Fortschr Neurol Psychiatr 2003; 71(1): 7
DOI: 10.1055/s-2003-36686
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Kognitive Psychologie und klinische Neurowissenschaft

Cognitive Psychology and Clinical NeuroscienceC.-W.  Wallesch
Further Information

Publication History

Publication Date:
16 January 2003 (online)

Die kognitive Neuropsychologie hat zum Verständnis und zur Behandlung einer Vielzahl von Störungen höherer Hirnleistungen entscheidend beigetragen. Dabei wird das Verhalten einzelner Patienten hinsichtlich z. B. sprachlicher, arithmetischer oder Gedächtnisfunktionen hypothesengeleitet untersucht und auf Modelle der normalen Funktion abgebildet. Bei den verwendeten Modellen handelt es sich nicht um anatomische Strukturen und deren Verbindungen, sondern um abstrakte Komponenten der Verarbeitung, deren Existenz durch psychologische oder klinisch-neuropsychologische Beobachtungen postuliert wird. Dies bedeutet nicht, dass die Modelle der kognitiven Neuropsychologie und der funktionellen Anatomie beziehungslos nebeneinander stehen. Derzeit ist es jedoch so, dass valide Verknüpfungen zu einer einheitlichen Theorie wegen fehlender Daten häufig nicht möglich sind. Gerade im visuellen System sind die kognitiv und neurophysiologisch nachgewiesenen Komponenten allerdings mittlerweile sehr ähnlich.

Die Arbeit von Hildebrandt und Ebke [1], die ich der besonderen Aufmerksamkeit unserer Leserinnen und Leser empfehlen möchte, folgt dem kognitiv-neuropsychologischen Ansatz. Obwohl von einer weitgehend „reinen” Störung nur einer kognitiven Domäne angesichts der Art der Erkrankung, eines Schädelhirntraumas mit ausgedehnten rechts temporalen Kontusionsblutungen, primär nicht ausgegangen werden konnte, konnte das führende Symptom, ein schwerer Hemineglekt, dennoch - und sinnstiftend - vor dem Hintergrund kognitiver Modelle analysiert und interpretiert werden. Wir lernen, dass es in der Wahrnehmung auch halbe Dimensionen gibt [2] und dass es innerhalb der subjektiv einheitlichen Wahrnehmung Konflikte zwischen Koordinatensystemen geben kann [3].

Die Arbeit verdeutlicht die Methodik der kognitiven Neuropsychologie. Es werden Untersuchungen verwendet oder für die zu untersuchende Person neu entwickelt, die Entscheidungsexperimente für das Vorhandensein oder Fehlen eines unter theoriegeleiteter Betrachtung wichtigen Aspekts der Phänomenologie der Störung sind. Dabei ist das einzelne Experiment durchaus statistischer Analyse zugänglich. Häufig entbrennt der wissenschaftliche Diskurs daran, ob oder ob nicht die verwendeten Untersuchungen tatsächlich als Entscheidungsexperimente angesehen werden können. So habe ich z. B. Zweifel, ob das Lesen vertikal dargebotener Wörter tatsächlich eine Entscheidung zwischen stimulus- und objektzentrierter Repäsentation erlaubt oder ob der Rechts-Links-Gradient wegen des Vorhandenseins zweier Hirnhemisphären nicht eine anatomisch vorgegebene, basale Eigenschaft des Neglekts darstellt. Derartige Diskussionen können für die Weiterentwicklung der Modelle anhand weiterer Einzelfallanalysen ungemein fruchtbar sein.

(Einzel-) Patientenbezogene kognitiv-neuropsychologische Analysen können wichtige Ansätze für die individuelle Therapie und deren jeweilige Verlaufskontrolle und Weiterentwicklung geben. Dieser Aspekt stand bei der hier vorgestellten Patientin nicht im Vordergrund, kognitiv orientierte Therapiestrategien bei Neglekt wurden jedoch bereits erfolgreich eingesetzt. [4].

Literatur

  • 1 Hildebrandt H, Ebke M. Neglektdyslexie nach traumatischer fronto-temporaler Blutung rechts.  Fortschr Neurol Psychiat. 2002;  70 901-923
  • 2 Marr D. Vision. New York: Freeman 1982
  • 3 Karnath H-O. Subjective body orientation in neglect and the interactive contribution of neck muscle proprioception and vestibular stimulation.  Brain. 1994;  117 1001-1012
  • 4 Pizzamiglio L, Antonucci G, Judica A, Montenero P, Razzano C, Zoccolotti P. Cognitive rehabilitation of the hemineglect disorder in chronic patients with unilateral right-brain damage.  J Clin Exp Neuropsychol. 1992;  14 901-923

Prof. Dr. C.-W. Wallesch

Klinik und Poliklinik für Neurologie der Otto-von-Guericke-Universität

Leipziger Str. 44

39120 Magdeburg

    >