Krankenhauspsychiatrie 2003; 14(2): 43
DOI: 10.1055/s-2003-40397
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Stigma und psychiatrische Versorgung

T.  Becker1
  • 1Abteilung Psychiatrie II der Universität Ulm, Bezirkskrankenhaus Günzburg
Further Information

Publication History

Publication Date:
02 July 2003 (online)

Prof. Dr. Thomas Becker

Anthony Lehman beschrieb Anfang der 80er Jahre die Lebenssituation chronisch psychisch Kranker in großen „board-and-care homes” in Los Angeles (Lehman 1982). In allen Lebensbereichen ging es ihnen schlechter als der Allgemeinbevölkerung - und das war auch ihr subjektiver Eindruck: dies galt für Finanzen, Arbeitslosigkeit, Familie, soziale Beziehungen, und: 34 % der Kranken waren kürzlich Gewaltopfer gewesen. Zwanzig Jahre später schreibt David Mechanic, dass begrenztes Wissen, fehlender Versicherungsschutz sowie Stigma in den USA die zentralen Hindernisse einer adäquaten Versorgung psychisch Kranker seien (Mechanic 2002). So sind die psychiatrischen Hilfsangebote (oder eben manchmal: ihr Fehlen) einerseits sowie Vorbehalte, Stigmaprozesse und Diskriminierung andererseits eng miteinander verknüpft. Angermeyer (2000) beschreibt, dass die häufigsten Assoziationen zum Wort Psychiatrie stark von den Institutionen der psychiatrischen Versorgung geprägt sind, mit der „Nervenheilanstalt” an der Spitze. Die Forschung zeigt auf der anderen Seite, dass der Wohnort (im psychiatrischen Krankenhaus oder der Gemeinde) nur einer von mehreren Einflussfaktoren auf die Zurückweisung psychisch Kranker durch die Allgemeinbevölkerung ist - und dass Verhaltensauffälligkeiten ebenfalls Einfluss nehmen. Die Einstellungen in der Bevölkerung zu psychiatrischen Deinstitutionalisierungsprozessen sind sehr vielschichtig (Wolff u. Mitarb. 1996), und ohne Zweifel stößt die gemeindepsychiatrische Umgestaltung der letzten Jahrzehnte auf viele Vorbehalte. Erdrückende Hinweise sagen, dass Deinstitutionalisierung nur bescheidenen Einfluss auf die (negative) Wahrnehmung psychisch Kranker durch die Öffentlichkeit hat (Reda 1996). Intensive gemeindepsychiatrische Behandlungsangebote, so das Assertive Community Treatment, ändern nichts daran - jedenfalls in der Wahrnehmung der Betroffenen (Prince & Prince 2002).

Wir wissen noch mehr - auch die Art der psychischen Störung ist von Bedeutung; der Wunsch nach sozialer Distanz ist markanter gegenüber Menschen mit Alkoholabhängigkeit als gegenüber schizophren Erkrankten - und geringer gegenüber Angstkranken. Das Stigma der Psychiatrie ist tief verwurzelt in den anderen medizinischen Fächern und Professionen (untersucht z. B. bei Intensivstations-Personal). Und schließlich - hier sei noch einmal ein etwas in die Jahre gekommener Artikel erwähnt: Selbst-Stigmatisierung durch die psychiatrische Profession dürfte von zentraler Bedeutung sein. Erfrischend ist es, Finks Philippika gegen Ideologien, Feindseligkeit, Verdächtigungen und Respektlosigkeit gegenüber der eigenen Profession zu lesen, zu denen Psychiater fähig sind (Fink 1986). Sicher ist das Selbstvertrauen in der Profession gewachsen, aber Finks (Selbst-)Kritik „sitzt” immer noch. Und überhaupt: Chronizität und Therapieresistenz bleiben Themen des Faches, da kann Skepsis auch das eigene Berufsfeld treffen. Die Suche der Psychiatrie nach Kenntnissen zu Ursachen, Diagnostik und Therapie, ihr Beharren auf einem festen Platz mitten in der Medizin, ihr Insistieren auf dem Platz psychisch Kranker mitten in der Gesellschaft - nichts davon ist weniger wichtig geworden.

Prof. Dr. Thomas Becker

Abteilung Psychiatrie II der Universität Ulm, Bezirkskrankenhaus Günzburg

Ludwig-Heilmeyer-Str. 2

89312 Günzburg

    >