Suchterkrankungen wie Alkohol- und Opiatabhängigkeit sind komplexe Störungen mit oft chronischem Verlauf. Die Ausprägung des Krankheitsbildes ist variabel in Bezug auf das Manifestationsalter, den Schweregrad und die Komorbidität. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat zur Verbesserung der Diagnostik von Suchterkrankungen die Begriffe Gebrauch („use”), schädlicher Gebrauch („harmful use”), Missbrauch („abuse”) und Abhängigkeit („dependence”) eingeführt.
Prospektiv-longitudinale Verlaufsstudien belegen, dass besonders in jüngeren Altersgruppen Drogenkonsum besonders häufig ist: so liegt bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen der Konsum legaler Substanzen bei über 90 %, der Konsum illegaler Substanzen wird mit 35 % angegeben [15].
Nach Festlegung der WHO liegt ein riskanter Alkoholkonsum („harmful use”) vor, wenn regelmäßig 40 g (bei Männern) bzw. 20 g (bei Frauen) reiner Alkohol konsumiert wird. In Deutschland waren hiervon 15,2 % der Männer und 8,4 % der Frauen betroffen [7]. Die epidemiologische Erhebung mittels standardisierter Diagnostik nach DSM-IV [1] geht davon aus, dass in Deutschland schätzungsweise 5 % (2,4 Mio., bezogen auf die Wohnbevölkerung) einen Alkoholmissbrauch („abuse”) betreiben und weitere 3 % (1,5 Mio.) an einer manifesten Alkoholabhängigkeit („dependence”) leiden (Männer sind 4-fach häufiger betroffen als Frauen [7]). Alkoholabhängigkeit zählt demnach zu den häufigsten chronischen Erkrankungen in Deutschland, während die Drogenabhängigkeit im Vergleich dazu eher eine untergeordnete Rolle spielt (265 000 Menschen sind drogenabhängig, bei weiteren 285 000 Menschen wurde die Diagnose eines Drogenmissbrauchs gestellt [7]).
Darüber hinaus beobachtet man insgesamt einen Anstieg von substanzgebundenen Abhängigkeits- und Missbrauchssyndromen, bei einer Tendenz zu einem früheren Ersterkrankungsalter [15]. Daher muss der Ursachenforschung von substanzgebundenen Abhängigkeits- und Missbrauchssyndromen eine wachsende Bedeutung beigemessen werden.
Die Sichtweise, dass die Entstehung und Aufrechterhaltung süchtigen Verhaltens ausschließlich in sozialen Ursachen begründet sei und auf der Ebene einer „Charakterverfehlung” interpretiert wird, gilt als obsolet. Ebenso muss auch die Existenz der früher oft postulierten „Suchtpersönlichkeit” bezweifelt werden.
Suchterkrankungen sind nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand Ausdruck eines vielschichtigen Krankheitsprozesses, der aus der wiederholten Substanzeinnahme und -wirkung resultiert und deren klinisches Erscheinungsbild durch entwicklungsbedingte, umweltbezogene, psychosoziale, psychologisch-psychiatrische, neurobiologische sowie genetische Faktoren moduliert wird [10]. Gegenstand des vorliegenden Artikels ist es, die aktuellen Forschungsstrategien bezüglich genetischer Bedingungsfaktoren von substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankungen kurz zusammenzufassen.
Ergebnisse aus Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien
Ergebnisse aus Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien
Durch die Zusammenschau von Ergebnissen aus Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien zu substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankungen der vergangenen 20 Jahre konnten zunehmend genetische Bedingungsfaktoren für die Entstehung von Alkoholismus und anderer Formen von Suchterkrankungen herausgestellt werden.
Alkoholabhängigkeit
Die Wahrscheinlichkeit für Angehörige 1. Grades von Alkoholabhängigen, selbst an einer Alkoholabhängigkeit zu erkranken, ist um das 3-4-fache erhöht gegenüber der Allgemeinbevölkerung. Söhne alkoholabhängiger Väter sollen dabei ein höheres Wiederholungsrisiko als Töchter für Alkoholismus besitzen. Bei monozygoten Zwillingen ist das relative Risiko 10-fach gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöht [5].
Die Heritabilität von Alkoholismus wurde in neueren Zwillingsstudien zwischen 50 und 60 % angegeben [12]
[13] und ist demzufolge größenmäßig vergleichbar mit der Heritabilität anderer chronischer Erkrankungen (z.B. nicht-insulinabhängige Form des Diabetes-mellitus).
Adoptionsstudien dienen der Kontrolle von Umweltbedingungen oder Umgebungsfaktoren für das Auftreten eines bestimmten Merkmals. Anhand eines so genannten „cross-fostering” Untersuchungsdesigns konnten in der „Stockholm Adoption Study” [4]
[23] bei adoptierten Männern sowohl Hinweise auf genetische als auch umgebungsbedingte Faktoren für die Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit beobachtet werden. Typ-I- und Typ-II-Alkoholismus stellen mutmaßlich zwei klinisch unterschiedliche Subtypen dar, die durch unabhängige neuroadaptive Prozesse beeinflusst werden. Ein frühes Ersterkankungsalter ist demnach mit genetisch-determinierten Temperamentfaktoren assoziiert: starkem Neugierverhalten („high novelty seeking”) bei geringer Schadenvermeidung („low harm avoidance”) und geringer Abhängigkeit von Belohnungen („low reward dependence”). Diese Temperamentkonfiguration charakterisiert nach Cloninger [6] den sog. antisozialen Temperamenttyp, der mit einem erhöhten Risiko für den Typ-II-Alkoholismus, Verhaltensstörungen im Kindesalter und polyvalentem Substanzmissbrauch während der Adoleszenz assoziiert zu sein scheint.
Im Gegensatz dazu wird für den Typ-I-Alkoholismus postuliert, dass sich eine starke Neigung zur Schadenvermeidung („high harm avoidance”) protektiv hinsichtlich der Initiierung eines starken Alkoholkonsums auswirkt. Bedingt durch eine Komorbidität mit Angststörungen und Depressionen soll von diesem Typus jedoch im Rahmen einer „Selbstmedikation” Alkohol konsumiert werden.
Missbrauch und Abhängigkeit illegaler Drogen
Nach Merikangas und Mitarbeitern [18] besitzen Angehörige 1. Grades von Drogenabhängigen ein bis 7-fach erhöhtes Risiko für Drogenmissbrauch. Die Autoren fanden Hinweise darauf, dass Frauen ein höheres genetisches Risiko für Drogenmissbrauch aufweisen im Vergleich zu Männern. Die Häufigkeit von Drogenabusus bei Angehörigen 1. Grades Opiatabhängiger beträgt nach der Familienstudie von Rounsaville [21] zwischen 5-14 % für Geschwister und 1-9 % für Eltern.
Zwillingsstudien zum Missbrauch verschiedener illegaler Drogen legen die Existenz eines gemeinsamen Vulnerabilitätsfaktors nahe, dem der Missbrauch von Haschisch, Sedativa, Stimulanzien, Opioiden und Halluzinogenen unterliegt. Diese Vulnerabilität wird sowohl durch genetische wie familiär-umgebungsbezogene als auch nicht-familiär umgebungsbezogene Faktoren beeinflusst. Der Anteil der einzelnen Faktoren variiert mit der jeweiligen Droge: während der Konsum von Haschisch am meisten durch familiär-umgebungsbezogene Faktoren bedingt scheint, ist der genetische Einfluss bei Heroinmissbrauch und Heroinabhängigkeit am stärksten ausgeprägt [24].
Die Adoptionsstudien von Cadoret [2]
[3] bei Drogenabhängigkeit identifizierten sowohl die Relevanz biologisch-genetischer als auch umgebungs-bezogener Risikofaktoren. Drogenmissbrauch war eng mit der Diagnose einer antisozialen Persönlichkeitsstörung korreliert, die wiederum auf einem biologisch-genetischen Hintergrund basierte. Adoptierte mit Drogenmissbrauch, jedoch ohne antisoziale Persönlichkeitsstörung, besaßen wiederum überzufällig häufig leibliche Eltern mit Alkoholproblemen. Als umgebungsbezogene risikosteigernde Variablen, die innerhalb der Adoptivfamilie wirksam werden und bei den Adoptierten zu einem Drogenmissbrauch führen, wurden die Scheidung der Adoptiveltern und psychiatrische Erkrankungen innerhalb der Adoptivfamilie identifiziert. Allerdings ist die Richtung des umgebungsbezogenen Risikofaktors und der Tatsache des Drogenmissbrauchs nicht eindeutig klärbar. Genetische und umgebungsbezogene Faktoren tragen nach der Studie von Cadoret [2] bei Männern und Frauen gleichermaßen zur Entstehung einer Drogenabhängigkeit bei.
Kandidatengene für Suchterkrankungen
Kandidatengene für Suchterkrankungen
Während die zuvor genannten Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien Belege für eine genetische Mitbeteiligung der Ätiologie von Suchterkrankungen liefern, ergibt sich die Frage, welche Gene zu Missbrauch und Abhängigkeit von Alkohol und anderen Drogen prädisponieren.
In genetischer Hinsicht zählen Suchterkrankungen (ebenso wie andere psychiatrische Krankheitsbilder) zu den so genannten „komplexen Erkrankungen”. Der Vererbungsmodus von Suchterkrankungen legt nahe, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur ein Gen für die Entstehung von süchtigem Verhalten zu identifizieren ist, sondern mutmaßlich eine Vielzahl von Genen, die sowohl untereinander als auch mit Umweltfaktoren in einer Wechselbeziehung stehen können. Die genetische Vulnerabilität für Suchterkrankungen wird möglicherweise durch individuelle neurophysiologische Charakteristika auf subklinischer Ebene (so genannte Endophänotypen) mediiert: z.B. die reduzierte Empfindlichkeit hinsichtlich der Wirkung von Alkohol („low level response” - LR) oder eine reduzierte P300-Amplitude bei gesunden (d.h. nicht alkoholabhängigen) Angehörigen von alkoholabhängigen Patienten [11]
[22].
Ein Teil der psychiatrisch-genetischen Erforschung von Suchterkrankungen erfolgt mittels molekulargenetischer Methoden [19] und widmet sich der Identifikation von Genregionen bzw. einzelnen Genen, die mutmaßlich zu Substanzmissbrauch und Abhängigkeit prädisponieren, so genannten Kandidatengenen. Die meisten Befunde liegen zur Alkoholabhängigkeit vor, weshalb nur diese hier im Rahmen dieser kurzen Übersicht erwähnt werden sollen (für eine ausführlichere Darstellung siehe [17]).
Kopplungsstudien in mehrfach mit Alkoholismus belasteten Familien ergaben stärkste Hinweise auf Kopplung für Marker auf Chromosom 1, 4 und 7 [20], Chromosom 4 und 11 [16] sowie Chromosom 6 [14] und Chromosom 16 [8].
Im Rahmen von Fall-Kontroll-Assoziationsstudien wurden vorwiegend Gene für den enzymatischen Alkoholabbau (ADH und ALDH) sowie Gene von Neurotransmitterrezeptoren (z.B. Varianten von Dopamin-, Serotonin- und Opioidrezeptorgenen) untersucht. Bislang erwiesen sich die in Assoziationsstudien erhobenen Befunde zur Alkoholabhängigkeit als inkonsistent und bedürfen weiterer Replikation [9]
[17].
Die Einbeziehung von klinischen Phänotypen und der bereits erwähnten Endophänotypen stellen viel versprechende Ansätze dar, um kosegregierende Merkmale bei Alkoholabhängigkeit in Beziehung zum Genotyp zu identifizieren [22]. Mit diesen zeit- und personalintensiven Untersuchungsmethoden gelingt es möglicherweise, innerhalb der kommenden Jahre, die Genortsuche bei substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankungen zu erleichtern.
Transgene Tiermodelle bei Suchterkrankungen
Transgene Tiermodelle bei Suchterkrankungen
Die physiologische Wirkung von Alkohol und Drogen und die körperliche Abhängigkeit von diesen Substanzen lassen sich im Tiermodell besser als jede andere psychiatrische Erkrankung oder Verhaltensform darstellen [17].
Die funktionelle Bedeutung von bestimmten Neurotransmittergenen auf die Entstehung süchtigen Verhaltens kann durch Vergleiche zwischen mutierten Mäusestämmen (so genannte knock-out Strategie) und Wildtyp-Stämmen erzielt werden. Mittels dieser knock-out Strategie konnte z.B. die substanzielle Rolle des m-Opioidrezeptorgens auf die analgetische Wirkung des Morphins herausgestellt werden. Alternativ zur knock-out Strategie kann z.B. die Wirkung von Alkohol an bestimmten Mäusestämmen untersucht werden, die ein unterschiedliches Trinkverhalten von Alkohol bereits von Geburt an zeigen.
Zukünftige tierexperimentelle Studien können dazu beitragen, die Rolle von verschiedenen Genen auf die Entstehung und Aufrechterhaltung von substanzgebundenen Abhängigkeitserkrankungen aufzuklären. Ob diese im Tiermodell zu beobachtenden genetischen Einflüsse auch auf die komplexe Entstehung einer Suchterkrankung beim Menschen übertragbar sind, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beurteilt werden.
Fazit
Fazit
Alkoholismus und anderen Formen von Substanzmissbrauch liegen multifaktorielle Ursachen zu Grunde, wobei zunehmend genetischen Bedingungsfaktoren eine große Bedeutung beigemessen wird. Eine systematische Suche nach Genen bzw. Genregionen, die zu süchtigem Verhalten prädisponieren sollen, bleiben jedoch auch zukünftig ein wichtiges Forschungsfeld, da noch keine konsistenten Ergebnisse erzielt wurden. Forschungsbedarf besteht insbesondere hinsichtlich des Zusammenwirkens substanzimmanenter Effekte der konsumierten Droge, deren Applikationsart und deren Metabolismus, soziographischer und psychologischer sowie neurobiologisch-genetischer Faktoren, die das konsumierende Individuum vom Stadium des „kontrollierten” Konsums bis zum schädlichen Gebrauch, Missbrauch und Abhängigkeit führen können.