Fortschr Neurol Psychiatr 2003; 71(5): 229-231
DOI: 10.1055/s-2003-39067
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

DRGs in Neurologie und Psychiatrie - Fortschritt oder Gefahr?

DRGs in Neurology and Psychiatry - Progress or Risk?C.-W.  Wallesch1
  • 1Klinik für Neurologie der Otto-von-Guericke-Universität
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Publication Date:
12 May 2003 (online)

Ab dem 1 .1 .2004 werden in Deutschland die stationären Krankenhausleistungen - mit Ausnahme von Psychiatrie, psychotherapeutischer Medizin und Kinder- und Jugendpsychiatrie - nach zunächst krankenhausindividuellen, nach einer Konvergenzphase von drei Jahren dann landeseinheitlichen Fallpauschalen vergütet.

Die Vertragspartner der Selbstverwaltung haben entschieden, das System der australischen AR-DRGs [1] einzuführen. Das für Deutschland auf dieser Grundlage neu zu entwickelnde System soll bis zu 800 möglichst kostenhomogene Fallgruppen enthalten. Gruppierungsrelevante Merkmale (z. B. ICD-10, OPS-301, Alter, Geburtsgewicht), Schweregradunterteilungen einzelner Fallgruppen und die Kostengewichte sollen auf der Grundlage deutscher Daten festgelegt werden. Der enorme Zeitdruck der Einführung machte es jedoch notwendig, dass zunächst zur australischen DRG-Struktur lediglich deutsche Kostengewichte kalkuliert wurden (und Kostenhomogenität geprüft wurde - lediglich in drei Fallgruppen wurde auf der Grundlage deutscher Daten eine Schweregraddifferenzierung vorgenommen). Sie stellen als Relativgewichte je Fallgruppe einen Faktor dar, mit dem der Basisfallpreis multipliziert wird, um den fallindividuellen Erlös zu ergeben. Im Rahmen der Einführung soll dann das „lernende System” die DRG-Struktur an deutsche Versorgungsstrukturen anpassen. Das australische System enthält unter 661 DRGs nur 50 für Erkrankungen des Nervensystems, auf die über 10 000 definierte neurologische Erkrankungen abgebildet werden. Da die meisten selten sind, sind sie makroökonomisch wenig relevant, im Einzelfall zählt jedoch für die versorgende Klinik der individuelle diagnostische und therapeutische Ressourceneinsatz. Dies gilt vor allem für spezialisierte Abteilungen und Fachkliniken.

Es besteht Einigkeit darüber, dass ein funktionierendes Klassifikationssystem mindestens 50 % der fallbezogenen Kostenvarianz abbilden sollte [2]. Gelingt dies nicht, wird z. B. eine Schweregradunterteilung vorgenommen.

Die Verordnung zum Fallpauschalensystem für Krankenhäuser (KFPV) vom 19. 9. 02 enthält Ergebnisse der deutschen Erstkalkulation (G-DRG 1.0 für 2003). Dabei wird auf der Grundlage der Erstkalkulation ein Basisfallpreis von 2900 € angenommen. Die Erstkalkulation bezog Daten von 494 325 Fällen aus 118 Krankenhäusern, darunter kein einziges Universitätsklinikum, ein [3]. Einige für die Neurologie relevante Problembereiche sollen exemplarisch dargestellt werden:

Die Relativgewichte für die DRGs B72Z (1,09 - Infektion des Nervensystems außer Virusmeningitis) und B73Z (1,07 - Virusmeningitis) unterscheiden sich kaum - trotz erheblich unterschiedlichem Ressourceneinsatz in prototypischen Fällen. B71A (Erkrankungen an Hirnnerven oder peripheren Nerven mit Komplikationen und Komorbiditäten - Guillain-Barre-Syndrom etc.) ist mit einem Relativgewicht von 1,06 nur wenig höher bewertet als B71B (ohne Komplikationen und Komorbiditäten - z. B. periphere Fazialisparese) mit 0,80, es sei denn, die Voraussetzungen für B60A/B (nicht akute Para-Tetraplegie) sind erfüllt. Die komplizierte Epilepsie (z. B. stationäre Neueinstellung) ist mit 0,98 nur wenig höher bewertet als der Entzugskrampf (0,74), lediglich das Langzeitmonitoring bei komplizierter Epilepsie (das durch bestimmte Prozeduren definiert ist) ist höher bewertet (2,20), kann allerdings schon an einem Tag (untere Grenzverweildauer) erbracht werden. In der spezialisierten Epileptologie dürften je Fall deutlich höhere Kosten als 6400 € (unter Berücksichtigung des Basisfallpreises der Kalkulationsstichprobe, der auch im Folgenden verwendet wird) entstehen und dennoch sowohl medizinisch als auch volkswirtschaftlich gewinnbringend investiert sein. Die stationäre Behandlung der Multiplen Sklerose mit Komplikationen (ohne Para-/Tetraplegie, ohne Beatmungspflichtigkeit und ohne Operation) erbringt einen Erlös von 3000 €, ohne Komplikationen von 2300 €. Hier bildet sich das tatsächliche Versorgungsgeschehen nicht ab, die Erstkalkulation stützte sich allerdings auf eine sehr kleine Stichprobe. Die Neueinstellung eines Patienten mit degenerativer ZNS-Erkrankung und äußerst schweren Komplikationen und Komorbiditäten (ohne Para-/Tetraplegie, ohne Beatmungspflichtigkeit und ohne Operation) wird mit 4700 € vergütet (z. B. schwerer Parkinson mit Verwirrtheit, Systematrophien usw.).

Wie kommen diese Ungleichgewichte zustande? Eine wichtige Ursache ist, dass die meisten Patienten mit neurologischer Hauptdiagnose nicht in neurologischen Fachabteilungen, sondern in allgemeininternistischen oder geriatrischen Einrichtungen versorgt werden [4] [5]. Da sich die Eingruppierung nach Schweregrad vor allem auf die Nebendiagnosen stützt, werden die - durch die einweisenden Ärzte indizierten - besonderen Aufwände der neurologischen Versorgung im System nicht abgebildet.

Bereits während der Erstkalkulation haben verschiedene Fachgesellschaften und Verbände ihre Bedenken zum Verfahren vorgetragen. Einige davon werden im Projektbericht [3] berücksichtigt, hier einige Neurologie-relevante:

Schlaganfall: hier wurde auf unterschiedliche Versorgungsstrukturen (Stroke-Units) hingewiesen, insbesondere darauf, dass die Behandlung in Facheinrichtungen bzw. -kliniken aufwändiger und spezieller sei. Im Datensatz wurde jedoch „gefunden, dass trotz höherer Verweildauer dieser Patienten in den Fachkliniken die Kosten dort jedoch i. d. R. niedriger lagen” (3 (S. 62). Dabei wurden 258 Fälle in Fachkliniken 8987 Fällen in Nicht-Fachkliniken gegenübergestellt. Es sei nur am Rande vermerkt, dass Fachkliniken selten Einrichtungen der Maximalversorgung sind und nur eingeschränkt an der Akutversorgung teilnehmen 5. Es wären neurologische Fachabteilungen mit Beteiligung an der Notfallversorgung/Notaufnahme mit anderen Einrichtungen zu vergleichen gewesen. Multiple Sklerose: seitens der deutschen Multiple-Sklerose-Gesellschaft wurde vorgetragen, dass sich die erforderlichen differenzierten Maßnahmen nicht abbilden ließen. Es stellte sich heraus, dass sich die Kalkulation auf eine geringe Fallzahl mit einschlägiger Hauptdiagnose stützte. Mit einer adäquateren Abbildung nach Neukalkulation kann gerechnet werden. Epilepsie: Hier wird eine Überprüfung der Versorgungsabläufe bei Patienten mit hoher Verweildauer in der Nachkalkulation oder in einer repräsentativen Stichprobe empfohlen.

Aus der Sicht der Neurologie, die von der Einführung des DRG-Systems uneingeschränkt betroffen ist, stellt sich das - mit zeitlicher Latenz - selbstregulierende System als „Baustelle” dar, wobei ungewiss ist, ob die stationäre neurologische Versorgung zum Richtfest überhaupt noch anwesend ist oder, wie in anderen Ländern, nur noch eine wichtige Rolle in der konsiliarischen Versorgung stationärer internistischer, chirurgischer, geriatrischer und intensivmedizinischer Patienten spielen wird.

Soweit die lange Vorrede zur Situation eines von der DRG-Einführung betroffenen Faches. Psychiatrie, Psychotherapeutische Medizin und Kinder- und Jungendpsychiatrie sind von der grundlegenden Erneuerung der Krankenhausfinanzierung zunächst ausgenommen.

Andreas u. Mitarb. [6] geben eine Übersicht über die internationale Literatur zu Ansätzen, auch die stationäre Versorgung von Patienten mit psychischen Störungen über Fallpauschalen zu vergüten. Es besteht Einigkeit darüber, dass das ICD-basierte (und zur Grundlage der deutschen Fallpauschalenstruktur gemachte) AR-DRG-System aus strukturellen Gründen eine ausreichend kostenhomogene DRG-Eingruppierung für Patienten mit psychiatrischen und Suchterkrankungen nicht leisten kann.

Vorgeschlagene, für die Gruppenbildung nach Ressourcenverbrauch besser geeignete Klassifikationssysteme psychischer Störungen beziehen daher auch weitere Merkmale wie den psychopathologischen Schweregrad, das Funktionsniveau des Patienten oder soziale Charakteristika ein. Dennoch bleibt die Aufklärung der Varianz des Ressourcenverbrauchs unbefriedigend [6]. Daher werden formale Merkmale für die Anwendung der dargestellten Gruppierungen als Grundlage eines DRG-Systems nicht erfüllt (vgl. [2]).

Die stationäre neurologische Versorgung wird durch das in Einführung befindliche G-DRG-Systems vor allem deshalb bedroht, weil die ökonomisch bedeutsamsten neurologischen Erkrankungen (Schlaganfall, Epilepsie, degenerative Erkrankungen einschließlich M. Parkinson) auch von anderen Fächern mit anderem Leistungsprofil und anderen Kostenstrukturen behandelt werden, so dass die besonderen Aufwände neurologischer Versorgung in der Kalkulation nur unzureichend abgebildet werden. Dabei kann unterstellt werden, dass sich regional differenzierte Zuweisungswege für z. B. Neurologie, Innere Medizin oder Geriatrie etabliert haben [5].

In der Versorgung psychischer Erkrankungen existieren ebenfalls Anbieter mit unterschiedlichem Versorgungsprofil (z. B. psychiatrische vs. psychotherapeutische Abteilungen in psychiatrischen Fach-/Landeskliniken vs. Abteilungen an Akutkrankenhäusern vs. spezialisierte Einrichtungen), für die unterschiedliche Zuweisungsalgorithmen bei sich überlappenden Verteilungen der Diagnosen bestehen dürften. Als Neurologen sei mir die Vermutung gestattet, dass die Zuordnung von Fallkosten zu Diagnosen auch unter Berücksichtigung weiterer Merkmale, wie von Andreas u. Mitarb. [6] als die Varianzaufklärung verbessernd dargestellt, vom Setting der Abteilung abhängig bleibt.

Es muss also auch in der stationären Versorgung von Patienten mit psychischen Störungen befürchtet werden, dass die Ausdifferenzierung der bestehenden Struktur in Gefahr ist. Umgekehrt gibt die Einführung des Systems der stationären Neurologie die Gelegenheit, die Notwendigkeit einer flächendeckenden Versorgung zu belegen. Der Schlüssel zum Erhalt der stationären neurologischen Versorgung liegt im Nachweis der besseren Versorgungsqualität in einem differenzierten Zuweisungssystem. Unabhängig von der Einführung oder Nichteinführung von Fallpauschalen für Patienten mit psychischen Störungen wird ein entsprechender Nachweis auch von psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgungsstrukturen gefordert werden.

Literatur

  • 1 Commonwealth Department of Health and Aged Care .The structure and performance of v4.0 Australian Refined Diagnosis Related Groups. http://www.health.gov.au/hfs/casemix/struct.htm 2000
  • 2 Günster C, Klauber J, Schellschmidt H. Zur Implementierung eines AP-DRG-basierten Entgeltsystems in Deutschland - Regelungsbedarfe und erste empirische Hinweise für die Gewichtskalkulation. In: Arnold M, Litsch M, Schwartz FW (Hrsg.). Krankenhausreport '99 Stuttgart: Schattauer 2000: 245-269
  • 3 Schepers J, Winat K, Mündemann-Hahn A. Kalkulation der ersten deutschen Bewertungsrelationen für das G-DRG-System. Neuss: 3M Medica Health Information Services Institut 2002
  • 4 Kunze K, Berger J, Reuwand A. Häufige Diagnosen in deutschen neurologischen Kliniken im Jahre 1999.  Akt Neurol. 2001;  28 383-387
  • 5 Manwart S, Bartels C, Diete S, Görtler M, Lins H, Wallesch C W. Hauptdiagnosen in neurologischen Kliniken der Akutversorgung im Jahr 2000.  Akt Neurol. 2002;  29 166-170
  • 6 Andreas S, Dirmaier J, Koch U, Schulz H. DRG-Systeme in der Versorgung von Patienten mit psychischen Störungen: Zur Konzeption eines Klassifikationssystems für Fallgruppen. Fortschr Neurol Psychiat 2003

Prof. Dr. Claus-Werner Wallesch

Klinik für Neurologie der Otto-von-Guericke-Universität

Leipziger Str. 44

39120 Magdeburg

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