte Antworten zu geben, verstärkt (Clement und Starke 1988: 32; Peiser 2002; Hallemann 1986).

Es gibt verschiedene Ansätze, diesem Problem entgegenzuwirken. Eine der Möglichkeiten zielt auf extrinsische Motivatoren wie Geld oder sonstige Gegenleistungen ab. Hiermit soll die Ehrlichkeit der Interviewten „erkauft” werden, d. h. sie fühlen sich stärker verpflflichtet, dem/der Kommunikationspartnerln zu helfen, weil diese/r sie für ihre Kooperation gratifiziert (Dillman 1978: 12 f). Eine andere Möglichkeit, die Tendenz zu sozial erwünschten Antworten zu reduzieren, ist die Schaffung einer anonymen Befragungssituation (Ericksen und Steffen 1999: 8 f; Stöber et al. 2002). Das gilt beispielsweise für die Online-Forschung, weil computergestützte Interviews einen hohen Grad an Anonymität haben. Allerdings gehen dabei auch wichtige Informationsbestandteile verloren, wie z. B. die Mimik, die Gestik und die Intonation beim Antworten. Gleichzeitig wird die Befragungssituation z. B. bei web-basierten Fragebogen noch asymmetrischer, weil den Interviewten überhaupt keine Möglichkeit zur Nachfrage oder Anmerkung gegeben wird. Ausdruck dieses Dilemmas ist das fast völlige Fehlen einer qualitativen Online-Forschung.

Im Fokus der vorliegenden Studie steht neben dem Vergleich dreier unterschiedlicher Erhebungsmethoden die Darstellung einer neuartigen Erhebungsmethode, welche die Möglichkeit bietet, teilweise die Probleme der bisherigen Offlfline- und Online-Forschung zu reduzieren. Dabei werden die Vorteile der beiden Methodenstränge genutzt und vereint. Verglichen werden zwei computervermittelte Methoden (Online, Internet Assisted Personal Interview/IAPI) und eine Face-to-face-Methode (Computer Assisted Personal Interview/CAPI). Bei der Online-Methode handelt es sich um einen web-basierten Online-Fragebogen. Der zentrale Aspekt des IAPI ist eine Desktop-Videokonferenz, also eine audiovisuell gestützte Fernkommunikationstechnologie, die bewegte Bilder und Ton in Echtzeit zulässt.

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1 Da die Fragen dichotom kodiert waren mit dem Skalenwert 1 für die Antwortoption , ja”, ist der Mittelwert gleichzeitig der Anteilswert.

2 Diese Daten wurden in einer gesonderten Studie im Jahr 2002 erhoben. Sexualverhalten und soziale Erwünschtheit. Z Sexualforsch 2004; 17 59

Dr. rer. pol. Hans-Ullrich Mühlenfeld

Universität Bremen · Institut für empirische und angewandte Soziologie

Celsiusstraße

28359 Bremen

Email: muehlenfeld@uni-bremen.de

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