intensiv 2003; 11(4): 183-192
DOI: 10.1055/s-2003-41291
Pflegewissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Können Ahnung und Intuition pflegerische Qualität sichern?[*]

Heiner Friesacher1
  • 1Dipl.-Berufspädagoge und Pflegewissenschaftler, Dozent und Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten und Hochschulen
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Publication Date:
15 August 2003 (online)

Zusammenfassung

Um zu einer ausreichend abgesicherten und nachvollziehbaren Antwort auf die oben gestellte Frage zu gelangen, müssen die Kernthemen, die schon in der Überschrift auftauchen, genauer analysiert und rekonstruiert werden. Die Darstellung ist folgendermaßen aufgebaut: Zunächst sollen die Begriffe Ahnung und Intuition und deren Stellenwert in der heutigen wissenschaftlichen Diskussion im Allgemeinen und in der Pflegewissenschaft im Besonderen aufgezeigt werden. Dabei kann der Autor auf eine frühere Arbeit zu diesem Thema zurückgreifen [1]. Der Qualitätsbegriff wird anschließend vor allem unter dem Gesichtspunkt der Besonderheit von personenbezogener Dienstleistungsqualität betrachtet. Einige Verfahren, Strategien und Instrumente zur Qualitätsentwicklung werden kurz skizziert und kritisch kommentiert. Die Zusammenführung der beiden zunächst zusammenhanglosen Themenfelder, nämlich Ahnung und Intuition auf der einen Seite und Qualität auf der anderen, wird durch exemplarische klinische Problemsituationen wie dem Dekubitus und dem Entwöhnen von der maschinellen Beatmung geleistet. Dabei wird das intensivpflegerische Handeln als Phänomen organisierter Komplexität und als situative Pflegearbeit rekonstruiert. In Form einer reflektierten Praxis werden (theoretisches) Wissen und Erfahrung in der Expertenpflege vereint. Ahnung und Intuition sind dabei zentrale Bestandteile und zur Gewährleistung von ­Prozess- und Ergebnisqualität in der (Intensiv)pflege unverzichtbar. Ausgangspunkt für das Qualitätsmanagement wird so der reale Tagesablauf, das reflektierte Alltagshandeln der Pflegenden und die Situation der Patienten. Qualität bedeutet dann Förderung der Selbstentwicklung und nicht „von oben” verordnete bürokratische Strategien und Formalismen zur Überwachung und Kontrolle.

1 * Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags auf dem Tag der Intensivpflege am 28.3.2003 in Münster

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1 * Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags auf dem Tag der Intensivpflege am 28.3.2003 in Münster

Heiner Friesacher

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