PiD - Psychotherapie im Dialog 2003; 4(1): 85-86
DOI: 10.1055/s-2003-37609
Interview
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Schule - ein Ort sozialer Angst?

Interview mit einer Lehrerin, die seit Jahren an einer berufsbildenden Schule unterrichtetUlrich  Streeck
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
05. März 2003 (online)

PiD: Frau F., ist die Schule heute ein Ort sozialer Ängste?

Frau F.: Die Schüler, die zu uns kommen - ich bin an einer berufsbildenden Schule - haben sehr unterschiedliche soziale Hintergründe, und das führt zu Spannungen. Manche kommen aus intakten Familien, andere haben ein Familienleben nie kennen gelernt und sind in Heimen aufgewachsen. Solche Spannungen haben beispielsweise vor Weihnachten wieder sehr stark zugenommen. In dieser emotional geladenen Zeit werden die Schüler noch aggressiver, im Umgang noch unhöflicher, pöbelhafter, und leistungsmäßig gute Schüler werden angefeindet.

PiD: Wie geschieht das dann?

Frau F.: Als Lehrer erfahren wir gewöhnlich nur von der Spitze des Eisbergs. Ein Beispiel, das erst kürzlich vorgefallen ist: Es gibt ein Wortgeplänkel zwischen zwei Schülerinnen, auf einmal springen beide auf, gehen sich an den Kragen, und die eine haut die andere auf das Mobiliar. Auch die Schülerinnen werden zunehmend aggressiver.

PiD: Und gewalttätiger?

Frau F.: Zum Teil ja. Viele Schüler sind es nicht gewohnt, gesehen und beachtet zu werden. Sie sind es nicht gewohnt, dass man sich grüßt, wenn man im Gang aneinander vorbei geht. Manchmal sind wir die Einzigen, die an den Geburtstag gedacht haben und gratulieren. Dass die eigene Person einen Wert hat, dass die Schüler als Person eine Bedeutung haben, ist einem Teil unserer Schüler zunehmend fremd. Sie haben das Gefühl, nicht wichtig zu sein, und da liegt der Umkehrschluss nahe, dass auch der andere nicht wichtig ist.

PiD: Sehen Sie angesichts zunehmender Aggressivität Folgen in der Lehrerschaft?

Frau F.: Es gibt Lehrer, die nach wie vor sehr engagiert sind und aus eigener Initiative Hilfe suchen oder sich beraten lassen, die sich an den schulpsychologischen Dienst wenden oder nach Supervision nachfragen, weil sie merken, dass sie an Grenzen stoßen und mehr Handwerkszeug benötigen, um mit solchen Jugendlichen umzugehen. Wir sind dafür nicht ausgebildet. Was wir in dieser Hinsicht benötigen, müssen wir uns selbst aneignen. Es gibt eine große Gruppe von Kollegen, die verbittert ist. Einmal hoch motivierte Kollegen, die einen sehr, sehr guten Unterricht gemacht haben, sind immer bitterer geworden, weil sie es u. a. mit aggressiven Schülern zu tun haben, mit denen sie möglicherweise nicht fertig werden.
Andere Kollegen sehen diese ganzen psychosozialen Probleme nicht als ihre Aufgabe an. Sie sehen ihren Unterricht als erfüllt an, wenn sie den Stoff durchgebracht haben. Die Kolleginnen neigen mehr als die Kollegen dazu, nicht nur den Lehrstoff, sondern auch das soziale Lernen einzubinden und das genauso wichtig zu nehmen.

PiD: Es kann schwierig sein, klare Grenzen zu setzen, gerade angesichts von ruppigem oder aggressivem oder grenzüberschreitendem Verhalten. Wie sieht das bei Ihnen in der Schule aus?

Frau F.: Wenn die Maßstäbe und Grenzen klar abgesteckt sind, lassen sich auch die Probleme oft in Grenzen halten. Die Räume sind sauberer, es werden fast keine Tische oder Stühle zerstört, es gibt mehr Teamgeist. Wenn die Grenzen nicht eindeutig sind, sondern eher so etwas wie eine Gummiwand, versuchen die Schüler immer mehr und werden immer aggressiver.

PiD: Ich entnehme daraus, dass das in anderen Bereichen der Schule anders aussieht und es Schwierigkeiten gibt, solche klaren Grenzen zu setzen?

Frau F.: Meiner Meinung nach ja, z. B. gehen manche Lehrer davon aus, dass sich solche Dinge wie unter Erwachsenen, gleichsam von Mensch zu Mensch regeln lassen müssten. Manche Kollegen bleiben immer auf der Mensch-zu-Mensch-Ebene stehen und nehmen nicht die Rolle wahr, die sie haben, und dann gibt es Konflikte und grenzüberschreitendes Verhalten.

PiD: Haben Sie einen Etat für Supervision oder Beratung? Was ist mit den von politischer Seite in Aussicht gestellten Schulpsychologen?

Frau F.: Darüber weiß ich nicht viel. Wir hatten mal eine ganze Zeit einen Schulpsychologen, der uns Supervision angeboten hatte, eine Art pädagogische Runde. Das ist eingeschlafen, nachdem der in Pension gegangen ist. Es gibt Kollegen, die sich Supervision suchen, aber auf freiwilliger Basis.
In unserer Abteilung sind wir allerdings noch Lichtjahre davon entfernt. Da gibt es erhebliche Ängste, weil vielleicht befürchtet wird, in Supervisionen könne einem eine Maske heruntergerissen werden.

PiD: Die Maske des Souveränen?

Frau F.: Da gibt es eine Mentalität, dass man alleine in die Klassen reingeht und da auch alleine durch muss. Das kann aber so nicht mehr gehen; die Anforderungen sind hoch. Wir haben natürlich die Aufgabe, den Stoff zu vermitteln. Mittlerweile müssen wir aber viel Sozialarbeit leisten, damit wir überhaupt unterrichten können. Insgesamt kriegen wir trotzdem nur begrenzt mit, was unter den Schülern los ist, wenn beispielsweise jemand irgendwann zusammenbricht und nicht mehr kann und dann erzählt, z. B. von Drogenmissbrauch. Außerdem hat sich auch die Art der Gewalt verändert. Grenzen werden zunehmend nicht mehr eingehalten. Man prügelt ohne Ende, hört nicht irgendwann auf, sondern drischt wirklich so lange ein, bis jemand mit Gewalt dazwischen geht und die auseinander bringt. Das habe ich vorher nie so erlebt wie in den letzten Jahren. Und es gibt eine neue Form von Gewalt in Form einer Art von wechselseitiger Bespitzelung und Erpressung. Vieles, was in meinen Augen gewalttätig ist, ist in den Augen vieler Schüler überhaupt nicht gewalttätig. Auch das hat sich verändert.

PiD: Hat die Angst nach Erfurt zugenommen?

Frau F.: Es gibt sicherlich Angst vor den Schülern, denn es gibt Drohungen wie „ich steche dir den Autoreifen platt” oder Andeutungen wie „Sie haben doch ein Kind”, die dann so im Raum stehen. Aber im Grunde genommen sind wir in der Berufsbildenden Schule das schon immer gewohnt. Wir sind gewohnt, mit Schülern umzugehen, die aus gescheiterten Lebensläufen kommen. Es gibt Schüler, die haben schon eingesessen[1]. Das erfahren wir oft nicht, aber die legen häufig ein ganz anderes Sozialverhalten an den Tag, anders als die anderen. Dann ahnt man schon, dass da irgendwas nicht stimmen kann. Aber üblicherweise wissen wir nicht, wen wir da in der Klasse haben. Wir können es mit jemandem zu tun haben, der eine kriminelle Vergangenheit hat, zu dem wir, wenn wir es wüssten, uns wahrscheinlich nicht mehr einigermaßen frei in der Klasse bewegen könnten.

PiD: Frau F., haben Sie vielen Dank für die Schilderung Ihrer beruflichen Situation.

1 im Jugendstrafvollzug

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