Vom Hausarzt der Zukunft wird viel erwartet: Steuermann soll er sein, Lotse oder Gatekeeper.
Als erster professioneller Ansprechpartner für Gesundheitsfragen soll er gemeinsam
mit dem Patienten Ursachen und Gründe für dessen Anliegen herausarbeiten sowie den
weiteren Versorgungsweg aushandeln. Als Koordinator soll er auch gegenüber Mitbehandlern
und Kostenträgern wirken und als Wegbegleiter für den Patienten und seine Familie
zur Verfügung stehen.
Mancher fragt skeptisch [1]: Können Hausärzte das überhaupt? Klar ist jedenfalls: Der Hausarzt der Zukunft wird mehr sein müssen als bloß medizinischer Experte. Er muss in der Lage sein, die
ihm aus unterschiedlichsten Quellen zufließenden vielfältigen Informationen zu patientenspezifischen
Gesamtdiagnosen zu synthetisieren. Dafür benötigt er medizinisches und psychosoziales
Basiswissen, einen Überblick über die regionalen Versorgungsstrukturen, organisatorisches
Geschick und kommunikative Kompetenzen, die er in spezifischer Weise zusammenfügt.
Die DEGAM definiert [2]:
„Die Arbeitsweise der Allgemeinmedizin berücksichtigt somatische, psycho-soziale,
soziokulturelle und ökologische Aspekte. Bei der Interpretation von Symptomen und
Befunden ist es von besonderer Bedeutung, den Patienten, sein Krankheitskonzept, sein
Umfeld und seine Geschichte zu würdigen (hermeneutisches Fallverständnis).”
Der Hausarzt der Gegenwart ist von diesem Ziel vergleichsweise weit entfernt. Ergebnissen einer europäischen
Gemeinschaftsstudie zufolge gibt es in Deutschland im Vergleich zu den Niederlanden,
Belgien, der Schweiz, Spanien und England die durchschnittlich kürzesten, arztzentriertesten
und häufigsten Konsultationen, die sowohl vom Arzt wie vom Patienten am stärksten
als belastend erlebt werden [3]. Die Lebenswelt des Patienten wird selten zum Thema, Prävention und Gesundheitsförderung
werden von jedem vierten Patienten explizit vermisst. Aber der insgesamt hohe patientenbezogene
Zeitaufwand zeigt, dass bei einer anderen Zeitverteilung - seltenere, dafür aber längere
Konsultationen - auch andere Interaktionen möglich wären. Wie dies im Einzelnen zu
realisieren sein könnte, ist am besten in konkreten Detailanalysen herauszuarbeiten.
Ich möchte hier beispielhaft andeuten, welchen Beitrag die sequenzielle Textanalyse
nach dem Verfahren der strukturalen Hermeneutik leisten kann, die vom Frankfurter
Soziologen Ulrich Oevermann entwickelt wurde. Dieses Vorgehen nutzt und methodisiert
diejenigen Verstehensleistungen, denen sich die Handelnden in ihrem (beruflichen)
Alltag bedienen. So dient die strukturale Hermeneutik in der Anwendung der Schulung
von Wahrnehmung und Selbstreflexion und ist von praktischer Bedeutung z.B. für im
Beratungsbereich Tätige [4].
Weiterhin ermöglicht es das Verfahren, Regeln der Interaktions- und Beziehungsgestaltung
herauszuarbeiten, und ist daher auch in der Grundlagenforschung hilfreich. Beide Aspekte
lassen sich, wie im Göttinger Videoseminar, in der Einheit von Forschung- und Fortbildungsseminar
integrieren [5]
[6]
[7]
[8]. Die Fruchtbarkeit der Kooperation von interpretativer Sozialforschung und Allgemeinmedizin
hat sich mit Bezug auf die Balintgruppen-Arbeit bereits bewährt [9]
[10]. Die im Videoseminar erfolgende Analyse von spezifischen Kommunikationen zwischen
Arzt und Patient kann Hypothesen hervorbringen [11], welche
-
die individuelle Wirklichkeit des jeweiligen Patienten betreffen und von diagnostisch-therapeutischer Bedeutung sind
-
die individuelle Wirklichkeit des jeweiligen Arztes betreffen und im Sinne der Selbstkontrolle von Bedeutung sind
-
die gemeinsame Wirklichkeit von diesem Arzt und diesem Patienten betreffen und insofern behandlungsrelevante Hinweise geben können
-
verallgemeinernde Rückschlüsse auf typische Interaktionsstile, spezifische Funktionen ärztlichen Handelns sowie systematische Kommunikationsprobleme ermöglichen und insofern für Professionalisierung und Gestaltung
der Rahmenbedigungen ärztlichen Handelns erheblich sein können.
Wie dies konkret aussehen kann, soll im Folgenden angedeutet werden.
Exemplarische Fallanalyse
Exemplarische Fallanalyse
Kontextbedingungen
Das fünfzehn-minütige Gespräch ist 1990 in einer mittelgroßen allgemeinärztlichen
Landpraxis mit Einwilligung des Patienten per Video aufgezeichnet worden und ist hier
auszugsweise wiedergegeben (das vollständige Gespräch kann bei der Redaktion angefordert
werden). Der 35-jährige Dr. M. macht an diesem Tag Praxisvertretung für die im Urlaub
weilende Frau Dr. P. In der Vormittagssprechstunde sucht ihn Herr C., ein 47-jähriger
Lagerarbeiter, auf:
Arzt: So, Herr C., was kann ich für Sie tun?
Patient: Ich habe hier unheimlich Schmerzen um die Ohren.
Arzt: Und seit wann geht das?
Patient: Des Rechte. (Pause) Mh, seit heute Morgen.
Arzt: Seit heute Morgen. Hatten Sie schon irgendwie mit Mittelohrentzündung zu tun?
Herausarbeitung des Behandlungsproblems
Die Eingangsfrage „Was kann ich für Sie tun?” könnte auch vom Verkäufer, Rechtsanwalt oder Arbeitsberater gestellt werden. Sie
ist nicht spezifisch ärztlich, sondern kennzeichnet die Bereitschaft, die aktive Rolle
in einem Dienstleistungsverhältnis zu übernehmen. Die Frage setzt den Interaktionspartner
unter die Verpflichtung, eine konkrete Erwartung zu formulieren.
In der Eröffnung zeigt sich Dr. M. als handlungsorientiert. Durch Vorwissen ist diese Haltung bei einem Erstkontakt nicht erklärbar: Dr. M.
kann sich nicht auf sein Gegenüber, sondern allenfalls auf die eigene Rolle im Interaktionsspiel
beziehen. Pointiert formuliert: Es ist, als benötige Dr. M. den Patienten als jemanden,
für den er etwas tun kann, damit er selbst zum Arzt werden kann. Dieser allgemeinen
Bereitschaft steht freilich seine Unsicherheit gegenüber, was er konkret für Herrn
C. tun kann.
Diese Eingangsfrage ist für Herrn C. nur dann eindeutig beantwortbar, wenn er über
ein ausgeprägtes Problembewusstsein verfügt, d.h. die Diagnose schon feststeht. Anders
gesagt: Dr. M. überspringt mit seiner Eingangsfrage im Grunde genommen den diagnostischen
Akt und kommt direkt zur Besprechung des Therapieplans.
Auch im Hinblick auf den Interaktionsverlauf ist der gewählte Beginn durchaus riskant.
Herr C., der den Arzt erstmalig sieht, wird dessen Kompetenzen kaum beurteilen können.
Antworten wie „Wie soll ich das wissen!”; oder „Vermutlich nichts”; wären zwar grob unhöflich, aber vorstellbar. Die Eingangsfrage mutet insofern dem
Patienten auch die Verantwortung für den Beziehungsaufbau zu.
Durch die Antwort „Ich habe hier unheimlich Schmerzen um die Ohren” erfahren wir, dass Herr C. unter Schmerzen leidet, diese intensiv empfindet - unheimlich ist ihm dies gar -, und sie, wenn auch nur vague, lokalisieren kann: „hier ... um die Ohren”.
Schauen wir genauer hin: Die Thematisierung von Schmerz ist typischerweise nicht Bestandteil
des öffentlichen Diskurses. Über Schmerzen äußert man sich privat, beispielsweise gegenüber Familienangehörigen, Freunden, Arbeitskollegen,
Laienhelfern oder Angehörigen von Gesundheitsberufen. Die Schmerzäußerung zielt auf
Anteilnahme, sei es Trost oder konkrete Hilfe.
Die Unheimlichkeit des Schmerzes verweist auf Verunsicherung und Schutzbedürfnis. Das Unheimliche verliert,
wie Freud feststellte, seine Macht, wenn es beim Namen genannt wird: nicht länger
ist es dann ein „Heimliches” [12]. Die Schmerzäußerung kann daher nicht an einen Beliebigen gerichtet sein: es muss
sich um einen Experten für Gesundheitsfragen handeln.
Die Schmerzlokalisation erscheint als Kompromiss örtlich umschriebener Beschwerden - der „Ohrenschmerzen”
- und angedeuteter psychosozialer Überlastung - „viel um die Ohren haben”. Somit wendet
sich der Interakteur mutmaßlich an einen Arzt - wer sonst sollte ihm in die Ohren
schauen und eine Diagnose stellen? -, der zugleich bereit und in der Lage ist, ihm
sein Ohr zu leihen.
Die Frage: „Was kann ich für Sie tun?” wird nicht direkt beantwortet. Dennoch bringt der Antwortende ein Hilfsbedürfnis
zum Ausdruck. Inwieweit er dies zu einem Auftrag konkretisieren könnte, ist unklar.
Seine Äußerung eröffnet für den Arzt zwei Handlungsmöglichkeiten: aktiv herausfinden,
was er tun kann (Diagnostik) oder die Situation offen halten und abwarten, ob der
Rat Suchende die Problemstellung weiter präzisiert.
Seiner handlungsorientierten Grundeinstellung entsprechend wählt Dr. M. zunächst die aktive Variante, greift den
somatischen Aspekt auf und fragt nach zeitlichem Verlauf der Beschwerden und Vorerfahrungen
mit Mittelohrenentzündungen. Körperliche Untersuchung, Diagnose und therapeutische
Anweisungen schließen sich an, und nachdem Herr C. die Frage „sonst noch was?” verneint, ist das bis hierhin vierminütige Gespräch offenbar beendet.
Der Patient bleibt jedoch sitzen und daraufhin erkundigt sich Dr. M. nach dem Beruf
des Patienten - und trifft ins Schwarze: Aufgrund betriebsbedingter Kündigungen muss
Herr C. nämlich in Kürze an seinem Arbeitsplatz „aufhören” und fühlt sich im Hinblick auf die Abfindung „;übers Ohr gehauen”. Sein Vorarbeiter begegnet ihm mit Misstrauen, sodass Herr C. es nicht einmal erträgt,
dass Dr. M. von diesem spricht: „Hören Sie auf!”
Die Ohrenschmerzen des Patienten erscheinen damit gleichsam überdeterminiert und sind
auch auf dem Hintergrund einer belastenden psychosozialen Situation begreifbar. Diese
erscheint Herrn C. nicht mehr beeinflussbar, sodass Dr. M. ihm eine innere und äußere
Umstimmung, d.h. gleichsam ein anderes Hören, empfiehlt: Herr C. soll sich umhorchen und beim Arbeitsamt nach Möglichkeiten für Umschulungsmaßnahmen erkundigen.
Rekonstruktion der Herstellung einer gemeinsamen Behandlungswirklichkeit
Wie ergibt sich nun diese im Gesprächsverlauf erzeugte gemeinsame Behandlungswirklichkeit
aus den jeweiligen Ausgangsbedingungen, die Dr. M. und Herr C. in ihren Eingangsäußerungen
skizzieren?
Erwartung des Arztes
Zunächst definiert Dr. M. seine Rolle so, dass er für den Patient „etwas tun können” muss. Dies setzt voraus:
-
die objektive Möglichkeit einer Hilfeleistung
-
die entsprechende Bereitschaft und Kompetenz aufseiten des Arztes
-
die Fähigkeit des Patienten, seinen Hilfebedarf zu artikulieren oder mindestens doch
die Bereitschaft, sich vom Arzt unterstützen zu lassen
-
hilfreiche Kontextbedingungen (z.B. Zeit).
Damit lautet die Erwartung des Arztes an den Patienten:
-
Nennen Sie Ihre Erwartungen
-
Seien Sie pragmatisch, verlangen Sie nichts Unmögliches
-
Erkennen Sie mich als den aktiven Partner in unserer Beziehung an.
Erwartung des Patienten
Herr C. hat seinerseits „hier unheimlich Schmerzen um die Ohren”. Er zeigt sich mit dieser Eröffnung als selbstbezogen und eingenommen von einer unbestimmten
Kraft, die er ebenso sehr hat wie diese ihn. Die Befindlichkeit ist ihm fremd: er
ist sie nicht, sondern er hat sie. Dementsprechend wird er die unangenehme Befindlichkeit
einfach los sein wollen, ohne sich dabei selbst ändern zu müssen. Die implizite Erwartung
an Dr. M. - der ja etwas tun will - lautet:
-
Lokalisieren Sie die Beschwerden („hier ... um die Ohren”);
-
Sagen Sie mir, was dahinter steckt und nehmen Sie mir Angst und Unsicherheit („unheimlich”);
-
Befreien Sie mich von den Schmerzen.
Insoweit Herr C. nicht direkt auf die Frage des Arztes antwortet, lassen sich als
weitere implizite Erwartungen nennen:
-
Ermöglichen Sie es mir, Ihre Frage (Ihr Anliegen) zu hören und wahrzunehmen (denn
erst dann kann ich darauf überhaupt reagieren)
-
Ermöglichen Sie es mir, Ihre Frage zu beantworten, d.h. allgemeiner: meine Erwartungen
zu formulieren und über das Unaussprechliche („unheimlich”) zu reden.
Die gemeinsame Wirklichkeit von Arzt und Patient
Die gemeinsame Wirklichkeit von Arzt und Patient
Der gemeinsame Auftrag „Lokalisierung unter der Führung des Arztes” wird als Allgemeinanamnese
und körperliche Untersuchung durchgeführt und resultiert in einer Diagnose (Mittelohrenentzündung)
sowie einer darauf gegründeten Therapieanweisung. Anders gesagt: auf der Ebene der
körperlichen Behandlung kann Dr. M. etwas für Herrn C. tun.
Die unausgesprochenen gemeinsamen Aufträge „Hörenlernen unter Führung des Arztes”
und „Unaussprechliches hervorlocken” lassen sich demgegenüber nur in einem erweiterten
Behandlungskonzept realisieren. Tatsächlich setzt sich Dr. M. trotz erklärtermaßen
fehlendem weiteren Problematisierungsbedarf des Patienten über dessen Verbalisierung
hinweg und macht sich zum Fragenden:
Arzt: Das ist ja nicht so gut. Haben Sie schon was neues in Aussicht?
Patient: Noch gar nichts.
Arzt: Gar nichts.
Patient: Das sieht auch schlecht aus. ... Ich habe vorher zehn Jahre bei der VIVO gearbeitet.
Dann hat die auch zugemacht. Und jetzt hier (.) auch wieder. ... Naja, irgendwo wird
das schon, finden wir schon irgendwo Arbeit wieder.
Herr C. wird nunmehr zum Geschichtenerzähler, Dr. M. zum aktiv Zuhörenden, die Beschwerden werden psychosozial verortet. Dabei wird immer wieder deutlich,
wie wenig sich Herr C. als Subjekt in seiner Handlungssituation erlebt. Diese Haltung,
auf realen Ohnmachtserfahrungen gründend, setzt sich dem Arzt als zäher Widerstand
entgegen und bezeichnet Grenzen auch seiner Handlungsmöglichkeiten.
Patient: Nützt ja nichts!
Arzt: Also, was ich so gehört habe, da sind die in den letzten Jahren schon etwas kulanter
geworden...
Patient: Ich muss mal sehen. Irgendwas wird schon wieder werden.
Dr. M. vermag freilich wiederum durch Bezug auf eigene Hör-Erfahrungen eine Gemeinsamkeit
für das Gespräch herzustellen. Dabei muss es bleiben: eine gemeinsame Behandlungswirklichkeit
setzt kontinuierliche Versorgung voraus und ist für Arzt und Patient letztlich nur
als Verweis auf die behandelnde Hausärztin möglich. Obgleich dies natürlich objektiv
der Vertretungssituation geschuldet ist, wird damit doch genau die Struktur reproduziert,
unter der Herr C. leidet: „Da hat's einer auf den anderen geschoben, so hört sich das an.” Das Hör-Problem ist mithin auch ein Problem von Zugehörigkeit (zur Firma) und Gehorsam (gegenüber dem Vorgesetzten), d.h. Verantwortungs- und Autonomieproblem.
Der Schmerz wird nicht explizit zum Thema. Die Behandlung aber findet dennoch implizit
statt, indem Dr. M. einerseits die Behandlungsbedürftigkeit anerkennt und andererseits
die Gestimmtheit verbalisiert: „Bedrückt auch ein bisschen, ne?”
Resümee
Resümee
Die Analyse ergibt bezüglich der oben unterschiedenen Wirklichkeitsebenen die folgende
Hypothesen:
Der Patient erlebt sich als passives Objekt des Wirkens Anderer, seine Wirklichkeit erscheint
ihm als nicht gestaltbar. Aufgabe in einer hausärztlichen Dauerbeziehung wäre es herauszuarbeiten,
welche Handlungsoptionen möglicherweise doch zur Verfügung stehen könnten und welchen
Beitrag Herr C. ggf. selbst dazu leistet, diese nicht in Anspruch zu nehmen. Dr. M.
nimmt diese Aufgabe, so weit dies im Rahmen der Vertretungssituation überhaupt möglich
ist, zumindest im Hinblick auf die berufliche Situation in Angriff.
Dr. M. zeigt sich als Arzt zunächst handlungsorientiert und nimmt nicht die Komplexität des Patientenanliegens
auf. Er verfügt aber über die Sensibilität und Flexibilität, dies zu korrigieren.
Es wäre zu prüfen, ob Dr. M. zu diesem Muster auch in anderen Konsultationen neigt
und wie er seine umfassenden Wahrnehmungskompetenzen bereits in der Eröffnungsphase
gezielt zum Einsatz bringen kann, um Umwege zu vermeiden [13].
Da es sich um eine einmalige Vertretungssituation handelt, haben Dr. M. und Herr C. keine gemeinsame Behandlungs-Zukunft. Ihre gemeinsame Wirklichkeit kann sich daher nur auf die Interaktion selbst beziehen und wird in Medikamentenverordnung
und Thematisierung der Arbeitssituation erreicht. Dr. M. stellt hier Nähe und Verbindlichkeit
jeweils durch Verweis auf eigene Erfahrungen her und vermag damit ein Stück weit den
Anschein fehlender institutioneller Kompetenz zu kompensieren.
Bei sequenzieller Betrachtung wird deutlich, dass es sich beim vorgestellten Beispiel
kaum um ein Gespräch mit einem Verkäufer, Arbeitsberater oder Rechtsanwalt handeln
kann. Vielmehr wird bereits mit den beiden ersten Äußerungen der Interaktanden ein
Dienstleistungsverhältnis etabliert, das sich zugleich auf körperliche und psychosoziale
Aspekte bezieht. Dies ist kennzeichnend für eine Hausarzt-Patient-Beziehung. Charakteristisch
ist leider auch, dass beide Interakteure die symptomatische Einheit „Ohrenschmerzen”
nacheinander auf körperlicher und psychosozialer Ebene abhandeln, aber weder ein Gesamtkonzept
noch eine integrale Behandlung vereinbaren. Mag dies im vorliegenden Fall ein Stück
weit auch durch die Vertretungssituation erklärbar sein, so ist doch erkennbar, dass
die vorschnelle Klarheit der Problemdefinition aus der Handlungsorientierung des Arztes
resultiert und erst vor dem Hintergrund des passiven Widerstands des Patienten korrigiert
wird. Es bedarf dann einer erneuten Initiative des Arztes, um ein vorhandenes, aber
nicht ohne weiteres aussprechliches Problem („hidden agenda”) zur Sprache zu bringen.
Offenbar kann die einem Dienstleistungsverhältnis durchaus angemessene Frage „Was kann ich für Sie tun?” in der hausärztlichen Sprechstunde überfordernd wirken: nicht immer sind Patienten
Kunden. Sicherer wäre es, den Patienten dort abzuholen, wo er ist. Eine offenere Frage
wie z.B.: „Was führt Sie zu mir?” würde ihn zu einer Problemschilderung auffordern, an die sich der diagnostisch-therapeutische
Prozeß anschließen könnte.
Rückkopplungsfragen werfen noch einmal Möglichkeiten für Patienteninitiativen auf,
selbst wenn sie in der flapsigen Form eines „sonst noch was?” daherkommen. Das ärztliche Gespräch hat insofern eine sozialkompensatorische Funktion
insbesondere bei denen zu erfüllen, die aus Scham, Angst oder auch fehlender Übung
nicht direkt ihre Erwartungen artikulieren (können).
Konsequenzen
Konsequenzen
Der Hausarzt der Zukunft muss in einem Setting arbeiten, das ihm die Wahrnehmung seines
umfassenden Auftrags auch tatsächlich ermöglicht. Er benötigt die Zeit, um die erforderlichen
Gesprächs- und Koordinationsleistungen zu vollbringen, und er braucht Anreize, um
seinen jetzigen Arbeitstakt umzustellen.
Darüberhinaus ist eine Qualifizierungsinitiative erforderlich. Ob Schweiz, England
oder Niederlande - in allen diesen Ländern wird die Schulung der Gesprächsführung
deutlich größer geschrieben als in Deutschland. Rollenspiele, Analysen eigener videodokumentierter
Gespräche und Selbsterfahrung sind in diesen Ländern schon im Studium die Regel. In
der Schweiz wird den Studierenden in der Prüfung der psychosozialen Medizin eine videodokumentierte
hausärztliche Konsultation zur Diskussion vorgelegt [14].
In der Facharztweiterbildung zum Allgemeinarzt war die weiterbildungsbegleitende Selbstreflexion
in Form von Balintgruppen zielführender als die an deren Stelle getretenen Gesprächsführungsseminare.
Eindrücklich zeigte sich in den Balintgruppensitzungen das Beziehungsdreieck Weiterbildungsassistent
- Patient - Weiterbildner als eine Problemkonstellation, der mit Gesprächsführungstechniken
nicht beizukommen ist und die jenseits der Gruppensitzungen überhaupt nicht thematisiert
wurde. Wiederum lohnt ein Blick zu den Nachbarn: kontinuierliche und angeleitete Selbstreflexion
während der Weiterbildung sind dort Standard. In der Schweiz haben die Kandidaten
Videodokumentationen eigener Konsultationen zur Facharztprüfung mitzubringen, bei
der diese auch zum Thema werden.
Angebote für die Förderung der kommunikativen Kompetenzen sollten auch in der ärztlichen
Fortbildung verstärkt und gefördert werden. Videoseminare erscheinen mir hierbei besonders
geeignet, weil sie neben einer Diskussion kommunikativer Prozesse auch die Thematisierung
anderer fachlicher Fragen der hausärztlichen Versorgung ermöglichen und damit eine
ausgezeichnete Basis für die Schulung der allgemeinärztlichen Gesamtdiagnostik darstellen.
Solche Seminare können kontinuierlich - z.B. als videogestützte Qualitätszirkel [15] - oder mit spezifischem Schwerpunkt auch als Schnupperseminar durchgeführt werden
(weitere Informationen vom Verfasser).
Schließlich erscheint es mir sinnvoll, die Überlegungen, wie Patienten die Effektivierung
des Gesundheitssystems fördern können, über die Frage der Beitragszahlungen hinauszutragen.
In einigen Selbsthilfegruppen bereiten sich Patienten auf ihre Arztbesuche systematisch
vor, indem sie ihrerseits das Gespräch mit dem Arzt üben. Dass es ihnen wiederholt
nicht gelang, ihre eigenen Anliegen vorzutragen, sehen sie nicht als Schicksal und
nur begrenzt als Mangel des Arztes an. Mit Erfolg. Daran lässt sich anschließen z.B.
mit Kommunikationsseminaren für Patienten.
Das vollständige Transkript kann bei der Redaktion angefordert werden unter Tel.:
0711/8931-179, Fax: 0711/8931-322, E-Mail: katrin.wolf@thieme.de