Gesundheitswesen 2003; 65(10): 537-541
DOI: 10.1055/s-2003-43004
Festvortrag
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Welchen Nutzen haben Präventions- und Rehabilitationsforschung für die Gesundheitspolitik?

Festvortrag anlässlich der Eröffnung des Zentrums für Prävention und Rehabilitation der Universität LeipzigWhat Does Prevention and Rehabilitation Research Contribute to Health Policy?J. Siegrist1
  • 1Institut für Medizinische Soziologie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
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Publication Date:
22 October 2003 (online)

Gründungsfeiern sind Zeichen des Gestaltungswillens, Akte des Versprechens, einen neuen Weg zu gehen. Solche Zeichen und Akte sind besonders wichtig in einer Zeit, die von gesellschaftspolitischer Stagnation, wenn nicht sogar Resignation gekennzeichnet ist, und dies angesichts eines wachsenden Problemdrucks. Besonders deutlich wird dieser Problemdruck im Gebiet der Gesundheitspolitik.

Wir haben uns in den Jahrzehnten der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg daran gewöhnt, Gesundheitspolitik als ein relativ eng abgegrenztes Politikfeld zu betrachten, in dem Leistungsanbieter und Kassen im Rahmen gesetzlicher Vorgaben und verfügbarer öffentlicher Mittel Verteilungsprozesse aushandeln. Gesundheitspolitik in Deutschland hat sich vorwiegend in dem Dreieck Leistungsrecht bzw. Ausbau von Versorgungsstrukturen - Wirtschaftlichkeit bzw. Kostendämpfung sowie Ordnungspolitik bewegt. Letztere ist in einem Gesundheitswesen von besonderer Dringlichkeit, das durch die Strukturmerkmale des Föderalismus, des Pluralismus der Träger, des Korporatismus der Verbände der Leistungserbringer sowie einer ausgeprägten Sektorisierung der Versorgung geprägt ist.

Zweifellos hat die deutsche Gesundheitspolitik in Ost und West eindrucksvolle Entwicklungen einer bedarfsgerechten medizinischen Versorgung der Bevölkerung ermöglicht, um die uns viele andere Staaten beneiden. Dennoch lässt sich nicht bestreiten, dass die Ausgaben für Gesundheit in einem schwer zu akzeptierenden Ausmaß steigen, dass der Gesundheitszustand mancher Bevölkerungsgruppen vermeidbare Mängel aufweist, dass soziale Ungleichheiten von Krankheit und frühem Tod auch hierzulande bestehen und dass die Wirksamkeit eines gewaltigen Leistungsaufwands der kurativen Medizin in manchen Bereichen nicht überzeugend belegt ist.

All dies legt nahe, Gesundheitspolitik weiter zu fassen, d. h. - dem Beispiel Kanadas und der Weltgesundheitsorganisation folgend - ziel- und ergebnisorientiert sowie intersektoral zu gestalten. Dabei bedeutet Zielorientierung die bindende Festlegung von Prioritäten der Gesundheitspolitik in der Absicht, die Mittelverteilung in den Dienst einer Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung zu stellen. Und mit der Ergebnisorientierung wird gefordert, die Leistungsstatistik im Gesundheitswesen um eine systematische Evaluation von Wirkungen medizinischer Maßnahmen zu ergänzen, um Erfolge und Misserfolge, Über- und Unterversorgung sowie Entwicklungsbedarf zu identifizieren. Eine solche, häufig als rational bezeichnete Gesundheitspolitik sollte schließlich intersektoral angelegt sein, d. h. die Zuständigkeiten einzelner Fachressorts von Behörden überschreiten und problemorientierte Kooperation ermöglichen. In diesem Verständnis umfasst Gesundheitspolitik auch Aspekte beispielsweise der Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik, der Verkehrs-, Umwelt- und Agrarpolitik.

Rationale Gesundheitspolitik erfordert eine enge Zusammenarbeit von Politik und Wissenschaft, insbesondere in den Gebieten Public Health und Gesundheitsökonomie. Dies lässt sich m. E. im Bereich der Präventions- und Rehabilitationsforschung überzeugend darstellen. Gestatten Sie mir, dies am Beispiel zweier weit verbreiteter chronischer Krankheiten etwas genauer auszuführen, der koronaren Herzkrankheit und der Depression. Diese beiden Krankheitsbilder werden nach einer Hochrechnung der WHO im Jahr 2020 weltweit an der Spitze der Ursachen vorzeitigen Todes und der durch Behinderung eingeschränkten Lebensjahre stehen [1]. An koronaren Herzkrankheiten, d. h. Angina pectoris, Herzinsuffizienz, akutem Herzinfarkt und plötzlichem Herztod, werden voraussichtlich 40 % aller 40-jährigen gesunden Männer und 30 % aller 40-jährigen gesunden Frauen im weiteren Verlauf ihres Lebens sterben, und dies, obwohl die Herz-Kreislauf-Mortalität seit einigen Jahren rückläufig ist. Schätzungsweise etwa fünf Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer klinisch bedeutsamen depressiven Symptomatik und etwa 15 % aller an Depression Erkrankten sterben infolge eines Suizids [2].

Auf die geschätzten direkten und indirekten Kosten dieser beiden Krankheitsbilder brauche ich nicht im Einzelnen einzugehen, da der kurative und rehabilitative Aufwand, der Umfang verlorener Arbeitsproduktivität und krankheitsbedingter Frühberentung im Allgemeinen bekannt sind. Nur zwei Zahlen mögen dies verdeutlichen. Mitte der 90er-Jahre wurden in Deutschland 11 Millionen Ausfalltage durch depressive Krankheiten registriert und über 18 000 Frühberentungen pro Jahr wurden aufgrund depressiver Erkrankungen bewilligt [3].

Aber nicht nur die Höhe der kollektiven Krankheitslast und ihrer Kosten, sondern auch der Nutzen erwartbarer Erfolge präventiver und rehabilitativer Maßnahmen bildet ein wichtiges Entscheidungskriterium gesundheitspolitischer Mittelallokation.

Besteht womöglich ein wesentlicher Grund für die Präventionsresistenz des deutschen Gesundheitssystems darin, dass die erwartbaren Erfolge präventiver Maßnahmen bezweifelt werden? Oder kann es andererseits sein, dass der Nutzen primär- und sekundärpräventiver Maßnahmen noch gar nicht erkannt und öffentlichkeitswirksam bewusst gemacht worden ist? In beiden Fällen ist die Wissenschaft aufgefordert, Evidenz zu schaffen. In besonderem Maße gilt dies für eine interdisziplinär angelegte, medizinnahe sozial- und verhaltenswissenschaftliche Präventions- und Rehabilitationsforschung, wie sie in dem heute zu eröffnenden Zentrum an der Universität Leipzig realisiert werden soll.

Bevor ich anhand von Beispielen auf solche Evidenz eingehe, scheinen drei terminologische Vorbemerkungen sinnvoll. Erstens werde ich nachfolgend keine strikte Trennung zwischen den Begriffen primäre Prävention und Gesundheitsförderung vornehmen, wie dies oft von Vertretern der Gesundheitswissenschaften gefordert wird. Man sagt, Prävention sei enger gefasst und beziehe sich lediglich auf die Verhinderung einer bestimmten Krankheit, während Gesundheitsförderung allgemeine, krankheitsübergreifende, so genannte salutogene Potenziale betreffe. In der Praxis ist es jedoch so, dass Risiko- und Schutzfaktoren häufig mehrere chronische Krankheiten beeinflussen können. Dies gilt auf der biologischen Ebene (z. B. Antioxidantien), auf der Verhaltensebene (z. B. Übergewicht oder Rauchen) ebenso wie auf der Ebene psychologischer Faktoren (z. B. Selbstwirksamkeit) oder sozialer Faktoren (z. B. niedrige soziale Schicht, sozialer Rückhalt).

Zweitens werde ich auf eine scharfe Grenzziehung zwischen sekundärer und tertiärer Prävention verzichten und von sekundärer Prävention überall dort sprechen, wo definierte subklinische oder klinische Krankheitsprozesse und -manifestationen an ihrem Fortschreiten gehindert werden sollen. In dieser Sichtweise sind manche Maßnahmen medizinischer Rehabilitation zugleich sekundärpräventiver Natur.

Drittens schließlich sollen drei Ebenen der Prävention unterschieden werden, die individuelle, die gruppenbezogene und die strukturelle Ebene, wobei gruppenbezogene Maßnahmen danach unterschieden werden können, ob sie auf bestimmte Risikopopulationen oder aber auf breitere Bevölkerungsschichten angewandt werden.

Die ersten Beispiele betreffen die Sekundärprävention der koronaren Herzkrankheit, und zwar die verhaltensmedizinische Beeinflussung des Lebensstils von Postinfarktpatienten und -patientinnen. Bereits vor mehreren Jahren haben amerikanische Forscher um Dean Ornish gezeigt, dass anhand einer radikalen Änderung des Lebensstils, unter Anleitung von Experten, eine signifikante Regression der Koronaratherosklerose erreicht werden kann [4]. Diese Rückbildung ist bereits nach einem Jahr sichtbar, besonders eindrucksvoll jedoch nach vierjähriger Beobachtungsdauer. Die Lebensstiländerung umfasst eine äußerst fettarme, an Antioxidantien reiche Ernährung, tägliche Yogaübungen, regelmäßige körperliche Bewegung, vollständigen Rauchverzicht sowie den Aufbau eines starken sozioemotionalen Zusammenhalts in der Gruppe.

Wenn man die Programmkosten dieser Intervention mit den vermiedenen Kosten aufgrund von Bypassoperationen und fortgesetzt medikamentöser Therapie vergleicht, lässt sich eine deutliche ökonomische Einsparung feststellen, ganz abgesehen von dem substanziellen Zugewinn an Lebensqualität, Energie und Zuversicht bei den Patienten. Die Studie ergab nämlich, dass in der Kontrollgruppe nach fünf Jahren mehr als doppelt so viele kardiale Ereignisse eingetreten waren wie in der Interventionsgruppe und dass Patienten der Kontrollgruppe eher als Patienten der Experimentalgruppe eine koronare Angioplastie oder eine Bypassoperation durchführen ließen [5].

Man hat den Autoren dieser Studie vorgeworfen, dass nur eine verschwindend kleine Gruppe von Infarktpatienten zu einer so radikalen Umstellung ihres Lebensstils bereit und in der Lage sei und dass sich die Lebenssituation sowie die medizinische Versorgung in Kalifornien nicht auf die Standardsituation der deutschen kardiologischen Rehabilitation übertragen ließen. Das erste Argument ist sicher bedenkenswert: Hier ging es darum, die Wirkung einer Pionierleistung zu überprüfen. Allerdings hat ein amerikanischer Lebensversicherungskonzern zwischenzeitlich dieses Programm in sein Angebot an Versicherte übernommen und mehrere hundert Patientinnen und Patienten haben inzwischen an einer umfangreichen multizentrischen klinischen Studie zu den Auswirkungen dieser Lebensstiländerung auf die Koronargesundheit mitgewirkt [6].

Auch der zweite Einwand ist nicht wirklich stichhaltig. So hat ein Team unseres medizinsoziologischen Instituts an der Universität Düsseldorf vor einigen Jahren gezeigt, dass diese weitreichende Lebensstiländerung bei einer hochmotivierten Infarktgruppe auch in der stationären und anschließend ambulanten Rehabilitationsphase in einem großstädtischen Einzugsgebiet in Deutschland erreicht werden kann [7]. Bei den Patienten wurden, im Vergleich zu einer konventionell rehabilitierten Patientengruppe, signifikante Verbesserungen der kardialen Symptomatik, des Lipidprofils und wichtiger Aspekte gesundheitsbezogener Lebensqualität erzielt.

Vor zehn Tagen erst sind im American Journal of Cardiology die Ergebnisse einer Multizenterstudie in acht amerikanischen Kliniken veröffentlicht worden, in der sich 440 männliche und weibliche Koronarpatienten dem erwähnten Lebensstiländerungsprogramm unterzogen haben. Wiederum konnten bei den meisten relevanten biomedizinischen, verhaltensbezogenen und psychosozialen Parametern deutliche Verbesserungen erzielt werden. So wurde beispielsweise die Rate pektanginöser Beschwerden bei Männern von 42 auf 20 % und bei Frauen von 53 auf 27 % gesenkt. Und wiederum waren die durch vermiedene Revaskularisierung eingesparten Kosten in einem Dreijahreszeitraum beträchtlich [6].

Somit liegen mindestens zwei medizinisch, psychosoziologisch und gesundheitsökonomisch evaluierte Interventionsstudien zu günstigen Effekten einer komprehensiven verhaltensmedizinischen Lebensstiländerung auf die koronare Herzkrankheit vor. Und eine dritte Studie hat gezeigt, dass diese Maßnahmen auch im Kontext kardiologischer Rehabilitation in Deutschland, zumindest bei hochmotivierten Patienten, durchführbar sind.

Auch nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass noch immer jede dritte Erstmanifestation eines akuten Herzinfarkts tödlich endet, muss Prävention früher, d. h. im primären Bereich, ansetzen. Neben verhaltensbezogenen kommunalen Programmen primärer Prävention und neben Maßnahmen, die sich gezielt an Hochrisikogruppen richten, muss auch die Verhältnisprävention, d. h. die Veränderung von Strukturen, Organisationsabläufen oder die Einführung von Gesetzen zur Förderung der Herz-Kreislauf-Gesundheit, berücksichtigt werden. Hier denke ich in erster Linie an die Arbeitswelt, d. h. die betriebliche Gesundheitsförderung bei Beschäftigten verschiedener Altersgruppen. Dies legen zumindest neue Erkenntnisse aus betriebsepidemiologischen Untersuchungen nahe. Von welchen neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen ist hier die Rede?

Ergebnisse aus mehr als einem Dutzend umfangreicher, an vielen tausend Beschäftigten vorgenommenen und über längere Zeiträume realisierten epidemiologischen Studien haben überzeugend belegt, dass bestimmte Formen von chronischem Stress am Arbeitsplatz zu einer Risikoverdoppelung des Herzinfarkts führen [8]. Diese Ergebnisse konnten allerdings erst erzielt werden, nachdem es der Forschung gelungen war, anhand theoretischer Modelle das unübersichtliche „Gestrüpp” psychosozialer Einflussfaktoren am Arbeitsplatz zu lichten und auf die stressphysiologisch entscheidenden Dimensionen zu reduzieren. Zwei Modelle haben dies auf erfolgreiche Weise getan: das sog. Anforderungs-Kontroll-Modell und das Modell des Verausgabungs-Belohnungs-Ungleichgewichts, auch Modell beruflicher Gratifikationskrisen genannt.

Das erste, von dem amerikanischen Soziologen Robert Karasek entwickelte Modell besagt, dass chronischer Stress an solchen Arbeitsplätzen vermehrt zu erwarten ist, die durch das Zusammentreffen von hohem Zeitdruck bzw. hoher Arbeitsverdichtung und geringem Entscheidungs- und Kontrollspielraum bei der Aufgabendurchführung gekennzeichnet sind [9]. Klassisches Beispiel ist die Fließbandarbeit. Aber auch manche statusniedrigen Dienstleistungsaufgaben sind durch ein solches Anforderungsprofil gekennzeichnet. Wer tagtäglich unter diesen Bedingungen seine Arbeit verrichtet, schüttet - oft unbemerkt - mehr Stresshormone aus als derjenige, der trotz eines hohen Drucks mehr Autonomie, Gestaltungsfreiraum und auch Kreativität bei der Arbeit erlebt. Langfristig schlägt sich dies in einer erhöhten Herzinfarktgefährdung nieder, da auch Blutdruck, Blutfette, Blutgerinnung und Entzündungsvorgänge an den Innenwänden der Herzkranzgefäße durch die vermehrten Stresshormone gesteigert werden.

Das zweite, von unserer Arbeitsgruppe entwickelte theoretische Modell zur Erfassung von Arbeitsstress befasst sich mit dem Ungleichgewicht zwischen Verausgabung und Belohnung bei der Arbeit [10]. Arbeitsleistung wird als Teil eines gesellschaftlichen Vertrags erbracht, der nach dem Grundsatz der Reziprozität gestaltet ist. Wenn nun einer hohen Verausgabung keine angemessenen Belohnungen gegenüberstehen, entsteht eine sog. Gratifikationskrise, d. h. eine stressphysiologisch bedeutsame Erwartungsenttäuschung, die das Selbstwertgefühl schmälert und starke negative Emotionen der Verärgerung und Irritierung hervorruft. Es ist wichtig zu betonen, dass in dem Modell drei Arten von Belohnungserfahrungen unterschieden werden: Geld, Anerkennung und beruflicher Aufstieg einschließlich Arbeitsplatzsicherheit. Erst die ungünstige Bilanz zwischen dem Gesamt an geleisteter Verausgabung und erfahrener Gratifikation führt zu stressbedingten Krankheiten.

Wir haben drei Bedingungen identifiziert, unter denen die im Modell postulierten krankheitswertigen Gratifikationskrisen im modernen Erwerbsleben vermehrt zu erwarten sind: 1. bei Verknappung des Arbeitsplatzangebots, insbesondere bei Erwerbstätigen, die aufgrund geringer Qualifikation oder geringer Mobilität keine Arbeitsplatzalternativen haben; 2. bei Personen, die aus strategischen Gründen hohe Investitionen in ihre Arbeit leisten, beispielsweise, um Vorteile für die spätere Karriere zu erzielen; 3. schließlich bei Personen, die sich aufgrund einer persönlichen „Veranlagung” bei der Arbeit selbst überfordern, d. h. eine übersteigerte berufliche Verausgabungsbereitschaft aufweisen.

Besonders eindrucksvoll sind, neben vielen anderen Befunden zu diesen beiden Modellen, die Ergebnisse einer vor kurzem im British Medical Journal veröffentlichten Studie aus Finnland, bei der die Herz-Kreislauf-Sterblichkeit einer Gruppe von Industriearbeitern über 25 Jahre hinweg in Abhängigkeit vom Ausmaß der Stressbelastung am Arbeitsplatz analysiert wurde [11]. Die Forscher fanden für jedes der beiden beschriebenen Stressmodelle eine 2,2- bzw. 2,4fache Erhöhung des relativen Mortalitätsrisikos gegenüber den Arbeitern, die von den zu Beginn gemessenen Stressbelastungen am Arbeitsplatz nicht betroffen waren. Diese nach statistischer Kontrolle bekannter koronarer Risikofaktoren ermittelten Zusammenhänge sind ähnlich stark wie der Zusammenhang zwischen Zigarettenrauchen und Herz-Kreislauf-Sterblichkeit. Während der zuletzt genannte Zusammenhang zu den fest etablierten Themen jeder ärztlichen Behandlung gehört, sind diese neuen Erkenntnisse, zumindest in Deutschland, noch weitgehend unbekannt, geschweige denn ein Thema der betrieblichen Gesundheitsförderung.

Die Bedeutung dieser neuen Befunde wird noch dadurch gesteigert, dass ähnlich starke Zusammenhänge zwischen psychosozialen Arbeitsbelastungen, wie sie anhand der beiden beschriebenen Modelle gemessen werden, und depressiven Erkrankungen nachgewiesen wurden [12]. Nicht nur in Deutschland, Großbritannien sowie einigen zentral- und osteuropäischen Ländern, sondern selbst in Japan zeigte sich eine erhöhte Rate depressiver Symptome bei Beschäftigten, die unter den beschriebenen beruflichen Gratifikationskrisen litten. Erinnert man sich an die eingangs getroffene Feststellung der Weltgesundheitsorganisation über die weltweite Bedeutung der beiden hier exemplarisch behandelten Krankheitsbilder, so wird die Dringlichkeit präventiver Maßnahmen im Erwerbsleben weiter unterstrichen.

Dass man betriebliche Gesundheitsförderung auf der Grundlage theoretischer Modelle erfolgreich gestalten kann, zeigen wiederum neue Befunde aus Schweden. Dort sind in Interventionsstudien Arbeitsaufgabenprofile bei Angestellten in großen Verwaltungsorganisationen nach dem Prinzip des job enrichment und job enlargement systematisch verändert worden. Im Vergleich zu Angestellten mit unveränderten Arbeitsplätzen wiesen die Beschäftigten nach einem Jahr signifikant weniger psychosomatische Beschwerden, einen geringeren Medikamentenkonsum und eine um 50 % verringerte durchschnittliche Fehlzeitendauer auf [9]. Eine weitere Studie zeigt, dass das die Atherosklerose befördernde Blutfettmuster in der Interventionsgruppe über Monate hinweg niedrig gehalten werden konnte, während es in der Kontrollgruppe anstieg. Schließlich ist ein aktuelles Ergebnis aus einer von dem bekannten schwedischen Stressforscher Töres Theorell durchgeführten Studie zu nennen. Hierbei wurden Führungskräfte eines Versicherungsunternehmens über Monate hinweg systematisch in Stressmanagement und verbessertem Führungsverhalten geschult. Interessanterweise sanken danach die Stresshormonausscheidungen bei den Untergebenen deutlich ab. Man kann sich gut vorstellen, dass eine verbesserte innerbetriebliche Anerkennungskultur zu diesem Ergebnis beigetragen hat [13].

Angesichts der Tatsache, dass die volkswirtschaftlichen Kosten von Arbeitsstress, neueren Studien zufolge, auf 1,2 bis 1,5 % des Bruttoinlandsprodukts beziffert werden, sind jüngste betriebswirtschaftliche Erkenntnisse aus den USA von besonderer Aktualität, wonach gesundheitsförderlich gestaltete Unternehmen einen erhöhten shareholder value abwerfen [14]. Solche Einsichten lassen hoffen, dass die zuvor referierten wissenschaftlichen Ergebnisse eines Tages Eingang in die raue Wirklichkeit des business life finden werden, indem die Förderung der Qualität der Arbeit zu einem der obersten Unternehmensziele erklärt wird.

Ein andersartiger, nicht minder wichtiger Bereich primärpräventiver Maßnahmen, die von einer medizinnahen verhaltens- und sozialwissenschaftlich ausgerichteten Forschung mit inspiriert wird, betrifft den Kampf gegen die Volkskrankheit Depression. Exemplarisch möchte ich hier das international wohl herausragende Nürnberger Projekt unter Leitung des Münchner Psychiaters Ulrich Hegerl nennen [15]. Ziel des „Nürnberger Bündnisses gegen Depression” sind eine koordinierte Verbesserung der Früherkennung und Behandlung depressiver Patienten insbesondere durch Hausärzte, eine verstärkte Aufklärung der Öffentlichkeit über die Krankheit und ihre Behandlungsmöglichkeiten, eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit Multiplikatoren (z. B. Pfarrer, Lehrer, Altenpflegekräfte) und ein Ausbau des Betreuungsangebots für Betroffene und Angehörige. Bereits nach 12 Monaten konnten eine Reduktion der Suizidrate um 25 % und eine Reduktion der Suizidversuche um 21 % erzielt werden. Interessant ist die Feststellung, dass die Rate der Suizidversuche in einer Vergleichskommune, in Würzburg, im selben Zeitraum um 15 % anstieg. Noch ist es zu früh, den Programmnutzen bezüglich weiterer (auch gesundheitsökonomischer) Parameter zu beurteilen, aber der eindrucksvolle Implementationserfolg zeigt, welche Potenziale der primären Prävention in unserem deutschen Gesundheitssystem noch verborgen sind.

Dass bestimmte Bevölkerungsgruppen bereits von früher Kindheit an einen hohen Bedarf an präventiver Zuwendung haben, zeigen unter anderem die nachdenklich stimmenden Ergebnisse der weltweit wohl einzigartigen schwedischen Längsschnittstudie zu Sterberisiken von Kindern Alleinerziehender, die in diesem Frühjahr in der Zeitschrift Lancet veröffentlicht wurden [16]. Danach ist das Risiko der über 65 000 6- bis 18-jährigen Kinder Alleinerziehender in Schweden, in den nachfolgenden acht Jahren zu sterben oder an schweren Gesundheitsstörungen zu leiden, im Vergleich zu den über 900 000 Kindern, die in vollständigen Familien aufwachsen, deutlich erhöht. Um nur zwei Indikatoren zu nennen, erhöht sich das Risiko bei Kindern Alleinerziehender bezüglich eines frühen Suizids um 140 % bei Mädchen und um 80 % bei Jungen und bezüglich des Auftretens schwerer alkoholbedingter Gesundheitsstörungen um 140 % bei Mädchen und 120 % bei Jungen.

Selbstverständlich lässt sich ein gesellschaftlicher Trend zur Destabilisierung von Ehe und Familie nicht aufhalten, aber man wird doch fragen dürfen, ob es hinnehmbar ist, dass beispielsweise in Deutschland alleinerziehende Frauen 15-mal so häufig wie verheiratete auf Sozialhilfe angewiesen sind und dass Teilzeiterwerbschancen für erstere besonders gering sind. Es erstaunt nicht, wenn bei Alleinerziehenden erhöhte Depressionsraten gefunden werden und wenn unter diesen Bedingungen die für die weitere kindliche Entwicklung entscheidenden affektiven Bindungsprozesse zwischen Elternteil und Kind häufiger nicht so gut gelingen wie in vollständigen Familien.

Genau an diesem Punkt setzen weitreichende primärpräventive Programme in Kanada an, die in den letzten Jahren unter der Bezeichnung „successful parenting” gestartet worden sind. Dabei werden spezifisch geschulte Erzieherinnen und Sozialarbeiter zu Schwangeren und jungen Eltern in sozial benachteiligten Milieus geschickt, um diesen Personenkreis über die Bedeutung eines einfühlsamen, vor emotionaler Vernachlässigung und Traumatisierung schützenden Umgangs mit dem Kind zu informieren und sie gezielt anzuleiten, entsprechende Kompetenzen zu entwickeln oder zu verstärken. Diese teilweise über zwei bis drei Jahre fortgesetzten Betreuungsprogramme berücksichtigen auch die materielle und soziale Situation der Eltern bzw. des Elternteils und sie fördern gezielt Hilfe zur Selbsthilfe. Die kanadische Regierung forciert dieses Programm in der Überzeugung, dass Investitionen am Beginn des Lebens die Gesundheit der Bevölkerung längerfristig wirkungsvoller befördern als milliardenschwere Rehabilitationsprogramme in späteren Lebensabschnitten, so notwendig diese freilich nach wie vor sind.

Ich hoffe, anhand dieser wenigen Beispiele verdeutlicht zu haben, wie wichtig und vielfältig primäre und sekundäre Präventionsmaßnahmen einschließlich komprehensiv gestalteter medizinischer Rehabilitationsprogramme in einer Gesellschaft sind, die durch demografisches Altern und durch eine vergleichsweise hohe Prävalenz der beiden dargestellten Krankheitsbilder, koronare Herzkrankheiten und Depressionen, gekennzeichnet ist. Und ich hoffe, Sie davon überzeugt zu haben, dass innovative, anwendungsreife Forschungsergebnisse einer medizinnahen, interdisziplinär ausgerichteten Gesundheitsforschung erzielt werden können und sicherlich angesichts des eingangs skizzierten Problemdrucks weiterhin zu erzielen sein werden. Eine Gesundheitspolitik, die in verstärktem Maße ziel- und ergebnisorientiert ist und die auf eine problemorientierte intersektorale Kooperation abhebt, wird nicht umhin können, der gesundheitswissenschaftlichen Forschung ein verbindliches Gewicht einzuräumen. Und sie wird zur Kenntnis nehmen müssen, dass manche präventiven Programme auch im Sinne der Kosteneffektivität wirksam sind, d. h. Nutzen erzeugen, indem Nettoersparnisse aufgrund reduzierter Folgekosten erzielt werden, welche ansonsten die Programmkosten übersteigen würden. Allerdings wird eine solche Gesundheitspolitik den Mut erfordern, in Zeiträumen zu denken und zu handeln, die über die kurzatmigen Legislaturperioden von Regierungen hinausreichen und die glaubhaft ein vorrangiges Interesse am Erhalt und an der Verbesserung des Gesundheitszustandes der gesamten Bevölkerung (also public health) erkennen lassen. Möge das neu gegründete Zentrum für Prävention und Rehabilitation im Zentrum für Höhere Studien der Universität Leipzig dazu beitragen, einer solchen Gesundheitspolitik zum Durchbruch zu verhelfen!

Literatur

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