ZFA (Stuttgart) 2003; 79(3): 107
DOI: 10.1055/s-2003-39274
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Das Unheil begann in der Eisenbahn

Wilhelm Niebling
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Publication Date:
20 May 2003 (online)

Wenige Jahre, nachdem zu den Transportmitteln in den industrialisierten Ländern die Dampfeisenbahn gekommen war, erschien 1866 eine Abhandlung des Londoner Chirurgen John Eric Erichsen mit dem Titel »On Railway and other Injuries of the Nervous System«. Darin wurden mechanische Belastungen während Eisenbahnfahrten als Ursache einer Schädigung der Wirbelsäule und damit von Rückenschmerzen postuliert. Diese These wurde schließlich mit der Beschreibung der »vorgefallenen Bandscheibe« durch Mixter und Barr (1934) zum monolithischen patho-anatomischen Paradigma verschweißt.

Rückenschmerzen wurden zum »Desaster des 20. Jahrhunderts« (Waddell 1999). Dabei gibt es keine Belege, dass die Häufigkeit von Rückenschmerzen in den letzten Jahrzehnten wesentlich zugenommen hätte. Dramatisch geändert haben sich jedoch die subjektive Beeinträchtigung durch und der Umgang mit Rückenschmerzen. Die Zahlen sind nüchtern: Etwa 85 % aller Bewohner der westlichen Hemisphäre sind einmal im Leben betroffen. Bei 5-10 % kommt es zu einer Chronifizierung der Rückenschmerzen. 10-15 % aller Arbeitsunfähigkeitszeiten, ein Drittel aller stationären Rehamaßnahmen und annähernd 20 % aller vorzeitigen Berentungen sind Folge chronischer Rückenschmerzen.

Rückenschmerzen sind in den westlichen Ländern zum teuersten Gesundheitsproblem avanciert. Die direkten und indirekten Krankheitskosten belaufen sich in Deutschland auf etwa 18 Mrd. €/Jahr.

Was sind die Gründe für diese Entwicklung? Patho-anatomisches Postulat: »Wir beurteilen und behandeln Rückenschmerzpatienten anhand von Theorien, die annähernd 90 % der Rückenschmerzen nicht erklären können« (Andersson 1997); Fehlversorgung: » weil es uns nicht gelingt, zwischen den Patienten mit unspezifischen Rückenschmerzen einerseits und den Patienten mit ernsten Wirbelsäulenschäden oder radikulären Problemen andererseits zu unterscheiden« (Waddell 1999); falsche Anreize: »Medizin und soziale Unterstützungssysteme haben sich größtenteils vorteilhaft entwickelt, aber wir müssen uns fragen, ob sie zu einer Verbesserung des Problems rückenschmerzbedingter Arbeitsunfähigkeit geführt oder ob sie es im Gegenteil verstärkt und ausgeweitet haben« (Waddell 1999); fehlende Vernetzung der verschiedenen Behandlungsebenen: z.B. Überweisungen an Fachkollegen ohne klare Indikation oder ohne Nennung diagnostischer oder therapeutischer Ziele; Regelversorgung: Präventive Maßnahmen oder erfolgversprechende Behandlungskonzepte (z.B. multidisziplinäre Teams) sind nicht in der Regelversorgung verankert; falsche Informationen: z.B. fehlende Aufklärung der Betroffenen über den meist gutartigen Verlauf der Erkrankung oder Festhalten an irrealen Behandlungszielen wie etwa »Schmerzfreiheit«; Passivität als therapeutisches Prinzip: Verordnung, Anwendung und Empfehlung vorwiegend passiver therapeutischer Maßnahmen sind iatrogene Faktoren einer Schmerzchronifizierung.

Die Identifizierung und Bearbeitung prädiktiver Faktoren für eine Schmerzchronifizierung in einem möglichst frühen Stadium der Erkrankung sind eine hausärztliche Herausforderung. Leitlinien können dabei eine Hilfe bieten. Meist basieren sie auf der 1994 von der amerikanischen Behörde für Gesundheitspolitik und Forschung (AHCPR) publizierten »Urleitlinie«. Deren Schicksal ist bekannt: Der Congress kürzte 1996 das AHCPR-Budget um die Hälfte - wesentlich auf Betreiben der Amerikanischen Gesellschaft für Neurochirurgie. Hintergrund war ein dramatischer Rückgang von Bandscheibenoperationen. Ein eindrücklicher empirischer Beleg für die »Wirksamkeit« von Leitlinien.

Dr. med. Wilhelm Niebling

Facharzt für Allgemeinmedizin

Schwarzwaldstraße 69

79822 Titisee-Neustadt

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