PiD - Psychotherapie im Dialog 2003; 4(3): 311-312
DOI: 10.1055/s-2003-41843
Im Dialog
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Eine andere Psychodynamik - eine neue kritische Psychotherapie im Dialog?

Martin  Wendisch
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Publication Date:
03 September 2003 (online)

Die die Psychotherapie begründende Psychologie ist eine Grenzwissenschaft und bedient sich zur Erforschung menschlichen Bewusstseins aus allen drei großen Wissenschaftsbereichen: den Geisteswissenschaften, den Gesellschaftswissenschaften und den Naturwissenschaften. Gleichermaßen sollte der Psychotherapeut aus allen diesen Quellen schöpfen und sich auf die Kunst der Reflexion und Interpretation, der objektiven Forschung und der kritischen Einbeziehung gesellschaftlicher Machtverhältnisse verstehen.

Doch welchen Zustand haben wir heute? Auf der Plus-Seite haben wir eine gesellschaftlich breite Akzeptanz von Psychotherapie und eine historisch einzigartige Nachweisfülle für die Wirksamkeit von Psychotherapie. Auf der Minus-Seite stehen die komplette Ver-Naturwissenschaftlichung und Medizinalisierung der Psychotherapie und Anpassung an das Kosten-Nutzen-Denken des Marktes. Symptome dieser Verkürzung sind die Verarmung der Forschungsmethoden auf statistische Gruppenvergleiche, der Verlust wissenschaftstheoretischer Selbsthinterfragung des Großteils der Forschenden, der Verlust einer Metapsychologie und der Frage nach dem, was Qualität in der Psychotherapie genau ausmacht, die Sicherung von Quantitäten statt Qualität, die Reduktion von Psychotherapie auf die Wirksamkeitsfrage (analog eines Medikamentes) und auf zu verabreichende Techniken, die Reduktion von Patienten auf ihre Störungen, und nicht zuletzt die Herabstufung von klinischer Praxis als mehr oder weniger schlechte Umsetzung von Forschungsmanualen.

Auswege aus dieser Verkürzung lägen in einer Metapsychologie und übergeordneten Modellbildung, die sich auf den Brückenschlag Hermeneutik und Naturwissenschaft versteht und unmittelbare klinische Relevanz wieder zum Maßstab ihres Denkens hat. Auch die Qualitätsfrage sollte fundamental und gesellschaftskritisch neu belebt werden, und es sollte ein klinisch taugliches Modell der Wirksamkeit von Psychotherapie entwickelt werden, das dem Kliniker auch eine Referenz der Selbsthinterfragung ermöglicht und das ein Bild vom Menschen liefert, das der klinischen und menschlichen Erfahrung entspricht. Doch schon die ganz den naturwissenschaftlichen Leitvorstellungen angepasste Metapsychologie von Klaus Grawe (neuronales Attraktorenmodell, Grawe 1999) wird als nicht-empirisch von Forschern abgelehnt (Baumann 1999, Westmeyer 1999), als sinnvoll jedoch von Klinikern begrüßt (Lobeck 1999). Auch wenn metapsychologische Modelle nicht direkt Interventionen begründen (Maercker 1999), so bieten sie einen Rahmen für die Einordnung der Bedeutung von Intervention und die Grundlage für eine Praxistheorie psychotherapeutischen Handelns.

Es ist sicher kein Zufall, dass ein solcher Versuch von einem klinisch sehr erfahrenen Autorenpaar unternommen wurde: Manfred Pohlen und Margarete Bautz-Holzherr (2001). Die Autoren bieten ein Konzept an, das einerseits psychoanalytisches mit verhaltenstherapeutischem Denken verbindet und andererseits an beiden Ansätzen massive Kritik übt, die eine Auseinandersetzung lohnt. Ähnlich zu der Habermasschen Theorie des Kommunikativen Handelns als Philosophischer Metatheorie wird hier eine empirische (nicht empiristische!) Theorie der Einflussnahme und Interaktion dargelegt. Dabei wird der Kern psychotherapeutischer Kompetenz und Wirksamkeit - die Interaktion - sowohl als empirischer als auch nur in hermeneutischer Annäherung zu erfassender Vorgang erkannt.

Hier eine knappe Zusammenfassung: Die Interaktion beginnt bereits im Kopf des Therapeuten. Die Offenheit oder Selektivität der Wahrnehmungsbereitschaft des Therapeuten entscheidet über die Entfaltungsmöglichkeiten eines gemeinsamen Wahrnehmungsraumes und die potenzielle Stimmigkeit der Interaktion für den Patienten. Eine Interaktion wirkt über wechselseitige Beeinflussung. Dies geschieht unabhängig davon, ob diese Beeinflussung vom Therapeuten reflektiert wird oder nicht. Patienten haben an Therapeuten die Erwartung, eine heilsame Beeinflussung zu bewirken. Dies bedingt eine gesteigerte Einflussbereitschaft und Wirkung der Interaktion des Therapeuten (Macht), die meist auch mit einer Identifikation und Idealisierung des Therapeuten einhergeht. Gleichzeitig wirkt der Patient auf den Therapeuten, der diese Wirkungen in Gestalt von Gefühlen, Bildern, Impulsen und Assoziationen wahrnehmen kann und darüber Einblick in die nicht geäußerten Anteile einer Botschaft erhält. Der Therapeut setzt diese Wahrnehmungen nach einer theoretischen Annahme (einem expliziten oder impliziten Modell bzw. schulenspezifischen Entzifferungsschlüssel) und seinem Vorstellungsvermögen zusammen und erhält verdichtete Vorstellungen (Fantasien) über den Wahrnehmungsraum und den Kontext der Aussagen des Patienten. Dieser Vorgang ist kein rationaler, sondern ein intuitiv schauender, der möglichst viele parallele Prozesse integriert. Die Mitteilung des Therapeuten ist dann keine rationale, sondern eine metaphorische Rede, die das Wahrgenommene analogisierend in Sprache umsetzt. Dieser Vorgang der Interaktion ist ein zutiefst sinnlicher und körperlicher Vorgang, der auf allen Ebenen des psychischen Geschehens wirkt und sich von außen nur begrenzt beobachten lässt. Die Interaktion ist insofern nicht nur tragendes Element für die Verarbeitung von Triebregungen und Differenzierung von Bedürfnissen und Ableitung einer inneren Selbstrepräsentanz (Selbstkonzept). Sie ist in psychotherapeutischen Prozessen auch tragendes Element der Behandlung. Qualität in der Psychotherapie hängt primär nicht an zu sichernden Quantitäten, sondern an der Qualität der Interaktion.

Die Entsinnlichung und Desexualisierung des Interaktionsverständnisses wird von Pohlen und Bautz-Holzherr (2001) als Teil der Repression unserer zwanghaften Ordnungs-(und Wissenschafts-?) kultur gesehen, die durch sterile Modellbildung das letztlich Unkontrollierbare auslöschen will und psychische Prozesse unter Kosten-Nutzen-Aspekten reduziert. Dass auch die Psychoanalyse durch Überbetonung von Abstinenz, Methodenfixierung, Unterwerfung unter klassifikatorisches Ordnungsdenken den lebendigen Kern ihres Denkens vernachlässigt (Triebtheorie und Gesellschaftskritik), macht sie in den Augen von Pohlen und Bautz-Holzherr zum Teil dieser Ordnungskultur. Dementsprechend verschwindet sie auch aus dem öffentlichen Diskurs, wie kürzlich auf einer DPV- Tagung in Stuttgart beklagt wurde.

Bietet sich hier mit der Einfluss- und Interaktionstheorie nicht ein modellbildender Kern an, der auch in der Verhaltenstherapie zu einer Verlebendigung des klinischen Denkens und metapsychologischen Orientierung genutzt werden könnte? Und haben wir hier nicht den Kern einer Metapsychologie, die systematisch weiter ausgebaut werden könnte? Sollte nicht auch in den Ausbildungen die interaktionelle Kompetenz- und Wahrnehmungsschulung einen viel größeren Raum einnehmen, ohne gleichzeitig den störungsspezifischen Wissenstand zu vernachlässigen?

Literatur

Korrespondenzadresse

Dr. Martin Wendisch,Dipl.-Psych. 

Tübinger Akademie für Verhaltenstherapie

David-von-Stein-Weg 26

72070 Tübingen-Bühl