Migration und soziale Situation
Migration und soziale Situation
Flüchtlingskinder, Kinder von ehemaligen „Gastarbeitern” oder russlanddeutsche Kinder
und Jugendliche - um nur die Vertreter einiger für Deutschland typischer Migrantengruppen
zu nennen - unterscheiden sich nicht nur in ihrer aufenthaltsrechtlichen Situation
und der daran geknüpften Gewissheit oder Ungewissheit hier zu bleiben. Sie unterscheiden
sich auch in ihrer ökonomischen und Wohnsituation, in ihrer Migrationsgeschichte,
in sprachlichen, kulturellen und religiösen Wurzeln. Während Aussiedlerkinder und
-jugendliche zumeist mit ihren Eltern eingewandert sind und den Bruch mit vertrauten
kulturellen Mustern unvermittelt erlebt haben, stellt sich die Situation für die „dritte”
Generation der Arbeitsmigranten, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist,
anders dar. Flüchtlingskinder müssen zusätzlich zur Migration und dem dadurch bedingten
Milieubruch traumatisierende Kriegs- und Vertreibungserlebnisse bewältigen. Russlanddeutsche
Eltern verließen ihre Heimat in der Regel ohne Rückkehrorientierung, die erste Generation
der Arbeitsmigranten wie die aus der Türkei beabsichtigte dagegen nur einen vorübergehenden
Aufenthalt. Die Migrantengruppen unterscheiden sich aber auch in ihrer zahlenmäßigen
Größe und dem Grad ihrer sozialräumlichen Isolierung. Vor allem Arbeitsmigranten türkischer
Herkunft und Aussiedlerfamilien leben in ethnischen Gettos [Boos-Nünning, Otyakmaz 2002 ]. Nicht zuletzt sprechen die Kinder und Jugendlichen je nach Herkunft eine andere
Sprache und sind kulturell wie religiös in unterschiedlicher Weise verankert.
Der Begriff „Migrant” vereint also die vielfältigsten Migrationsverläufe. Was ist
nun den von uns als Migranten bezeichneten Kindern und Jugendlichen gemeinsam? Auf
eine kurze Formel gebracht, ist ihnen eine Situation gemeinsam, die durch die eigene
oder die Migrationserfahrung ihrer Eltern geprägt ist. Migranten der dritten Generation
erfassen wir nur, wenn sie oder ihre Eltern über eine nichtdeutsche Staatsangehörigkeit
verfügen. Die Situation der Kinder und Jugendlichen aus Migrantenfamilien ist vor
allem dadurch gekennzeichnet, dass sie sich in der Einwanderergesellschaft - gleichsam
zwischen der Herkunftskultur ihrer Eltern und der Kultur der Aufnahmegesellschaft
- kulturelle Praktiken aneignen und sich sozial orientieren. Im Unterschied zu Kindern
ohne Migrationshintergrund charakterisiert Migranten neben der geschlechts-, milieu-
und generationsspezifischen eine ethnische Zugehörigkeit, die durch die Jugendlichen
selbst hergestellt oder als Fremdkonstruktion erfahren und bearbeitet wird [Bohnsack, Nohl 1998 ].
Der Begriff „Ausländer” wird vor allem in der amtlichen Statistik verwendet und fasst
Personen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit zusammen. Im vorliegenden Artikel
wird von „Ausländern” bzw. „Kindern und Jugendlichen ausländischer Herkunft” gesprochen,
wenn nur nach dem Merkmal der Staatsangehörigkeit differenziert wird. „Kinder und
Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache” wird dagegen synonym zu „Migranten” gebraucht
und schließt (Spät-)Aussiedler sowie Eingebürgerte mit ein.
Trotz aller Heterogenität tragen Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien ein
ungleich höheres Risiko, in sozial benachteiligter Lage zu leben. Sie gehören häufiger
unteren sozialen Schichten an und kommen überproportional oft aus Familien mit prekären
Erwerbs- und Einkommenssituationen [Boos-Nünning 2000 ]
[David et al. 2000 ]. Schüler mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit besuchen doppelt so oft wie deutsche
Schüler die Hauptschule, während sich beim Gymnasium das Verhältnis umkehrt. Die Rate
derer, die die Schule ohne Abschluss verlassen, betrug 1997 unter den nichtdeutschen
Schülern 19,4 %, unter den deutschen Schülern dagegen nur 7,7 % [Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2000 ]. Soziale Benachteiligung geht aber mit geringeren Gesundheitschancen und einem ungünstigeren
Gesundheitsverhalten einher. Wie sich die besonderen Lebensbedingungen von Kindern
und Jugendlichen in Migrantenfamilien auf ihre gesundheitliche Lage auswirken, ist
noch weitgehend unerforscht.
Gesundheitliche Lage von Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien
Gesundheitliche Lage von Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien
Wenn auch zögerlich, so rückt doch stetig die gesundheitliche Lage von Migranten in
das Blickfeld von Wissenschaft, Praxis und politischem Handeln. Forschungsbeiträge
diskutieren das Thema vor allem unter zwei Aspekten:
Zugangsbarrieren und die Angemessenheit von gesundheitlicher Versorgung für die Gruppe
der Migranten sowie
gesundheitliche Belastungen und Gesundheitsverhalten von Migranten(-gruppen).
Erste Erkenntnisse über Besonderheiten der gesundheitlichen Lage von Migrantenkindern
und -jugendlichen liefern Erfahrungsberichte von Klinik- und niedergelassenen Ärzten.
Sie analysieren u. a., wie der kulturelle Kontext der Kinder und Jugendlichen die
Arzt-Patienten-Beziehung und das Krankheitsgeschehen (mit)prägt [Cerci 2002 ]
[Pölzelbauer 2001 ]. Studien und Statistiken zur Kinder- und Jugendgesundheit fehlt bislang eine hinreichende
Operationalisierung des Migrantenstatus; sie differenzieren zumeist lediglich nach
dem Merkmal der Staatsangehörigkeit. Damit ist es nicht möglich, Aussagen für Aussiedler-
und eingebürgerte Kinder und Jugendliche zu treffen. In den seltensten Fällen kann
nach Herkunftsland und Aufenthaltsstatus differenziert werden. Eine migrantenspezifische
Auswertung von Daten einer repräsentativen Befragung 11- bis 15-jähriger Schülerinnen
und Schüler aus Nordrhein-Westfalen zeigt jedoch, dass das Herkunftsland und daran
geknüpfte soziokulturelle Hintergründe ein zentrales Merkmal zur Erklärung von Unterschieden
im Gesundheitszustand und im Gesundheitsverhalten sind [Settertobulte 2002 ]. Bezogen auf gesundheitliche Belastungen präsentieren Studien ein recht uneinheitliches
Bild: Während die Ergebnisse aus NRW - gemessen an dem Auftreten von Kopf- und Magenschmerzen
- auf einen schlechteren Gesundheitszustand von Migranten deuten, ergibt eine Münchener
Regionalstudie nur geringfügige Differenzen zwischen deutschen und nichtdeutschen
Jugendlichen im Auftreten gesundheitlicher Beschwerden [Settertobulte 2002 ]
[Gesundheitsreferat der Landeshauptstadt München 1997 ]. Es zeichnet sich ab, dass - bezogen auf Alkohol- und Zigarettenkonsum - nicht von
einem riskanteren Gesundheitsverhalten der Migrantenjugendlichen gesprochen werden
kann [Surall, Siefen 2002 ]
[Strobl, Kühnel 2000 ]
[Settertobulte 2002 ]. Bedeutsame Unterschiede scheinen sich dagegen in der Einstellung zu Vorsorgeuntersuchungen
zu manifestieren. Darauf deuten Studien hin, die eine schlechtere Zahngesundheit und
einen geringeren Impfschutz von Kindern ausländischer Herkunft konstatieren [Gesundheitsamt der Stadt Nürnberg 1997 ]
[Stadt Münster 1998 ]. Ähnliches gilt für den Umgang mit chronischen Krankheiten. Die HbA
1c
-Werte (Hämoglobin-A
1c
) der in zwei Kinderkliniken untersuchten Diabetes-Patienten ausländischer Herkunft
lagen signifikant über denen der Patienten deutscher Herkunft [Hecker et al. 1998 ]. Die schlechtere Stoffwechseleinstellung der Kinder und Jugendlichen ausländischer
Herkunft wird u. a. auf andere Ernährungsgewohnheiten, Krankheitskonzepte und ein
geringeres Wissen über Diabetes mellitus bzw. auf fehlende migrantensensible Schulungs-
und Therapieangebote zurückgeführt.
Die bisherige Datenlage muss trotz erster Ergebnisse noch als sehr unbefriedigend
beurteilt werden: Studien sind regional, auf eine bestimmte Altersspanne, auf ausgewählte
Migrantengruppen und/oder Krankheits- und Gesundheitsfelder begrenzt. Der Kinder-
und Jugendgesundheitssurvey (KJS) hat sich zum Ziel gesetzt, erstmals bundesweit aussagefähige
Daten über die gesundheitliche Situation von Kindern und Jugendlichen nichtdeutscher
Herkunftssprache zu erheben. Neben einem Erhebungsinstrument, das die Identifikation
von Migrantengruppen erlaubt, ist es erforderlich, Migranten proportional zu ihrem
Anteil in der Bevölkerung in den Survey einzubeziehen.
Teilnahmebereitschaft und Stichprobeneffekte
Teilnahmebereitschaft und Stichprobeneffekte
Der Pretest des KJS ergab, dass die Gruppe der Migranten nicht ohne weiteres für eine
Teilnahme an einer (Gesundheits-)Untersuchung gewonnen werden kann. Die Pretestphase
erstreckte sich auf ein Jahr, erhoben wurde in vier verschiedenen Orten zu jeweils
zwei verschiedenen Zeitpunkten. Die Studienteilnehmer und -nichtteilnehmer, die in
die folgenden Analysen einbezogen werden, wurden über das Einwohnermelderegister (EMR)
nach einem statistischen Zufallsverfahren ausgewählt. Damit sind auch Personen ausländischer
Herkunft eingeschlossen, und zwar unabhängig davon, ob sie über einen gesicherten
Aufenthaltsstatus verfügten oder nicht. Ausgeklammert bleiben dagegen nicht amtlich
registrierte Migranten. Die Brutto-Stichprobe umfasst die verschiedensten Zuwanderergruppen,
in der Hauptsache Arbeitsmigranten aus der Türkei und Vietnam, (Spät-)Aussiedler aus
Russland und Kasachstan sowie bosnische Kriegsflüchtlinge. Der Migrantenanteil beträgt
in der bereinigten Brutto-Stichprobe 14,1 % (312 von 2211). Die Probanden wurden schriftlich
zur Untersuchung eingeladen und - sofern sie sich eine Woche vor Untersuchungsbeginn
noch nicht gemeldet hatten - telefonisch kontaktiert oder persönlich aufgesucht. Entschieden
sich die Adressaten gegen eine Teilnahme oder wurden sie nicht erreicht, wurden die
Ausfallgründe in einem Adressprotokoll dokumentiert. Die Untersuchung im Studienzentrum
beinhaltete eine Befragung per Fragebogen sowie eine medizinische Untersuchung und
ein ärztliches Interview [Kamtsiuris et al. 2002 ].
Abb. 1 Vergleich der Ausländeranteile: amtliche Statistik, Brutto-Stichprobe, bereinigte
Brutto-Stichprobe und Netto-Stichprobe (EMR-Zugang).
Abb. 1 umfasst alle Erhebungspoints, für die das Einwohnermelderegister die Information
über die Staatsangehörigkeit bereitstellte. Sie verdeutlicht, dass die Brutto-Stichprobe,
so wie sie nach der Ziehung aus dem Einwohnermelderegister vorliegt, den Anteil der
Ausländer in der jeweiligen Bevölkerung relativ adäquat widerspiegelt. In der bereinigten
Brutto-Stichprobe - nach Abzug der stichprobenneutralen Ausfälle (falsche Adresse
bzw. Zielperson ist verzogen, Adressat ist zu alt oder wurde zweimal gezogen) - ist
der Ausländeranteil weitaus geringer als der amtliche, was auf die hohe Rate qualitätsneutraler
Ausfälle unter Kindern und Jugendlichen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit zurückzuführen
ist. Mit 17,5 % ist sie unter Migranten fast doppelt so hoch wie unter Nicht-Migranten
(9,6 %). Eine geringe Teilnahme vergrößert schließlich die Schere zwischen dem Anteil
an Probanden nichtdeutscher Staatsangehörigkeit in der Netto-Stichprobe und dem Anteil
amtlich registrierter Ausländer (Abb. 1 ).
Eine niedrige Teilnahmerate erhöht aber die Gefahr einer Stichproben-Verzerrung für
die Gruppe der Migranten, und zwar dann, wenn sich teilnehmende und nichtteilnehmende
Migranten nicht zufällig, sondern systematisch unterscheiden. Das würde die Verallgemeinerbarkeit
der Ergebnisse für die Teilpopulation der Migranten stark einschränken. Eine niedrige
Teilnahmerate bedeutet bei Subpopulationen außerdem eine noch kleinere Unterstichprobe,
die für die Probanden nichtdeutscher Herkunftssprache kaum detaillierte Auswertungen,
z. B. differenziert nach Herkunftsland, zulässt.
Seit Anfang der 70er-Jahre sind ca. 10 bis 15 % der in Deutschland geborenen Kinder
nichtdeutscher Staatsangehörigkeit [Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2000a ]. Werden Aussiedler und eingebürgerte Kinder hinzugezählt, erhöht sich der Anteil
der Migrantenkinder auf bis zu 20 %. Ihre unzureichende Einbindung würde damit nicht
nur eine Stichprobenverzerrung für die Teilpopulation der Migranten bedeuten, sondern
auch die Repräsentativität der Stichprobe insgesamt bedrohen. Untersuchungsleitend
für den Pretest war daher die Fragestellung, wie Zugangswege und Teilnahmedingungen
für Probanden nichtdeutscher Herkunftssprache optimiert werden können. Das schloss
eine differenzierte Analyse des Teilnahmeverhaltens und der Ausfallgründe ein, die
sowohl qualitativ als auch quantitativ erhoben wurden. Im Folgenden werden Ergebnisse
des Pretests skizziert, um anschließend die daraus für die Hauptphase abgeleitete
migrantenspezifische Vorgehensweise vorzustellen.
Teilnehmerresponse von Migranten
Teilnehmerresponse von Migranten
Für die Non-Responder-Analysen wurden Merkmale wie nichtdeutscher Vor- und Zuname
zusätzlich zum Merkmal der Staatsangehörigkeit herangezogen, um auch eingebürgerte
Migranten und Aussiedler in die Auswertung einzuschließen. Sofern möglich, wird mit
dieser erweiterten Migrantenkategorie gearbeitet, da größere Zahlen differenziertere
Analysen erlauben. In einigen Fällen kann jedoch nur nach deutscher und nichtdeutscher
Staatsangehörigkeit differenziert werden. Aufgrund der geringen Fallzahlen besitzen
die Ergebnisse dann nur bedingte Aussagekraft, können aber Tendenzen verdeutlichen.
Mit 44,2 % liegt die Teilnahmequote der Migranten signifikant unter der der Nicht-Migranten
(57,7 %). Die Response unterscheidet sich vor allem nach Herkunftsland und Altersgruppe.
Eine ausgesprochen hohe Teilnahmebereitschaft weisen Adressaten mit polnischer Staatsangehörigkeit
auf (83,3 %), eine eher niedrige Response lässt sich unter Ausländern aus dem ehemaligen
Jugoslawien (19 %), aus der Türkei (33,3 %) und aus Vietnam (33,3 %) verzeichnen.
Dies schlägt sich in der Netto-Stichprobe nieder: Vor allem Probanden aus dem ehemaligen
Jugoslawien und Vietnam sind unterrepräsentiert, während EU-Bürger bzw. Probanden
mit amerikanischer sowie Teilnehmer mit polnischer Staatsangehörigkeit deutlich überrepräsentiert
sind (Tab. 1 ).
Tab. 1 Response von Kindern und Jugendlichen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit im Pretest
Herkunftsland
Brutto-Stichprobe
bereinigte Brutto-Stichprobe
Netto-Stichprobe
n
in %
n
in %
n
Anteile in %
Response in %
EU oder USA
13
8,6
10
10
5
13,2
50,0
ehem. UdSSR
16
10,6
9
9
4
10,5
44,4
ehem. Jugoslawien
28
18,5
21
21
4
10,5
19,0
Polen
8
5,3
6
6
5
13,2
83,3
Türkei
31
20,5
21
21
7
18,4
33,3
Vietnam
25
16,6
15
15
5
13,2
33,3
sonstige
30
19,9
18
18
8
21,1
44,4
gesamt
151
100,0
100
100,0
38
100,0
Abb. 2 Response nach Altersgruppe und Staatsangehörigkeit.
Während in den jüngeren Altersgruppen die Teilnahmequote bei Kindern und Jugendlichen
ausländischer Herkunft sogar über der der Nicht-Migranten liegt, lässt sich eine auffallend
geringe Response bei den 14- bis 17-Jährigen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit
feststellen (Abb. 2 ). Sie bzw. ihre Eltern waren besonders oft nicht erreichbar oder hatten kein Interesse,
an der Studie teilzunehmen.
Abb. 3 Response nach Erhebungspoints (n = 2211).
Im Verlauf des Pretests wurden Erhebungsbedingungen modifiziert, um mögliche Effekte
auf die Response von Migranten abschätzen zu können. So wurden in Auswertung der qualitativen
Non-Responder-Analyse Einladungsschreiben angepasst und in der zweiten Erhebungsrunde
versandt. In einem Erhebungspoint (Friedrichshain/2. Runde) wurden migrantenspezifische
Medien in die Öffentlichkeitsarbeit einbezogen und den Adressaten türkischer, russischer
und serbokroatischer Herkunftssprache wurde bereits mit dem Erstanschreiben eine Übersetzung
desselben beigelegt. Ebenfalls in der zweiten Erhebungsrunde wurde eine übersetzte
Fassung des Fragebogens erarbeitet und eingesetzt. Die Wirkung der modifizierten Erhebungsbedingungen
kann nicht genau gemessen werden, da auch das Incentive-Konzept verändert wurde. Es
kann aber vermutet werden, dass der deutlich höhere Rücklauf in Friedrichshain (2. Runde)
von 60,6 % vor allem auf die migrantenspezifische Öffentlichkeitsarbeit und die übersetzten
Anschreiben zurückzuführen ist. In Wesendorf ist die Response im zweiten Erhebungsdurchgang
11,6 % höher als im ersten. Diese Unterschiede in der Response lassen sich u. a. damit
begründen, dass hier die ins Russische übersetzte Fragebogenversion zum Tragen kam,
da in Wesendorf ein hoher Anteil Russlanddeutscher lebt (Abb. 3 ).
Analysen des Teilnahmeverhaltens von Migranten beziehen sich bisher ausschließlich
auf Untersuchungen, die mit der Erhebungsmethode „mündliches Interview” realisiert
wurden [Allerbeck, Hoag 1985 ]
[Koch 1997 ]
[Blohm, Diehl 2001 ]. Zur Teilnahmebereitschaft von Migranten an Gesundheitsstudien mit medizinischem
Erhebungsteil liegen keine systematischen Untersuchungen vor. Die Gegenüberstellung
der Non-Responder-Gründe (Abb. [4 ]), so wie sie in den Adressprotokollen festgehalten wurden, macht vor allem Folgendes
deutlich:
Mit 7,4 % kann zwar ein nicht zu vernachlässigender Teil der Probanden mit Migrationshintergrund
aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse - weil eine Verständigung erst gar nicht möglich
ist - nicht an der Untersuchung teilnehmen, dieser Anteil liegt aber weit unter dem
in anderen Studien ermittelten (z. B. ALLBUS 1996: 15,2 % [in: Blohm, Diehl 2001 ]). Das mag zum einen daran liegen, dass mit den Zielpersonen des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys
(Eltern von bis zu 18-jährigen Kindern) im Unterschied zu bevölkerungsrepräsentativen
Studien nicht das gesamte Altersspektrum erfasst wird. Je jünger die Probanden - zumindest
unter den Migranten aus ehemaligen Anwerbeländern -, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit,
dass ein Schulabschluss in Deutschland möglich war und damit vergleichsweise gute
Deutschkenntnisse erworben werden konnten. Zum anderen sind in diesem Anteil nicht
diejenigen Eltern enthalten, die sich aufgrund nicht ausreichender Deutschkenntnisse
nur partiell oder auch gar nicht an dem Befragungsteil beteiligen konnten, deren Kinder
aber einen Fragebogen ausfüllen und/oder an den medizinisch-physikalischen Untersuchungen
teilnehmen konnten.
Wie in anderen Untersuchungen auch waren Migranten im Pretest des KJS schlechter erreichbar
als Deutsche. Das kann u. a. damit begründet werden, dass generell die Erreichbarkeit
in Großstädten geringer ist als in ländlichen Gebieten, der Anteil an Migranten, die
in Großstädten leben, aber wiederum höher ist.
Abb. 4 Vergleich der Ausfallgründe nach Probanden deutscher und nichtdeutscher Herkunftssprache
(EMR-Stichprobe) (n = 2211).
Der deutlichste Unterschied zwischen Migranten und Nicht-Migranten lässt sich für
den Ausfallgrund „kein Interesse, vom Sinn und Zweck der Studie nicht überzeugt” konstatieren.
Da in anderen Studien (reinen Befragungen) eine hohe Kooperationsbereitschaft auf
Seiten der Migranten festgestellt wurde, ist zu vermuten, dass diese höhere Ablehnung
in der spezifischen Ausrichtung des Gesundheitssurveys - nämlich in der Kopplung von
Befragung und medizinischer Untersuchung - begründet ist. Diese Vermutung wird durch
die Ergebnisse der qualitativen Non-Responder-Analyse bestätigt.
Non-Responder-Orientierungen
Non-Responder-Orientierungen
Erst mithilfe der Rekonstruktion von (Non-)Responder-Mustern war es möglich, Öffentlichkeitsarbeit
und Anschreiben gezielt zu modifizieren und auf migrantentypische Vorbehalte und Ängste
einzugehen. Im Folgenden werden Non-Responder-Orientierungen vorgestellt, deren Rekonstruktion
auf Gesprächen mit Nichtteilnehmern im Rahmen von Hausbesuchen basiert. In Gedächtnisprotokollen
wurden die Gespräche und Beobachtungen aufgezeichnet, Reflexionen über methodisches
Vorgehen notiert und erste Interpretationen vorgenommen. Insgesamt wurden 34 Beobachtungsprotokolle
erstellt. Die Auswertung der Gedächtnisprotokolle orientierte sich an der dokumentarischen
Methode [Bohnsack 1997 ].
Die Teilnahme am Survey - ein überflüssiger Arztbesuch?
Mit dem Anschreiben werden die Probanden zu einer „Untersuchung” eingeladen. Der Begriff
„Untersuchung” wird von den Non-Respondern nichtdeutscher Herkunftssprache in der
Regel mit einer ärztlichen und nicht mit einer wissenschaftlichen Untersuchung gleichgesetzt.
Damit wird das Gesundheitsverhalten - nämlich die Einstellung zum Arztbesuch, zu einer
Vorsorgeuntersuchung etc. - zu einer zentralen Kategorie für die Teilnahmebereitschaft.
Bezogen auf die Teilnahme an medizinischen Untersuchungen lassen sich unterschiedliche
Orientierungen unter den Non-Respondern ausmachen, die davon abhängig sind, welche
Art der medizinischen Untersuchung mit dem Survey verbunden wird.
Typisch für Non-Responder, die den Survey mit einer Vorsorgeuntersuchung gleichsetzen,
ist, dass diese als überflüssig erachtet wird, da medizinische Untersuchungen nur
bei Krankheit für erforderlich gehalten werden. Die ablehnende Einstellung gegenüber
Vorsorgeuntersuchungen ist keine migrantentypische, sondern auch in Abhängigkeit vom
sozialen Status zu sehen. So belegen neuere empirische Ergebnisse eine Abnahme der
Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen mit geringerem sozioökonomischen Status [Mielck 2000 ]. Der ablehnenden Haltung gegenüber Vorsorgeuntersuchungen kann eine symptomgebundene
Krankheitsauffassung zugrunde liegen: Symptomfrei bedeutet gesund zu sein. Sie kann
auch mit einer fatalistischen Krankheitsauffassung einhergehen: Die Gesundheit liegt
in einer fremden Macht. Diese eher passive Krankheitseinstellung unterschätzt den
Zusammenhang zwischen eigenem (gesundheitsbezogenem) Verhalten und Gesundheitszustand
[Becker 2001 ]. Schließlich kennen zahlreiche Migrantengruppen präventive Maßnahmen aus ihren Herkunftsländern
nicht. Die Teilnahme am Survey wird auch dann ausgeschlagen, wenn Probanden Vorsorgeuntersuchungen
zwar positiv gegenüberstehen, eine solche aber noch nicht so lange zurückliegt. Von
einer Teilnahme am Survey wird kein Informationsgewinn mehr erwartet.
In einem weiteren Orientierungsmuster wird der Survey als Institution verstanden,
die die generelle medizinische Betreuung des Kindes übernehmen will. Hier wird befürchtet,
dass die Gesundheitspflege den Eltern aus der Hand genommen wird. Der Survey wird
daher als exteriore Maßregelung empfunden.
Schließlich besteht die Orientierung, dass der Survey ein lästiger Arztbesuch sei,
von denen schon genug absolviert werden müssten.
Zum Auswahlmodus: ausgewählt oder auserwählt?
Die Auswahl der Probanden erfolgt zufällig, also für den Einzelnen unerwartet. Ob
der Zufall als glücklicher gewertet wird, hängt u. a. davon ab, ob die Probanden an
den Zufall der Auswahl glauben oder Ängste haben, mit (negativer) Absicht, also nicht
zufällig, angeschrieben worden zu sein. Solche Ängste bestehen vor allem dann, wenn
der Aufenthalt nicht gesichert ist und eine Abschiebung befürchtet wird. „Na, ich
bin doch auserwählt worden!”, antwortet dagegen die 14-jährige T. auf die Frage, warum
sie an der Studie teilgenommen habe. Der Zufall der Auswahl wird hier mit etwas Besonderem,
einer Auszeichnung, gleichgesetzt. Das Besondere bleibt jedoch nicht abstrakt. Es
bedeutet, dass die Ziele der Studie positiv besetzt werden und ein persönlicher Nutzen
gesehen wird.
Es ist den Probanden wichtig, nachvollziehen zu können, wie sie und warum gerade sie
ausgewählt werden. Dies verdeutlichen zahlreiche Nachfragen der Non-Responder. Das
Nicht-Wissen um die Zufälligkeit der Auswahl kann sogar zur Ablehnung der Studie führen,
auf jeden Fall kann sich das Wissen um den Zufall stimulierend auswirken.
Angst vor zusätzlichen Kosten
Obgleich in dem Anschreiben, das die Probanden erhalten, der Hinweis enthalten ist,
dass die Untersuchungen kostenlos sind, fragten Probanden immer wieder, ob die Untersuchungen
etwas kosten würden und sie zum Untersuchungstermin Geld mitbringen müssten. Es bestehen
Ängste, dass ihnen eine zahlungspflichtige Leistung verkauft werden soll. Asylsuchende
und Kriegsflüchtlinge haben zudem nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nur einen begrenzten
Anspruch auf medizinische Leistungen. Das Asylbewerberleistungsgesetz reduziert die
Versorgungsleistungen für diese Gruppe auf akute Erkrankungen und Schmerzzustände
sowie Schwangerenbetreuung und Impfschutz. Alles darüber Hinausgehende muss selbst
getragen werden. Dies wird auch bei dem Survey befürchtet.
Generationenspezifische Orientierungen
Die Zugehörigkeit zu einer Generation konstituiert einen gemeinsamen Erfahrungsraum.
Das bedeutet gemeinsames Erleben zeitgeschichtlicher Veränderungen, gleichartige Sozialisationsprozesse
und auch ähnliches Verarbeiten der Migration. Die Beobachtungen legen nahe, dass sich
die (Non-)Responder-Orientierungen generationenabhängig unterscheiden. Waren Eltern
der Studie gegenüber ablehnend oder desinteressiert, so zeigten sich ihre Kinder im
persönlichen Gespräch häufig interessiert und aufgeschlossen dem Vorhaben gegenüber.
Dass die Kinder in der Regel nichts von der Studie wussten, kann entweder heißen,
dass die Eltern die Einladungsschreiben gar nicht erst zur Kenntnis genommen haben
(sprachliche Hürden/auf amtliche Schreiben bezogene Barrieren etc.) oder dass die
Kinder nicht in die Teilnahme-Entscheidung einbezogen wurden.
Der Survey - ein Experiment
Das Misstrauen gegenüber dem Survey transportiert in zugespitzter Weise die Aussage:
„Meine Kinder sind keine Versuchskaninchen.” Es ist wichtig, zur Kenntnis zu nehmen,
welche Befürchtungen sich hinter dieser Aussage verbergen, um diesen ggf. entgegenwirken
zu können. Zunächst einmal impliziert der von einer Non-Responderin verwendete pejorative
Begriff „Versuchskaninchen” Unmenschlichkeit, Individuen werden zu Versuchstieren
degradiert. Weiterhin verbinden sich mit dem Begriff: kommerzielle Zwecke bzw. kein
eigener Nutzen; unlautere Absichten; Gefahr für Leib und Seele - ein ungewisser Ausgang;
Ausgeliefertsein; überflüssige Studien; Tests/Experimente; Spritzen. Insbesondere
die angestrebte Blutentnahme führt zu dieser ablehnenden Haltung. Becker et al. [2001 ] begründen mit der Blutentnahme verbundene Ängste damit, dass der Blutverlust (bei
Patienten türkischer Herkunft) mit der Schwächung des Menschen gleichgesetzt wird;
dass das Blut als eine konstante Menge betrachtet wird, die nicht regenerierbar ist
und dass die Menge des Blutes im Körper unterschätzt, die abgegebene aber überschätzt
wird.
Gesundheitskontrolle
Ausländer, die in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden, sind verpflichtet,
sich nach der Einreise einer medizinischen Untersuchung auf Infektionskrankheiten
zu unterziehen. In der Regel betrifft das die Gruppe der Asylbewerber und Kriegsflüchtlinge.
Gesundheitsuntersuchung wird von ihnen auch mit einer Gesundheitskontrolle verbunden,
die insbesondere vor dem Hintergrund der Aufenthaltsunsicherheit Misstrauen schürt.
Nicht alle vorgestellten Non-Responder-Orientierungen sind migrantentypisch oder kulturspezifisch
geprägt. Die Mehrzahl der Orientierungen basiert auf der Annahme, dass der Survey
eine medizinische Untersuchung sei. Diese Annahme begegnet einem auch bei Nicht-Migranten,
migrationsbedingte Faktoren wie sprachbezogene Unsicherheiten und fehlendes Wissen
über die Aufnahmegesellschaft begünstigen sie aber.
Teilnahmemotive
Teilnahmemotive
Was des einen Motiv zur Nichtteilnahme ist des anderen Motiv zur Teilnahme. Handlungsleitend
sind vor allem drei Teilnahmemotive: die Überprüfung des Gesundheitszustandes ohne
akuten Anlass, die Klärung eines konkreten gesundheitsbezogenen Problems und - wie
bereits angeführt - der Zufall der Auswahl.
Die Möglichkeit, sich ohne akuten Anlass „mal durchchecken zu lassen”, ist ein ganz
wesentliches Teilnahmemotiv sowohl für teilnehmende Eltern als auch für teilnehmende
Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache. Hier unterscheiden sich Migranten nicht
von den Teilnehmern deutscher Herkunftssprache. Eine im Rahmen des Pretests durchgeführte
Akzeptanzbefragung unter Studienteilnehmern ergab, dass der Informationsgewinn über
den Gesundheitszustand generell der häufigste Teilnahmegrund ist.
Im Umgang mit konkreten gesundheitsbezogenen Problemen haben entweder die Jugendlichen
selbst Klärungsbedarf oder Eltern nutzen die Surveyteilnahme, um die Kinderärztin
in aktuellen Fragen zu konsultieren und sich so ggf. einen Arztbesuch zu sparen.
Migrantenspezifische Vorgehensweise für die Hauptphase
Migrantenspezifische Vorgehensweise für die Hauptphase
Die Einbindung von Migranten in den Kinder- und Jugendsurvey entsprechend ihres Anteils
in der Bevölkerung geht mit einem erhöhten Aufwand einher. Die Bemühungen erstrecken
sich vor allem auf die Teilnehmergewinnung sowie auf die Schaffung von Untersuchungsbedingungen,
die Migranten eine vollständige Teilnahme an der Untersuchung (einschließlich der
Beantwortung des Fragebogens) möglich machen.
Stichprobenziehung (Oversampling)
Um die hohe Rate qualitätsneutraler Ausfälle (in der Mehrzahl der Fälle ist der Adressat
verzogen) zu kompensieren, werden Kinder und Jugendliche mit nichtdeutscher Staatszugehörigkeit
aus dem Einwohnermelderegister in doppeltem Umfang gezogen. Die Erfahrungen des Bundes-Gesundheitssurveys
von 1998 zeigen, dass dies allerdings keine Gewähr dafür ist, dass Migranten in der
Stichprobe ausreichend präsentiert sind. Es sind also flankierende Maßnahmen der Teilnehmergewinnung
erforderlich.
Einladungsschreiben
Dem Einladungsschreiben kommt als „Eingangspforte” eine zentrale Bedeutung zu. Es
ist das Medium, über das sich im Wesentlichen die Teilnahmeanreize vermitteln. Der
Pretest zeigte, dass übersetzte Einladungsschreiben, die dem deutschsprachigen Anschreiben
beigelegt werden, die Teilnahmebereitschaft erhöhen. Das Einladungsschreiben wird
daher in folgende Sprachen übersetzt: Türkisch, Russisch, Serbokroatisch, Arabisch
und Vietnamesisch und es wird mit dem deutschsprachigen Erstanschreiben versandt.
Da Kinder mit doppelter Staatsangehörigkeit in der Regel mit der deutschen geführt
werden, wird aus dem Einwohnermelderegister das Merkmal der Staatsangehörigkeit der
Eltern angefordert. Damit vergrößert sich die Zahl derjenigen, denen ein übersetztes
Anschreiben zugeordnet werden kann. Die Zuordnung des übersetzten Anschreibens anhand
des Merkmals der nichtdeutschen Staatsangehörigkeit vernachlässigt Eingebürgerte sowie
Aussiedler, bei denen sprachbezogene Schwierigkeiten aber nicht ausgeschlossen werden
können. Sofern das Einwohnermeldeamt nicht über das Merkmal der Staatszugehörigkeit
verfügt, ist gar keine Zuordnung der Anschreiben möglich. Um hier den Adressatenkreis
zu erweitern, wird eine von Humpert und Schneiderheinze [2000 ]
[2002 ] entwickelte Namenszuweisungssystematik eingesetzt. Mittels dieser können Vor- und
Zunamen einer bestimmten Sprachengruppe computergestützt zugeordnet werden.
Darüber hinaus wird das Einladungsschreiben im Ergebnis der qualitativen Non-Responder-Analyse
inhaltlich angepasst. Das bedeutet, auf Ängste und Vorbehalte, die einer Teilnahme
entgegenstehen, einzugehen, aber auch Teilnahmemotive zu verstärken. Bezogen auf den
Sprachduktus sind Einladungsschreiben gewöhnlich mittelschichtzentriert. Das verlangt
nicht nur ein relativ hohes Sprachniveau, sondern setzt auch Wissen über die Aufnahmegesellschaft
voraus. Es werden im Anschreiben möglichst einfache Formulierungen gewählt, es wird
auf Fachwörter weitestgehend verzichtet und es werden ggf. die Aufnahmegesellschaft
betreffende Hintergründe erklärt.
Hausbesuche
Eine telefonische Kontaktaufnahme bzw. ein Hausbesuch bei Non-Respondern ist für den
Zugang zu Migranten unverzichtbar. Ziele und Erhebungsinhalte der Studie können veranschaulichend
dargestellt und teilnahmemotivierende Zusatzinformationen gegeben sowie Ängste bzw.
Vorbehalte ausgeräumt werden. Viele Fragen lassen sich erst im mündlichen Gespräch
klären. Das Gespräch wird einen Hinweis auf die mögliche Kinderbetreuung und bei auffallenden
Sprachproblemen die Bitte enthalten, einen Bekannten oder Verwandten als Dolmetscher
mitzubringen.
Untersuchungssituation
Bei der Gestaltung der Erhebungssituation werden kulturelle Besonderheiten beachtet.
So wird im Feldteam nach Möglichkeit eine Krankenschwester bzw. eine Ärztin tätig
sein, so dass Mädchen von einer Frau untersucht werden können. Auch wird dem u. U.
größeren Schamgefühl Rechnung getragen.
Die Untersuchung von Probanden, die über keine für die Befragung ausreichenden Deutschkenntnisse
verfügen, wird nach festgelegten Standards (Stufenmodell) durchgeführt. Die mit dem
Fragebogen verbundenen Anforderungen an das Sprachvermögen der Probanden sind sehr
hoch. Selbst gute Deutschkenntnisse sind oft nicht ausreichend. Nach Maßgabe des Pretests
muss davon ausgegangen werden, dass ca. 20 % der teilnehmenden Probanden nichtdeutscher
Herkunftssprache den Fragebogen gar nicht ausfüllen oder nur soziodemographische Mindestangaben
machen können. Um dennoch repräsentative Fragebogen-Daten für die Gruppe der Migranten
zu gewinnen und Migranten trotz vorhandener Sprachbarrieren die Teilnahme an der Befragung
zu ermöglichen, wird der Eltern-Fragebogen in ausgewählte Sprachen übersetzt.
Für Probanden, in deren Herkunftssprache kein Fragebogen vorliegt, werden neben den
Messdaten zumindest soziodemographische Basisdaten (Alter und Geschlecht des Kindes,
Staatsangehörigkeit, Geburtsland, Einreisejahr, Aufenthaltsstatus und Erwerbsstatus
beider Elternteile) erfasst. Gleiches gilt für Probanden, die weder in der deutschen
noch in ihrer Muttersprache über ausreichende Kenntnisse verfügen und daher den übersetzten
Fragebogen nicht beantworten können. Darüber hinaus werden mit dem Strengths and Difficulties
Questionnaire (SDQ), der im Internet in 47 verschiedenen Sprachen abrufbar ist, Daten
zur psychischen Gesundheit erhoben.
Erhebungsinstrument
Migrantenspezifische Auswertungen scheitern nicht nur an den geringen Fallzahlen,
sondern auch an fehlenden Instrumenten zur Erfassung des Migrantenstatus. Mit dem
für die Befragung des Kinder- und Jugendsurveys erarbeiteten Instrument wird es möglich,
Migranten (inkl. Eingebürgerte, Aussiedler und Kinder mit doppelter Staatsangehörigkeit)
und Kinder, die in binationalen Familien leben, zu identifizieren. Es kann außerdem
nach Aufenthaltsdauer, Einreisealter und verfestigtem/unsicherem Aufenthaltsstatus
differenziert werden.
Operationshandbuch
Das Operationshandbuch beschreibt detailliert die einzelnen Vorgehensweisen und Handgriffe
für die im Feld arbeitenden Personen. Es wird einen gesonderten Teil enthalten, in
dem die auf Migranten bezogene Vorgehensweise erklärt wird. Damit soll ein standardisiertes
Vorgehen möglich werden.
Schulung
Im Rahmen der Schulung wird dem jeweiligen Feldteam der Stellenwert der Migrantenthematik
nahe gebracht. Die Projektmitarbeiter werden mit der migrantenspezifischen Vorgehensweise
sowie mit kulturellen und migrationsbedingten Besonderheiten vertraut gemacht. Damit
soll auch die interkulturelle Kompetenz des Feldteams gestärkt werden.
Öffentlichkeitsarbeit
Muttersprachliche Medien stellen eine wesentliche Informationsquelle für Migranten
dar. Ein nicht zu vernachlässigender Teil der Migranten nutzt sogar ausschließlich
Medien der eigenen Herkunftssprache [Jordanova-Duda 2002 ]. Migrantengruppen wie Kriegsflüchtlinge und Asylbewerber verfügen häufig weder über
die sprachlichen Voraussetzungen noch über die finanziellen Mittel, (deutsche) Zeitungen
zu rezipieren. Ihre Informationsquellen sind vor allem das muttersprachliche Fernsehen
und Radio. Eine migrantenspezifische Öffentlichkeitsarbeit erwies sich zudem im Pretest
als wirksamer Faktor, der die Teilnahmebereitschaft von Adressaten nichtdeutscher
Herkunftssprache erhöht. Sie wird das für die verschiedenen Migrantengruppen jeweils
spezifische Spektrum an überregionalen und lokalen Medien (Printmedien, Rundfunk und
Fernsehen) berücksichtigen. Es werden öffentlich-rechtliche Sender, private Medienanstalten
und Eigenorganisationen bzw. Beratungsstellen, die Medien für in Deutschland lebende
Migranten herausgeben, in die Öffentlichkeitsarbeit einbezogen. Dabei ist zu beachten,
dass fremdsprachige Zeitungen häufig nur monatlich oder sogar vierteljährlich erscheinen.
Hier ist also ein entsprechender Vorlauf nötig. Darüber hinaus werden Eigenorganisationen,
Ausländer- und Aussiedlerbeauftragte, Beratungsstellen sowie der Arbeitskreis „Migration
und Gesundheit” über das Vorhaben bzw. erste Ergebnisse informiert und als Multiplikatoren
genutzt.
Die inhaltliche Gestaltung der Öffentlichkeitsarbeit (Pressemitteilungen) berücksichtigt
die im Pretest ermittelten migrantenspezifischen Teilnahmebarrieren.
Qualitätssicherung
Da die Einbeziehung von Migranten besondere Anforderungen an die Erhebung stellt,
ist eine Qualitätssicherung von großer Bedeutung. Die Qualitätssicherung gewährleistet
nicht nur, dass die im Operationshandbuch für den Migrantenzugang fixierten Standards
eingehalten werden. Gleichzeitig werden im Laufe der drei Erhebungsjahre der Migrantenzugang
sowie der Umgang mit Migranten in der Feldarbeit weiter optimiert. Qualitätssichernde
Aufgaben umfassen die Schulung des Feldteams sowie die Evaluation der Feldarbeit.
Die Teilnahmequote ist ein Prüfkriterium, das den auf Migranten bezogenen Erfolg misst.
Kontinuierliche Non-Responder-Analysen geben Auskunft über die Response von Adressaten
nichtdeutscher Herkunft. Zielgruppenorientierte Rücklaufanalysen bieten darüber hinaus
die Möglichkeit, Bemühungen (Öffentlichkeitsarbeit, Hausbesuche) für einzelne Migrantengruppen
gezielt verstärken zu können. Voraussetzung für Non-Responder-Analysen ist die Erfassung
des Migrantenstatus der Nicht-Teilnehmer. Es werden daher genaue Vorgaben gemacht,
wie der Migrantenstatus im Adressprotokoll dokumentiert wird, auch wenn Zielpersonen
nicht erreichbar sind oder kein Non-Responder-Kurzinterview geben möchten.
Im Zentrum von Feldbesuchen stehen die standardgerechte Durchführung der Untersuchung
sowie Interaktionen zwischen Feldvorbegeher, Interviewerin, Krankenschwester oder
Ärztin und Probanden nichtdeutscher Herkunftssprache. Es werden Probleme auf den verschiedenen
Akteursebenen dokumentiert sowie die Untersuchung hemmende Orientierungsdivergenzen,
kulturelle Missverständnisse u. Ä. identifiziert. Der Feldvorbegeher wird bei Non-Responder-Hausbesuchen
begleitet, um Strategien der Teilnehmergewinnung zu evaluieren. Darüber hinaus wird
ein Sample von Teilnehmern nichtdeutscher Herkunft nach Akzeptanz und Untersuchungsablauf
befragt. Die Ergebnisse der Evaluation werden zeitnah an das Feldteam rückgekoppelt.
Datenauswertung
Zur gesundheitlichen Situation von Migrantenkindern sind kaum Daten vorhanden, so
dass erstmalig der Status quo von Kindern und Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache
beschrieben werden kann. Migranten sind eine sehr heterogene Gruppe. Daher werden
Auswertungen nicht nur nach dem Merkmal „Migrant/Nicht-Migrant” vorgenommen, sondern
es wird nach relevanten Merkmalen differenziert wie Herkunftsregion, aufenthaltsrechtlicher
Hintergrund, Aufenthaltsdauer, Einreisejahr und Geschlecht. Generell wird bei der
Interpretation der Daten der Migrationshintergrund berücksichtigt. Für einige Fragebogenkomplexe
werden Konsistenzprüfungen vorgenommen, um Messfehler („item-bias”) auszuschließen
und eine Vergleichbarkeit zu gewährleisten.
Ausblick
Ausblick
Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey hat sich zum Ziel gesetzt, erstmals bundesweit
aussagefähige, belastbare Daten zum Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen
aus Migrantenfamilien bereitzustellen. Das setzt eine angemessene Einbindung der Migranten,
proportional zu ihrem Anteil in der Bevölkerung, voraus. Um kulturelle und migrationsbedingte
Teilnahmebarrieren zu überwinden, werden zusätzliche Anstrengungen unternommen. Im
Mittelpunkt des Interesses einer migrantensensiblen Datenauswertung und Berichterstattung
stehen die gesundheitlichen Folgen der besonderen Lebensbedingungen von Kindern und
Jugendlichen aus Migrantenfamilien. Dies schließt nicht nur eine möglichst differenzierte
Betrachtung der Lebensumstände, der soziokulturellen und migrationsbedingten Hintergründe
mit ein, sondern auch die Frage nach dem Zusammenhang von Migrationslagerung und Gesundheit
sowie nach diesen Zusammenhang beeinflussenden Faktoren und vermittelnden Mechanismen.
Besonderes Augenmerk gilt dabei auch dem gesundheitsrelevanten Verhalten, da dies
Ansatzmöglichkeiten für präventive und gesundheitsfördernde Maßnahmen bietet. Da wir
erst am Beginn einer migrantensensiblen Gesundheitsforschung stehen, wird es auch
darum gehen, Fragestellungen und Erhebungsinstrumente weiterzuentwickeln sowie weitergehenden
Forschungsbedarf aufzuzeigen.