Der Klinikarzt 2003; 32(10): 328-332
DOI: 10.1055/s-2003-43276
Onkologie

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Das lokal begrenzte Harnblasenkarzinom - Wann ist ein interdisziplinärer Ansatz sinnvoll, erforderlich und „Standard”?

Locally Limited Cancer of the Bladder - When is an Interdisciplinary - Approach Sensible, Necessary and „Standard”?R. Souchon1
  • 1Strahlenklinik des Allgemeinen Krankenhauses Hagen gGmbH (Chefarzt PD Dr. R. Souchon)
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Anschrift des Verfassers

PD Dr. R. Souchon

Strahlenklinik

Allgemeines Krankenhaus Hagen gGmbH

Grünstr. 35

58095 Hagen

Publication History

Publication Date:
31 October 2003 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Eine im Vergleich zu anderen Organtumoren überaus große biologische Variabilität hinsichtlich der Progressionsrate und Prognose ist typisch für Karzinome der Harnblase. Sie wachsen häufig multifokal und weisen eine hohe Rate lokaler Rezidive auf. Daher gibt es für diese Tumoren eine Vielzahl gleich wirksamer therapeutischer Optionen. Dies kann die individuelle Therapieentscheidung erschweren. Die Behandlung hat jedoch grundsätzlich risikoadaptiert zu erfolgen und interdisziplinäre Ansätze einzubeziehen. Klinisch und molekulargenetisch sind dabei nichtinvasive frühe Stadien, also oberflächlich wachsende Karzinome mit guter Prognose, von stromainfiltrierenden invasiven fortgeschrittenen Stadien mit hohem Progressionsrisiko zu unterscheiden. Bei den Tumoren mit hohem Rezidiv- bzw. Progressionsrisiko ist ein multimodaler Ansatz zu favorisieren. Mit der Radio- bzw. Radiochemotherapie gibt es heute Alternativen zur radikalen Zystektomie, die es ermöglichen, nicht nur das Organ, sondern auch dessen Funktion zu erhalten. Aktuell gewonnene Kenntnisse molekulargenetischer pathophysiologischer Vorgänge sind derzeit jedoch noch nicht in klinische Therapiekonzepte integriert.

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Summary

In comparison with other organic tumours, carcinoma of the urinary bladder typically shows wide biological variability in terms of rate of progression and prognosis. It is often multifocal in nature and has a high local recurrence rate. It naturally follows from this that there is a multitude of equally effective therapeutic options for these tumours. This, of course, makes it difficult to decide on an individual form of treatment, which, however, must always be risk-adapted, and should always include interdisciplinary approaches. A clinical and molecular-genetic differentiation must be made between non-nvasive early stages, that is superficial carcinomas with a good prognosis, and invasive advanced stages infiltrating the stroma with a high risk of progression. In the case of tumours at high risk of recurrence or progression, a multimodal approach should be given preference. Today, radiotherapy or radiochemotherapy are alternative modalities to radical cystectomy that are capable of preserving not only the organ but also its function. Our current knowledge of molecular-genetic pathophysiological processes has, however, not yet been reflected in clinical implementation.

Mit etwa 6000 Todesfällen pro Jahr ist die Sterblichkeit beim Harnblasenkarzinom, das bei etwa 16000 Patienten pro Jahr in Deutschland neu diagnostiziert wird, im Vergleich zu der bei anderen Organmalignomen relativ gering. Als zweithäufigste urologische Malignomentität repräsentieren Harnblasenkarzinome einen Anteil von 3 % aller Malignome. Bei Frauen sind sie die vierthäufigste und bei Männern die sechsthäufigste Krebserkrankung. Der wesentliche exogene Risikofaktor in der Onkogenese dieser Tumorentität ist das Rauchen. Anders als beim Bronchialkarzinom besteht hier jedoch keine enge Dosis-Wirkungs-Beziehung: So ist das Risiko, ein Harnblasenkarzinom zu entwickeln, bei Rauchern „lediglich” um das Ein- bis Fünffache höher.

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Morphologie und Molekulargenetik

Harnblasenkarzinome weisen eine im Vergleich zu anderen Organtumoren überaus große biologische Variabilität hinsichtlich ihrer Progressionsrate, ihrer Prognose und hohe Raten an multifokalem Wachstum und lokalen Rezidiven auf. Die Ursache hierfür liegt in den molekulargenetischen Unterschieden, die das biologische Verhalten des Tumors definieren.

Nach heutigem Wissen und Verständnis sind Malignome genetische Erkrankungen, die an Chromosomen somatische Mutationen induzieren. Auch bei der molekularen Patho- bzw. Karzinogenese von Harnblasenkarzinomen sind Deletionen oder Genamplifikationen beteiligt. Tumorbegünstigende und -unterdrückende Genstrukturen (Onkogene bzw. Tumorsuppressorgene) vermitteln diese Akkumulationen genetischer Alterationen. Durch molekularbiologische Verfahren, wie der komparativen genomischen Hybridisierung, lassen sich so charakterisierende genetische Unterschiede zwischen oberflächlichen papillären ((p)TaG1), stromainvasiven ((p)T1) und muskelinvasiven (> (p)T1G3) Karzinomen feststellen [5].

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Urotheliale Schleimhautläsionen

Molekulargenetische Analysen haben Abweichungen des urothelialen Normalgewebes, die sich in Form von einfachen gegenüber papillären Hyperplasien und hoch differenzierten papillären Tumoren manifestieren, als klonale genetische Alterationen auf molekularer bzw. chromosomaler Ebene identifiziert. Solche Untersuchungen haben zu einer genaueren und klinisch hoch relevanten Abschätzung des malignen Potenzials urothelialer Schleimhautveränderungen geführt. Die neue WHO-Klassifikation (WHO = „World Health Organisation”) der Harnblasentumore berücksichtigt diese weitgehend und trägt dazu bei, die morphologische Diagnostik urothelialer Läsionen zu vereinheitlichen [5] [7] [8].

Klinisch bedeutsam ist der molekulargenetisch erbrachte Nachweis, dass auch papilläre Tumoren - entgegen früherer Einschätzungen - ein invasives Wachstum aufweisen können. Das eine schließt also das andere nicht aus, was in der aktuellen Tumorklassifikation nicht ausreichend berücksichtigt ist [5]. Neu in der aktuellen WHO-Klassifikation sind die Dysplasien und die Carcinomata in situ (CIS), die als nichtinvasive urotheliale Läsionen unter den malignen Tumoren aufgeführt werden [8]. Die Dysplasie gilt dabei als Vorstufe des Carcinomata in situ. Werden diese Läsionen bei Patienten mit Urothelkarzinomen peritumoral nachgewiesen, liegt ein ungünstiger Prognosefaktor vor.

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Urotheliale Karzinome

Unter den manifesten invasiv wachsenden Harnblasenmalignomen dominieren die Urothelkarzinome mit mehr als 90 %. Sie können eine heterologe Differenzierung aufweisen. Die übrigen sind Plattenepithelkarzinome oder Adenokarzinome. Urothelkarzinome entwickeln sich entweder aus papil-lären Tumoren mit hoher Differenzierung und geringem Progressionsrisiko oder - mehrheitlich - aus flachen urothelialen Läsionen wie dem Carcinomata in situ. Dann sind sie typischerweise nur gering differenziert.

Unter klinischen Aspekten sind der Differenzierungsgrad (Grading) und das invasive Wachstum (Tumorstadium) die wichtigsten Prognosefaktoren. Dies berücksichtigt die neue Klassifikation der WHO für die urothelialen Übergangskarzinome weitgehend [8]:

  • urotheliales Carcinoma in situ

  • papilläre urotheliale Neoplasie mit geringem malignen Potenzial („low malignant potential” = LMP, früher: (p)TaG1)

  • papilläres urotheliales Karzinom

  • infiltrierendes urotheliales Karzinom (G3).

Als Besonderheiten bei den Urothelkarzinomen der Harnblase kommen die intravesikale Multifokalität und die hohe Tendenz zur Rezidivierung hinzu. 5 % dieser Karzinome weisen zusätzliche Manifestationen in den kranialen Harnwegsabschnitten auf. Diese Eigenschaften sind typisch für diese Tumorentität. Sie werden zum einen durch einen als Feldkanzerisierung bezeichneten Prozess einer erhöhten urothelialen Kanzerogenexposition des gesamten Urothels erklärt. Auf der Basis einer Häufung von genetischen Schäden können sich dann multiple differente Zellklone ausbilden. Aber auch intraluminale oder intraepitheliale Verschleppungen von monoklonalen Tumorzellen können diese Phänomene auslösen [5].

Ob die Tumorzellen monoklonalen oder polyklonalen Ursprungs sind, ist für die Therapie und Prognoseabschätzung weniger von Bedeutung als die Information über die biologische Aggressivität des Tumorzellklons. Aggressiv bedeutet hierbei, dass er über die Fähigkeit zur Invasivität verfügt. Die überragende klinische Bedeutung der Invasion für die Therapie und Prognose macht deutlich, warum die weit verbreitete klinische Einteilung in oberflächliche (ohne Muskelinvasion) und in muskelinvasive Tumore nicht ausreichend präzise ist. Die Urothelkarzinome sind daher vielmehr in nichtinvasive Tumore mit guter bis mäßiger Differenzierung und in invasive Tumore, die wenig bzw. undifferenziert sind, einzuteilen.

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Klinische Symptomatik und Diagnostik

Das führende klinische Symptom, das bei über 80 % der Patienten auftritt, ist die schmerzlose Makrohämaturie. Diese ist unabhängig von der Größe oder dem Stadium des Tumors. Gelegentlich ist auch eine irritative Miktion der Anlass, auf ein Tumorgeschehen hin zu untersuchen.

Die Diagnostik bei symptomatischen Patienten sieht die klinische Untersuchung, Urinanalysen, eine Urinzytologie, eine Urethrozystoskopie und - als Bildgebungsverfahren - die Urografie sowie Sonografie des Abdomens/Retroperitoneums vor. Die Deutsche Krebsgesellschaft e.V. (DKG) hat das Vorgehen in einem interdisziplinären diagnostischen Algorithmus zusammengefasst [2]. Nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin ist der Wert so genannter diagnostischer Tumormarker noch nicht ausreichend zu beurteilen, sie sind kein Ersatz zur erforderlichen Zystoskopie [1]. Weitere Untersuchungsverfahren sind auszurichten am Ergebnis der obligat durchzuführenden transurethralen Elektroresektion mit Festlegung der T-Kategorie nach TNM-Klassifikation (TNM = Tumor, Nodi, Metastasen) und dem Tumordifferenzierungsgrad [8] [18] [20]:

  • Bei den oberflächlichen Tumoren (papilläres Karzinom, Ta, T1, CIS, Tis) - sie liegen bei 70 % der Patienten zum Zeitpunkt der Erstdiagnose des Harnblasenmalignoms vor - kann auf eine Ausbreitungsdiagnostik verzichtet werden. Hier steht die Diagnostik des lokalen Tumorgeschehens mit Bestimmungen der Infiltrationstiefe und des Differenzierungsgrades im Vordergrund. Spätestens sechs Wochen nach der diagnostischen und zugleich therapeutischen transurethralen Resektion sollte eine Nachresektion erfolgen, da insbesondere bei den schlecht differenzierten Tumoren in 20-40 % der Fälle damit zu rechnen ist, dass der Tumor persisiert.

  • Bei den (muskel-)invasiven Tumoren dienen die Computer- oder Magnetresonanztomografie als Zusatzverfahren, um die lokale bzw. lokoregionale Ausbreitung der Tumore zu beurteilen und eine Fernmetastasierung abzuklären.

Grundlage für die klinische Stadienzuordnung ist die TNM-Klassifikation der UICC („Union Internationale Contre le Cancer”) in der aktuellen Version [18] [20]. Bei der Festlegung des pathologischen Tumorstadiums darf eine pT-Kategorisierung jedoch nur nach Organresektion, also Zystektomie oder Blasenteilresektion, nicht also nach einer transurethralen Resektion, verwendet werden.

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Kasuistik

Eine 84jährige Patientin mit medikamentös behandlungspflichtigen kardialen Erkrankungen (koronare Herzerkrankung, arterielle Hypertonie, Herzrhythmusstörungen) wurde durch Makrohämaturie und darin begründeter Anämie klinisch auffällig. Zystoskopisch wurde ein lokal ausgedehntes, blutendes intravesikales Tumorgeschehen festgestellt, das histologisch als niedrig differenziertes Urothelkarzinom Grad III mit Infiltration der Muskulatur der Harnblasenwand diagnostiziert wurde.

Infolge der lokalen Tumorausdehnung konnte der Tumor jedoch auch mithilfe einer transurethralen Resektion nicht komplett entfernt werden. Bei fehlenden Hinweisen auf eine lokoregionale oder Fernmetastasierung wurde eine radikale Zystektomie als zu belastend beurteilt und auch von der Patientin nicht gewünscht. Alternativ erfolgte eine perkutane Radiotherapie mit der Applikation von 60 Gy, welche die Patientin mit radiogenen Akuttoxizitäten WHO Grad II tolerierte.

Die sechs Wochen später durchgeführten Biopsien im Rahmen einer zystoskopischen Kontrolle ergaben keinen Nachweis residueller Tumormanifestationen. Sieben Monate nach Therapieabschluss besteht eine verminderte Blasenkapazität mit einer konsekutiven Miktionsfrequenz von acht bis zehn pro 24 Stunden. Eine zystoskopische Kontrolle weist eine mäßig ausgeprägte, nicht behandlungspflichtige radiogene chronische Zystitis Grad II bei fehlendem Anhalt für einen Tumorrückfall nach.

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Therapie nichtinvasiver Tumoren

Bei den oberflächlichen nichtinvasiven Tumoren ist die transurethrale Resektion das primäre Therapieverfahren. Um zu verhindern, dass dabei losgelöste Tumorzellen Rezidive induzieren, ist es üblich, im Anschluss an die Resektion unmittelbar ein Zytostatikum intravesikal zu applizieren. Das weitere individuelle therapeutische Vorgehen erfolgt grundsätzlich risikoadaptiert und entsprechend der Zuordnung zu unterschiedlichen Risikogruppen:

  • Patienten mit primärem monofokalen Tumor (TaG1) haben ein niedriges Risiko.

  • Liegen multifokale Tumore, ein primärer TaG2-Tumor oder rezidivierte TaG1-Tumoren vor, besteht ein intermediäres Risiko.

  • Zur Hochrisikogruppe zählen alle Patienten mit TaG3-Tumoren oder höheren T-Stadien (CIS, T1-Tumoren).

Für alle Patienten - mit Ausnahme der Patienten mit TaG1-Tumoren - besteht die Indikation zur adjuvanten intravesikalen (topischen) Instillationstherapie. Diese wird mit Zytostatika (Mitomycin C, Doxorubicin) oder insbesondere bei G3- oder Rezidivtumoren mit einer Immuntherapie mit BCG (Bacillus-Calmette-Guérin) durchgeführt, ohne dass dafür Standards bezüglich ihrer Anwendungsdauer definiert sind. Als zusätzliche topische Therapie eignen sich photodynamische oder Kombinationsverfahren.

Mit ihrem hohen Progressions- und Rezidivrisiko sind T1G3-Tumoren als klinisch problematisch und als Sonderfall anzusehen. Unabhängige prognostische Faktoren sind hier zum einen Multifokalität aber auch die Anzahl der Tumormanifestationen [9]. Ob unter Organerhalt eine transurethrale Resektion mit adjuvanter topischer Therapie oder eine sofortige Zystektomie aussichtsreicher wären, darüber besteht derzeit kein Konsens.

Eine probate Alternative zur sofortigen Zystektomie ist die Kombination einer transurethralen Resektion (mit angestrebtem R0-Resektionsstatus) und einer anschließenden Radio- oder kombinierten Radio-/ Chemotherapie [4] [9]. Denn Urothelkarzinome sind radiosensibel, und mithilfe dieser Option ist sogar ein Organerhalt möglich [3] [4] [9] [12] [13] [14]. Außerdem berücksichtigt dieser Therapieansatz, dass Tumorzellen möglicherweise auch in tieferen (muskulären) Blasenwandschichten verborgen vorliegen können, welche die topische Behandlung nicht erfasst. Diese Tumordeposite sind jedoch der Ausgangspunkt für ein potenzielles Rezidiv- oder Progressionsgeschehen. Mit einer Radiotherapie werden sie kausal und effektiv behandelt [3] [4]. Prospektive randomisierte Studien zur Evaluation dieser Therapieoptionen liegen derzeit (noch) nicht vor.

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Therapie (muskel)invasiver Tumoren

Die Prognose dieser Tumoren hängt zum einen von der Infiltrationstiefe (T-Kategorie) zum anderen vom Therapieverfahren ab. Da die Tumoren bei über 90 % dieser Patienten innerhalb von zwei Jahren nach der Diagnose progredieren, ist ein früher Beginn der Behandlung wichtig. Als kurative Therapieoptionen stehen die radikale Zystektomie oder die auf Organerhalt ausgerichtete Kombination der transurethralen Resektion mit der nachfolgenden Radio- oder Radio-/Chemotherapie zur Verfügung [3] [12] [13] [14]. Bisher existiert jedoch noch kein prospektiver randomisierter Vergleich der beiden Therapiemodalitäten, daher sollte die Entscheidung aus einer interdisziplinär geführten Diskussion mit dem Patienten erwachsen.

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Radikale Zystektomie

Die radikale Zystektomie erfolgt obligat mit einer pelvinen Lymphadenektomie unter Erfassung der Fossa obturatoria und der externen iliakalen Lymphknoten. Das Ausmaß der Lymphadenektomie wird derzeit noch kontrovers diskutiert - insbesondere, wenn lokoregionale lymphonodale Metastasen vorliegen [11]. Beim Mann werden bei dieser Operation Prostata und Samenblasen, bei der Frau Uterus und Adnexen sowie der vordere Anteil der Vaginalwand neben dem tumortragenden Organ mitentfernt.

Die radikale Zystektomie ermöglicht bei initial bestehendem pN0-Status bei 60 % der Patienten eine Heilung [15]. Sie ist außerdem ein sicheres Therapieverfahren: Die perioperative Mortalität beträgt 0,3 %, und Komplikationen vom WHO Grad III kommen in weniger als 5 % der Fälle vor. Liegt bereits eine lokoregionale lymphonodale Metastasierung vor, verschlechtert sich die Prognose - abhängig vom Ausmaß der Metastasierung - deutlich. Die Mehrzahl dieser Patienten verstirbt innerhalb von drei Jahren am Tumorprogress [10] [16] [17].

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Radio- und Radio-/Chemotherapie

Die durch alleinige Radiotherapie erreichten Ergebnisse in historischen Serien bis 1985 lagen mit Fünf-Jahres-Überlebensraten von 10-15 % niedriger als die der radikalen Zystektomie. Anders ist dies bei den Studien, die nach 1985 veröffentlicht wurden: Demnach ist die Radio- bzw. Radio-/Chemotherapie bezüglich des Überlebens und der Progressionsfreiheit ähnlich effektiv wie eine radikale Zystektomie. Die scheinbar schlechte(re)n Ergebnisse dürften auf offenkundige Selektionsmechanismen mit negativen Auswirkungen für die Radiotherapie zurückzuführen sein: So wurden bei den Operationsserien nur operable Patienten mit a priori besserer Prognose berücksichtigt. Die Radiotherapieserien dagegen schlossen auch funktionell inoperable Patienten ein [19].

Entscheidende Gründe für die derzeit identischen Resultate beider Therapiemodalitäten sind der zuvor „falsche” Einsatz der Radiotherapie [10] und die Kombination mit einer systemischen Chemotherapie: Früher galt die Radiotherapie als einzige Modalität und wurde ohne vorangegangene transurethrale Resektion zur kompletten Resektion eingesetzt. Eine ungenügende operative Therapie jedoch reduziert die Heilungschancen resektabler Tumoren ((p)T2).

Seit 1985 erhalten die Patienten synchron zur Radiotherapie zusätzliche systemische antineoplastische Zytostatika (Cisplatin, 5-Fluororuracil = 5-FU) [3] [4] [10] [12] [13] [14] [15]. Durch die simultane Chemotherapie gelang es, die lokalen Tumorkontrollraten im Vergleich zur alleinigen Bestrahlungstherapie signifikant zu verbessern - insbesondere bei primär inoperablen Tumoren [12] [14].

Eine Radio- bzw. Radio-/Chemotherapie sollte in Abhängigkeit vom Resektionsstatus nach transurethraler Resektion nach zwei bis sechs Wochen aufgenommen werden. Eine vorgeschaltete Chemotherapie bringt keinen zusätzlichen Vorteil, erhöht jedoch die hämatologischen und nichthämatologischen Toxizitäten [15]. Die perkutan zu applizierende Bestrahlungsdosis muss mindestens 50(-60) Gy betragen.

Ist nach einer Resektion ein R0-Status erreicht, wird eine parallel zur Radiotherapie durchzuführende synchrone Chemotherapie empfohlen. Bei „sicherer” R0-Resektion kann auf diese jedoch - abhängig von individuellen Faktoren - gegebenenfalls verzichtet werden. Obligat ist ein sechs Wochen nach Therapieabschluss vorzunehmendes Restaging mit Biopsie. Sollte dabei ein invasiver residueller Tumor entdeckt werden, ist eine Salvage-Zystektomie erforderlich. Dies gilt auch, wenn zu einem späteren Zeitpunkt ein invasives Rezidiv nachgewiesenen wird.

Mögliche Nebenwirkungen, die auf die Radiotherapie zurückzuführen sind, sind nach Akut- und Spätfolgen zu differenzieren. Eine radiogene akute Zystitis beispielsweise tritt typischerweise in der zweiten Hälfte der Behandlung auf und erreicht in 5-10 % der Fälle einen WHO-III- und in 1-2 % einen WHO-IV-Grad. Schwere radiogene Spätfolgen (WHO III-IV) mit reduzierter Blasenkapazität und Miktionsintervallen von weniger als zwei Stunden, eine Schrumpfblase oder Darmstenosen treten bei 3-5 % der Patienten auf. Von chronischen Zystitiden oder Enteritiden sind 3 % der Patienten betroffen [6] [10].

Vier randomisierte Studien verglichen eine präoperative Radiotherapie mit nachfolgender Zystektomie mit einer alleinigen Radio- bzw. Radio-/Chemotherapie [3]. Dabei ergaben sich keine Vorteile für die radikale Zystektomie. Eine präoperative Radiotherapie kann die Ergebnisse einer nachfolgenden radikalen Zystektomie nicht verbessern, sodass diese Kombination kein Standardverfahren darstellt. Demgegenüber kann nach nicht in sano erfolgter radikaler Zystektomie (R1- oder R2-Resektionsstatus) eine postoperative Radio- oder Radio-/Chemotherapie zu einer lokalen Tumorkontrolle führen. Die Datenlage hierzu ist jedoch begrenzt, sodass ein solches Vorgehen jeweils individuell und interdisziplinär zu entscheiden ist.

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Individuelle Therapiestrategie

Zur Kuration nichtinvasiver T1G3-Tumoren bzw. sonstiger T1-Tumoren mit ungünstigen Prognosefaktoren stehen unter dem Aspekt der Organ- und Funktionserhaltung als Alternative zur radikalen Zystektomie sowohl die transurethrale Resektion mit adjuvanter topischer Therapie als auch eine Radio- bzw. Radio-/ Chemotherapie zur Verfügung.

Bei (muskel)invasiven Tumoren ist die Kombination der transurethralen Resektion mit einer Radio-/ Chemotherapie eine Alternative zur radikalen Zystektomie. Damit kann bei 75-80 % der Patienten auf eine Zystektomie verzichtet werden. Hervorzuheben sind auch die günstigen Langzeitergebnisse mit normaler Blasenfunktion bei 75 % der Patienten auch nach fünf Jahren [10]. Prognostisch günstig sind bei dieser Option ein durch die vorangehende Resektion erreichter R0-Status, die Durchführung als primäre Therapie und die Kombination der Radio- mit einer synchronen Chemotherapie. Zudem kann nach nicht in sano vorgenommener radikaler Zystektomie durch eine postoperative Radio-/ Chemotherapie die Chance auf Kuration gewahrt werden.

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Literatur

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  • 20 UICC . TNM-Klassifikation maligner Tumoren. Wittekind C, Meyer HJ, Bootz F (Hrsg). 6. Auflage.  Berlin, Heidelberg, New York: Springer. 2002; 
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Glossar

Dysplasie

infolge einer gestörten morphologischen Gewebe- bzw. Organentwicklung auftretende Fehlbildung, beispielsweise in Form einer Umwandlung von Epithel mit resultierender Entdifferenzierung im Sinne eines intraepithelialen Karzinoms

Feldkanzerisierung

Prädisposition einer geschädigten Gewebsregion, multiple Malignome zu entwickeln

Genamplifikation

selektive Vervielfachung eines bestimmten Gens, beispielsweise eines Tumorsuppressor- oder eines Onkogens

Gray (Gy)

Einheit der Energiedosis (1 Gy = 1 Joule/kg); Maßeinheit für die Dosierung und Fraktionierung der Strahlung bei einer Radiotherapie

Klon

genetisch identische Nachkommen, die von einem Mutterorganismus (Zelle, Einzeller) abstammen

komparative genomische Hybridisierung

ein auf dem Vergleich von DNA-Strängen beruhendes Untersuchungsverfahren zur Identifizierung von Genen oder ihren Teilabschnitten

monoklonal

von einer (tumorös alterierten) Zelle abstammende Tochterzellen

polyklonal

von mehreren genetisch unterschiedlichen (tumorös alterierten) Zellen abstammende Nachfahren

photodynamische Therapie

lokales Behandlungsverfahren von urothelialen Tumoren mithilfe eines Lasers unter Ausnutzung spezifischer Absorptionen photosensitiver Substanzen. Die somit angeregten Substanzen entfalten eine lokale zytotoxische und somit antineoplastische Wirkung

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Anschrift des Verfassers

PD Dr. R. Souchon

Strahlenklinik

Allgemeines Krankenhaus Hagen gGmbH

Grünstr. 35

58095 Hagen

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Literatur

  • 1 Boman H, Hedelin H, Holmang S. Four bladder tumor markers have a disappointingly low sensitivity for small size and low grade recurrence.  J Urol. 2002;  167 80-83
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  • 17 Skinner DG, Stein JP, Lieskovsky G. et al. . 25-year experience in the management of invasive bladder cancer by radical cystectomy.  Eur Urol. 1998;  33 25-26
  • 18 Sobin LH, Wittekind Ch. UICC: TNM classification of malignant tumours. Sixth edition 2002.  Wiley-Liss. Inc. 2002; 
  • 19 Stein JP, Lieskovsky G, Cote R. et al. . Radical cystectomy in the treatment of invasive bladder cancer: long-term results in 1.054 patients.  J Clin Oncol. 2001;  19 666-675
  • 20 UICC . TNM-Klassifikation maligner Tumoren. Wittekind C, Meyer HJ, Bootz F (Hrsg). 6. Auflage.  Berlin, Heidelberg, New York: Springer. 2002; 
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Glossar

Dysplasie

infolge einer gestörten morphologischen Gewebe- bzw. Organentwicklung auftretende Fehlbildung, beispielsweise in Form einer Umwandlung von Epithel mit resultierender Entdifferenzierung im Sinne eines intraepithelialen Karzinoms

Feldkanzerisierung

Prädisposition einer geschädigten Gewebsregion, multiple Malignome zu entwickeln

Genamplifikation

selektive Vervielfachung eines bestimmten Gens, beispielsweise eines Tumorsuppressor- oder eines Onkogens

Gray (Gy)

Einheit der Energiedosis (1 Gy = 1 Joule/kg); Maßeinheit für die Dosierung und Fraktionierung der Strahlung bei einer Radiotherapie

Klon

genetisch identische Nachkommen, die von einem Mutterorganismus (Zelle, Einzeller) abstammen

komparative genomische Hybridisierung

ein auf dem Vergleich von DNA-Strängen beruhendes Untersuchungsverfahren zur Identifizierung von Genen oder ihren Teilabschnitten

monoklonal

von einer (tumorös alterierten) Zelle abstammende Tochterzellen

polyklonal

von mehreren genetisch unterschiedlichen (tumorös alterierten) Zellen abstammende Nachfahren

photodynamische Therapie

lokales Behandlungsverfahren von urothelialen Tumoren mithilfe eines Lasers unter Ausnutzung spezifischer Absorptionen photosensitiver Substanzen. Die somit angeregten Substanzen entfalten eine lokale zytotoxische und somit antineoplastische Wirkung

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Anschrift des Verfassers

PD Dr. R. Souchon

Strahlenklinik

Allgemeines Krankenhaus Hagen gGmbH

Grünstr. 35

58095 Hagen