Klinische Neurophysiologie 2004; 35(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-2003-814843
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Rückblick, Ausblick

Looking Back and Looking ForwardM.  Stöhr
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Publication Date:
02 March 2004 (online)

Die klinische Neurophysiologie hat in den vergangenen vier Jahrzehnten eine faszinierende Ausweitung und Differenzierung ihres Methodenspektrums erfahren, indem sich zur Elektroenzephalographie sukzessive die Elektromyographie, Elektrookulographie, die multimodal evozierten Potenziale, die Ultraschalldiagnostik der hirnversorgenden Arterien sowie die Funktionsdiagnostik kognitiver Prozesse, der Motorik, des autonomen Nervensystems und des Schlafs hinzugesellten. Aber auch innerhalb der einzelnen Methoden resultierten Ausweitungen und Verbesserungen, indem sich beispielsweise auf dem Gebiet der Elektromyographie zu den klassischen Nadelableitungen und neurographischen Messungen eine Reihe von Reflexuntersuchungen, quantitative Analyseverfahren, Bestimmungen der F- und A-Wellen, Untersuchungen anogenitaler Funktionsstörungen, Tremor- und Dystonieanalysen einschließlich EMG-gesteuerter Botulinumtoxininjektionen hinzugesellten und heutzutage zum Standard eines guten EMG-Labors zählen. Zur ursprünglichen extrakraniellen Doppler-Sonographie als einfacher Flussmessung der Halsarterien gesellten sich die transkranielle Doppler-Sonographie, extra- und intrakranielle Farb-Duplex-Sonographien sowie Bestimmungen der Autoregulationsreserve, so dass die nicht invasive Messung der Hirndurchblutung einen hohen Grad an Zuverlässigkeit erreicht hat.

In den letzten Jahren hat dieser zuweilen stürmische Entwicklungsprozess eine gewisse Verlangsamung erfahren, die zwei Gründe haben dürfte:

Eine ganze Reihe von neurophysiologischen Verfahren hat zwischenzeitlich eine Perfektionierung durchlaufen, die nur noch wenig Platz lässt für Weiterentwicklungen, so dass sich viele wissenschaftlich interessierte Neurowissenschaftler anderen Gebieten zuwenden, die ein größeres Entwicklungspotenzial versprechen. So verständlich diese Tendenz ist, darf sie doch nicht dazu führen, dass das zwischenzeitlich erreichte hohe Niveau der neurophysiologischen Diagnostik durch Vernachlässigung gefährdet wird, wie sich dies bereits in einigen Kliniken abzeichnet, in denen kein Mitarbeiter mehr über profunde Kenntnisse auf diesem Gebiet verfügt und niemand mehr in der Lage ist, eine hochqualifizierte Abklärung einer Epilepsie oder eines Guillain-Barré-Syndroms oder eine exakte Topodiagnostik von Hirnstammläsionen mittels neurophysiologischer Verfahren durchzuführen. Die großartige Entwicklung der bildgebenden Diagnostik führt in Kombination mit der Bildgläubigkeit vieler Neurowissenschaftler zu einer sachlich unangemessenen Bevorzugung von CT-, MRT-, SPECT- und PET-Untersuchungen ohne zu bedenken, dass Krankheiten des Nervensystems zu strukturellen und funktionellen Änderungen führen und demgemäß einer komplementären Diagnostik bedürfen. Darüber hinaus lässt uns die bildgebende Diagnostik bei einer Vielzahl von Krankheiten im Stich, bei denen die Neurophysiologie eindrucksvolle Krankheitsmanifestationen aufzeigt - vom nonkonvulsiven Status epilepticus, über die Prognostik komatöser Zustände, bis hin zu neuromuskulären Überleitungsstörungen und Immunneuropathien.

Das derzeitige Herausgeberteam war darauf bedacht, die vielfältigen Aspekte der klinischen Neurophysiologie einer breiten Leserschaft in Klinik und Praxis näher zu bringen, so dass neben den Originalarbeiten zahlreiche angeforderte Übersichtsartikel und eine Reihe von Schwerpunktheften zu aktuellen Themen, wie der neurophysiologischen Diagnostik bei Epilepsien, Schlaganfällen, Hirnstammläsionen, Immunneuropathien oder Störungen des autonomen Nervensystems publiziert wurden. Um die enge Verflechtung mit der experimentellen Neurophysiologie aufzuzeigen, erschienen daneben Beiträge aus der Grundlagenforschung, wie z. B. das von E. J. Speckmann herausgegebene Schwerpunktheft über Untersuchungen an lebendem menschlichen Hirngewebe.

Mit dem Erscheinen von Heft 1/2004 ergibt sich eine Änderung in der Herausgeberschaft und in der Schriftleitung, wobei letztere von Herrn Professor Dr. R. Dengler (Medizinische Hochschule Hannover) übernommen wird. Ich hoffe, dass die unter meiner Schriftleitung erschienenen sechs Jahrgänge der Zeitschrift „Klinische Neurophysiologie” den Erwartungen der Abonnenten entsprachen und wünsche der Zeitschrift und dem neuen Herausgeberteam Erfolg und Anerkennung.

Herrn Peter Eich und Frau Elke Rettig vom Georg Thieme Verlag sei Dank für anhaltende Unterstützung und redaktionelle Hilfe.

Augsburg, den 11.2.2004
M. Stöhr

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