Gesundheitswesen 2002; 64: 53-58
DOI: 10.1055/s-2002-39006
Kinder- und Jugendgesundheitssurvey
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey - eine Grundlage für Prävention, Gesundheitsförderung und Gesundheitsziele

The National Health Interview and Examination Survey for Children and Adolescents - Data Base for Prevention, Health Promotion and Health TargetsK. E. Bergmann1 , W. Thefeld1 , B.-M Kurth1
  • 1Robert Koch-Institut, Berlin
Further Information

Prof. Dr. Karl E. Bergmann

Robert Koch-Institut

Seestraße 10

13353 Berlin

Publication History

Publication Date:
15 May 2003 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey wird mit seinen für Deutschland repräsentativ erhobenen Daten am Beginn des 21. Jahrhunderts erstmalig wesentliche Erkenntnisse für die Prävention, die Gesundheitsförderung und die Entwicklung von Gesundheitszielen liefern. Damit wird eine entscheidende Voraussetzung für eine „evidence-based health policy” geschaffen. Die vielen Facetten des Projekts, die Hochrechenbarkeit auf die Bevölkerung, vor allem aber die konjunkte Datenerhebung werden es ermöglichen, körperliche, seelische und soziale Gesundheitsprobleme valide und differenziert zu bewerten. Es lässt sich feststellen, wer davon unter welchen Bedingungen betroffen ist und welche Konsequenzen sich aus dem Problem ergeben, z.B. im Sinne der Inanspruchnahme medizinischer Versorgung oder Beeinträchtigungen der Lebensqualität. Außerdem werden Indikatoren für Risiken erhoben, die sich erst langfristig auswirken, so dass nicht nur die Prävention von Gesundheitsproblemen des Kindes- und Jugendalters selbst, sondern auch die von chronischen Zivilisationskrankheiten eine Datenbasis erhalten wird. Für die Bewertung von Daten wird der Survey auch in vielen Bereichen neue Referenzwerte beisteuern, durch die in Zukunft Gesundheitsprobleme valider und differenzierter beurteilt und damit nicht nur Präventionsmaßnahmen auf eine bessere Grundlage gestellt werden können, sondern auch die medizinische Behandlung.

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Abstract

At the beginning of the 21st century, the German Health Interview and Examination Survey of Children and Adolescents will for the first time provide the data essential for programmes of disease prevention and health promotion as well as for the development of health targets. This it will create key information for an evidence-based health policy. The results of the study can be projected to the general population of children and adolescents in Germany. The data will be collected conjunct at the level of the individual subject. They will facilitate valid and distinct description of prevalent physical, psychological and social health problems, as well as on who has them under which circumstances and settings. Information on the impact, e.g. in terms of utilisation of the health system or impairments of quality of life, will also be available from the same subjects. In addition, indicators of risks to health in later life are included. Hence, the data will support prevention of health problems in infancy, childhood and adolescence as well as of chronic diseases in later life. Finally, the data shall be a basis for the definition of new reference values for many variables. This will improve valid and clear judgement not only in epidemiological studies but also in medical care.

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Vorbemerkungen

Wenn auf Bevölkerungsebene Krankheiten vorgebeugt werden soll, sind im Sinne von „evidence-based policy” belastbare Daten und Erkenntnisse eine entscheidende Voraussetzung. Sie sollen sowohl die Verbreitung vermeidbarer Gesundheitsprobleme und Risiken für spätere Krankheiten richtig und genau abbilden als auch differenzierte Informationen dazu bieten, wer unter welchen Bedingungen oder in welchem „Setting” von einem Gesundheitsproblem oder -risiko betroffen ist und wie sich dies etwa im Sinne von Beeinträchtigungen der Lebensqualität, der körperlichen, schulischen, beruflichen Leistungsfähigkeit, von Behinderungen (auch langfristigen) oder der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen auswirkt. Nur aus genauen und verlässlichen Daten sollten Konsequenzen und „Taten” abgeleitet werden.

Entscheidende Voraussetzung für eine wirksame Prävention ist der frühe Beginn, also vor dem Auftreten von Gesundheitsproblemen [Bergmann et al. 1995] [CDC 2000] [Grunbaum et al. 2002] [Schafer, Adair 2000]. Unter diesem Gesichtspunkt ist es besonders wichtig, die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen zu untersuchen, um damit Einblick in prämorbide Entwicklungen und Risiken zu gewinnen und Ansätze für die Prävention von Krankheiten auch des Erwachsenen zu identifizieren. Das Projekt soll außerdem den „Setting”-Ansatz der Gesundheitsförderung unterstützen und dazu beitragen, Präventionsmaßnahmen zielgruppenspezifisch einzusetzen [D’Onofrio 1989] [May et al. 1995]. In diesem Sinne ist die Prävention ein Querschnittsthema des gesamten Projekts.

Die Prävention ist wesentlicher Bestandteil von Gesundheitszielen, die den Erhalt und die Verbesserung der gesundheitlichen Situation von ganzen Bevölkerungsgruppen anstreben. Bei fünf Themenbereichen, die derzeit exemplarisch ausgewählt wurden, um nationale Gesundheitsziele zu setzen, bildet die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen einen eigenen Schwerpunkt [Angele 2003]. Bei jeder Zieldefinition ist es wichtig, die Ausgangssituation zu kennen und erreichte Fortschritte auch messen zu können [Altgeld 2003] [Bergmann et al. 1996] [Hill 2000]. Der Survey soll mit seinen Daten wichtige Grundlagen für die Zielentwicklung, -anpassung und -fortschreibung liefern.

Wiederholte repräsentative Querschnittserhebungen würden es ermöglichen, Trends zu erfassen, die Wirksamkeit, Kosteneffizienz und Nachhaltigkeit eingeleiteter Maßnahmen, insbesondere auf dem Gebiet der Krankheitsprävention, zu überprüfen und damit auch die Evaluation der Gesundheitsziele zu gewährleisten.

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Probanden, Methoden

18000 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 0 und 18 Jahren, also etwa 1000 Probanden pro Jahrgang, werden an 150 repräsentativ ausgewählten Orten durch ein Stichprobenverfahren aus dem Einwohnermelderegister ausgewählt und in einem Zeitraum von drei Jahren untersucht. Im Survey (Kern) sollen vor allem Eckwerte für eine große Zahl von Gesundheitsthemen gewonnen werden. Dabei werden nicht nur die drei wichtigsten Facetten des WHO-Gesundheitsbegriffs, nämlich die körperliche, seelische und soziale Gesundheit, berücksichtigt, sondern auch Eckwerte zur medizinischen Versorgung und zu Gesundheitsrisiken erhoben. In Modulen, die dem Survey angegliedert sind, werden an Unterstichproben vertiefende Untersuchungen zu motorischen Fähigkeiten, zur psychischen Gesundheit und Entwicklung sowie zu Umweltbelastungen im häuslichen Umfeld vorgenommen [Kurth et al. 2002]. Das Prinzip konjunkter Datengewinnung (bei jedem Probanden werden jeweils alle Erhebungsgrößen ermittelt) bietet die Möglichkeit, Beziehungen zwischen den Merkmalen zu ermitteln und die Bevölkerungsteile, die Regionen oder sonstigen Bedingungen zu identifizieren, bei denen bestimmte Krankheiten und Gesundheitsrisiken besonders verbreitet vorkommen oder sich besonders ungünstig auswirken.

Ein zusätzlicher Vorteil des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys besteht darin, dass die hierbei zu gewinnenden Erkenntnisse sich nicht nur auf die Selbstangaben einer schriftlichen Befragung stützen. Vielmehr wird auch ein computerassistiertes ärztliches Interview durchgeführt, durch das für einige wichtige Anliegen Klarheit über die subjektiven Angaben der Probanden bzw. ihrer Eltern geschaffen werden kann. Hinzu kommen medizinische und motorische Tests, Anthropometrie, einschließlich Bodymass-Index (BMI) und Frame-Index, Hautfaltendicke, Umfangsmessungen und vor allem Laboruntersuchungen, durch die sich sogar Gesundheitsrisiken - auch langfristig wirksame - feststellen lassen, von denen die Betroffenen meist selbst nichts wissen und die man auch nicht durch Befragung oder klinische Untersuchung erfassen kann. Beispiele sind die Versorgung mit lebenswichtigen Vitaminen, die allergische Sensibilisierung oder Probleme des Fettstoffwechsels.

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Zu erwartender Beitrag der Surveydaten zur Prävention

Tab. 1 zählt präventiv beeinflussbare Gesundheitsprobleme exemplarisch auf, zu denen der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey wichtige Daten beisteuern soll. Dabei handelt es sich sowohl um vermeidbare Gesundheitsprobleme des Kindes- und Jugendalters selbst als auch um solche des späteren Lebens [Williams et al. 2002] [Maffeis, Tatò 2001].

Tab. 1 Präventionsanliegen, zu denen der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey wesentliche Daten beisteuert
Fragebogen (FB)computerassistiertes persönliches Interview (CAPI)
Bodymass-Index (BMI)Frame-Index (FI)
Hautfaltendicke (HF)Lebensqualität (LQ)
Umfänge (UM)Kopfumfang (KU)
Problembereich Erhebungen Erkenntnisse Präventionsfelder
Geburtskomplikationen FBHäufigkeit Art und Auswirkungen, LQ Schwangerenvorsorge, perinatale Versorgung
Frühgeburt,
Mangelgeburt
FB, anthropometrische Werte einschl. KU, motorische TestsHäufigkeit, Zusammenhänge u. a. mit Sozialstatus, Rauchen, Auswirkungen, LQPrävention der Frühgeburt, Schwangerenvorsorge, Sekundär- und Tertiärprävention
Rauchen in der Schwangerschaft FB (Rauchen, Schulleistungen, Verhalten u. a.) BMI, KUHäufigkeiten, Auswirkungen auf Gesundheit und Risiken des KindesRauchen, Prävention und Intervention, Verhältnisprävention
Entwicklungsverzögerung FB (soziale, familiäre Risiken), Koordination, KUHäufigkeit nach Alter, Geschlecht, sonstigen Bedingungen, LQIndividuelle Förderung der Entwicklung, Verhältnisprävention
Behinderung (bestehende) FB, CAPI, KU, MotorikArt, Häufigkeit, Ursachen, Auswirkungen von BehinderungenPrimär-, Sekundär- und Tertiärprävention von Behinderungen
Infektionskrankheiten FB (z.B. Crowding, Sozialstatus), CAPI, BlutuntersuchungenHäufigkeit (z.B. nach Bedingungen), Immunität, AuswirkungenImpfungen, Hygiene, Ernährung (Stillen), Verhältnisprävention
Allergien, Atopie FB, CAPI, BlutuntersuchungenHäufigkeit, Sensibilisierung, BedingungenAllergie/Atopie, Lebensstil/Bedingun-gen
Herzkrankheiten FB, CAPI, BlutdruckHäufigkeit differenziert, InanspruchnahmeSchwangerenvorsorge, Kinder-Früherkennung
Diabetes mellitus FB, CAPI, Blut-, Urinuntersuchungen, Größe, KU, BMI, FI, HF, UMHäufigkeit der Diagnose, HbA1c-Erhöhung, Glucosurie, Inanspruchnahme, AuswirkungenErforschung der Primärprävention, Verbesserung und Monitoring der Tertiärprävention
kardiovaskuläres Risiko FB, Blutdruck, Serumlipide, Homozystein, Fitness Häufigkeit, Zusammenhänge mit Bedingungen des Umfeldsprimordiale und frühe Prävention der Arteriosklerose
Adipositas FB (Ernährung, Sozialstatus, Eltern-BMI), BMI, FI, HF, UM Definition, Verbreitung, Einflussfaktoren, AuswirkungenLebensstil, insbesondere Ernährung, Bewegung, Fernsehkonsum
Krebskrankheiten im späteren Leben FBRaucherstatus/-prävalenz, ErnährungPrävention des Rauchens, Ernährungsberatung
Schilddrüsenkrankheiten, Jodversorgung FB, Blut- und Urinuntersuchungen, SchilddrüsensonographieVerbreitung von Schilddrüsenvergrößerungen, JodmangelJodversorgung der Bevölkerung
Unfallverletzungen FBHäufigkeit, Art, Umstände, Behandlung, Auswirkungenprimäre Unfallprävention, Optimierung der Versorgung Unfallverletzter
Depressionen FB, AnthropometrieHäufigkeit, Bedingungen, Auswirkungengezielte Prävention in Risikofamilien, Sekundärprävention
Verhaltensstörungen FB, Untersuchungen (Hyperaktivität), KU, Ritalin-MedikationHäufigkeit, Bedingungen, Auswirkungenfrühe Förderung, Verhältnisprävention, Sekundärprävention
beeinträchtigte Lebensqualität FB (z.B. Sozialstatus, Wohnungsgröße, Schutzfaktoren)Häufigkeit, Bedingungen, Auswirkungen der BeeinträchtigungGesundheitsförderung, Coping-Strategien, Verhältnisprävention
Schulprobleme FB (z.B. Sozialstatus, Wohnungsgröße, Krankheiten), CAPI, BMI, KUHäufigkeit (4 Kategorien) nach Sozialstatus, Krankheiten u. a.frühe Förderung, Verhältnisprävention, Sekundärprävention
Schmerzen FB, CAPIArt, Häufigkeit, Bedingungen, Auswirkungen, MedikamentenkonsumPrimär- und Sekundärprävention von Schmerzen, von Medikamenten- und Drogenmissbrauch
Lebensbedingungen FB Häufigkeit nach Art, Zusammenhänge mit GesundheitsproblemenElternbildung, Verhältnisprävention
soziale Benachteiligung FB (Sozialstatus, Risikoverhalten, Schutzfaktoren), Größe, KU, BMIHäufigkeit, Bedingungen, Auswirkungen auf Schulleistungen, Wachstum u. a.Verhältnisprävention, Gesundheitsförderung („Setting”-Ansatz), Elternbildung
Fehlernährung FB, Größe, BMI, FI, HF, KU, LaboruntersuchungenHäufigkeit von Über-/Untergewicht, Wachstumsstörungen, Über-/Unterversorgung, ZusammenhängeErnährungsbildung, Supplemente, Anreicherung, Verhältnisprävention
Rauchen, Alkoholmissbrauch FB, Laboruntersuchungen, BMI, FI, HF, KUHäufigkeit, Bedingungen, AuswirkungenGesundheitsförderung, Schule, Primärprävention, Intervention
mangelnde Zahnpflege FB, UrinfluoridVerbreitung schlechter Zahnpflegegewohnheiten, ZusammenhängeKaries-/Parodontitisprävention
Sonnenbrand FB, 25 OH-Vitamin DHäufigkeit, Bedingungen Prävention von malignem Melanom und von Hautkrebs
Koordinationsstörungen Körperkoordination, Feinmotorik, Schulleistungen, BMI, HF, UM, KU, Geburtskomplikationenalters-, geschlechtsspezifische Verteilung von Defiziten, ZusammenhängeGesundheitsziele, Verhältnisprävention, frühe Förderung, perinatale Versorgung
schlechte Fitness FB (Fernsehzeit), Ergometrie, BMI, FI, HF, UM, Armumfang, Blutlipide Verbreitung, Zusammenhänge, AuswirkungenGesundheitsziele für körperliche Aktivität, kardiovaskuläre Prävention
Inanspruchnahme medizinischer Leistungen FB, CAPIHäufigkeit, Art, BedingungenPrävention von Krankheiten und Unfällen, Verhältnisprävention

Mit den durch den Kinder- und Jugendsurvey zu erhebenden Daten wird es möglich werden, sowohl die Ausgangssituation bei bestimmtem gesundheitlichen Parametern von Kindern und Jugendlichen (zum Teil erstmalig) genau zu bestimmen als auch die Bereiche zu lokalisieren, in denen präventive Ansätze prioritär zu entwickeln sind. Damit im Zusammenhang steht dann auch die Definition von Gesundheitszielen für Kinder und Jugendliche mit den Maßnahmen, die zur Erreichung der entsprechenden Ziele erforderlich sind.

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Gesundheitsziele für Kinder und Jugendliche

In den von der WHO formulierten Gesundheitszielen „Gesundheit für alle im 21. Jahrhundert” [WHO 1999] wird in zwei Schwerpunkten die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aufgegriffen. Unter den Zieltiteln „Ein gesunder Lebensanfang” und „Gesundheit junger Menschen” stehen die Reduzierung von Krankheitslasten und somatogenen Risikofaktoren im Vordergrund, was international durchaus von beträchtlicher Relevanz ist. Da die Krankheitslast im Kindes- und Jugendalter in den entwickelten Industriestaaten glücklicherweise vergleichsweise gering ist, wurde bei der Entwicklung von nationalen Gesundheitszielen für diese Altersgruppe in Deutschland der Schwerpunkt auf den präventiven Ansatz gelegt.

Es wurden Ziele zunächst für drei Schwerpunktbereiche erarbeitet: Ernährung, Bewegung, Stressbewältigung [Altgeld 2003]. Aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey sollen dazu unter anderem die folgenden Indikatoren beigesteuert werden:

Für die Ernährung

  • BMI, differenziert nach Indikatoren des Fettgewebes und des Frame

  • Dauer des Stillens, insbesondere des ausschließlichen, in der Säuglingszeit

  • Fettverzehr, Verzehr tierischer Lebensmittel

  • Folsäure im Serum

  • Vitamin D (25-Hydroxycholecalciferol) im Serum

  • Eisenindikatoren im Blut (rotes Blutbild, Ferritin, löslicher Transferrinrezeptor)

  • Blutfettwerte

Für motorische Fähigkeiten

Im Kernsurvey:

  • Koordination (Ganzkörper-Koordination, Fein-Motorik)

  • Ausdauer: Ergometrie (Fahrradergometer)

Im Motorikmodul:

  • breites Spektrum altersspezifischer Indikatoren motorischer Fähigkeiten [Bös et al. 2003]

Für Stress

  • Strenghts and Difficulties Questionnaire (SDQ) mit seinen Indikatoren für z.B. Attention Deficit Hyperactivity Syndrome (ADHS), Depressivität oder Aggressivität

  • Lebensqualität

  • Schutzfaktoren

  • Schulleistungen

Da es für Deutschland keine repräsentativen Daten für diese Indikatoren gibt, wird der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey die wesentliche Datenquelle sein, um die Ausgangssituation für entsprechende Gesundheitsziele zu definieren.

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Referenzwerte für Kinder und Jugendliche

Für die Bewertung der gesundheitlichen Situation sind Referenzwerte unentbehrlich. Durch Vergleich mit Referenzwerten lässt sich nicht nur feststellen, ob ein Gesundheitsproblem oder Gesundheitsrisiko vorliegt, sondern meist auch, wie ausgeprägt es ist. Referenzwerte sind damit eine entscheidende Grundlage für die Veranschlagung von Präventionsbedarf, für die Entwicklung von konkreten Gesundheitszielen sowie für die Evaluation von Maßnahmen. Im Survey werden Referenzwerte auch dazu verwendet, die Laborergebnisse der einzelnen Kinder und Jugendlichen in deren eigenem Interesse zu bewerten und den Familien bzw. gegebenenfalls den Ärzten der Kinder eine Empfehlung zur Behandlung, Prävention oder zu Kontrolluntersuchungen zu geben.

Für viele Merkmale beruhen die existierenden Referenzwerte nicht auf bevölkerungsbezogenen, repräsentativen Erhebungen an Kindern und Jugendlichen. Oft stammen sie von Krankenhauspopulationen und sind deshalb eigentlich nicht verallgemeinerungsfähig oder sie stammen von Erwachsenen und sind dann nicht auf Kinder anwendbar. Für eine grobe Veranschlagung reichen sie zwar meist aus. Für differenziertere Bewertungen der Gesundheit und der Gesundheitsrisiken von Kindern und Jugendlichen aus der allgemeinen Bevölkerung sind sie dann aber nur mit Vorbehalten verwendbar. Häufig wurde auch nicht geprüft, in welchen Grenzen die zunächst nur in ihrer statistischen Verteilung vorliegenden Referenzwerte mit normaler Gesundheit einhergehen. Um dies an einem Beispiel zu erläutern: Der BMI gilt allgemein als Indikator für den Körperhabitus und wird herangezogen, wenn es darum geht zu entscheiden, ob jemand zu viel Fett mit sich herumträgt oder zu mager ist. Der BMI ist aber nur der Quotient aus Körpergewicht und dem Quadrat der Körpergröße. Seine statistische Verteilung erlaubt es zwar, Abweichungen festzustellen; sie sagt aber nichts darüber aus, ob ein hoher Wert durch zu viel Fettgewebe, durch viel Muskel- und Skelettmasse oder durch eine wie auch immer zusammengesetzte Mischung daraus zustande kommt. Für eine Aussage „über-” oder „untergewichtig” sollte der BMI durch Merkmale differenziert werden, die direkt etwas über das Fettgewebe (Hautfaltendicke), die gesundheitlich relevante Fettverteilung (Bauch-/Hüftumfang) und über die fettfreie Körpermasse (Frame-Index) aussagen. Wenn dann eingegrenzt ist, wie sich das Über- oder Untergewicht zusammensetzt, muss vor allem noch geprüft werden, inwieweit die Messwerte gesundheitlich relevant sind. Dazu können andere Parameter, wie Blutdruck, Blutfettwerte, aber auch körperliche Leistungsfähigkeit (Koordination, Ausdauerleistung) und schließlich subjektive Angaben zur Lebensqualität oder zu Schulleistungen, herangezogen werden. Auf diese Weise lässt sich dann der Referenzbereich eines gesundheitlich verträglichen BMI definieren, mit dem der Einzelfall oder kleinräumige Beobachtungen und die Wirkung von Maßnahmen beurteilt werden können. Durch die konjunkte Datenerhebung bieten sich die Surveydaten für die Entwicklung aussagekräftiger Referenzwerte an.

Der BMI ist aber auch das Beispiel für einen Parameter, mit dem man Einblick in Zivilisationskrankheiten gewinnen kann [Maffeis, Tatò 2001]: Beim Übergewicht handelt es sich vor allem um einen langfristig wirksamen Risikofaktor für späteren Typ-2-Diabetes mellitus mit seinen gravierenden Folgen wie Niereninsuffizienz, Erblindung oder Durchblutungsstörungen der Beine. Ferner begünstigt Übergewicht auch unabhängig von manifestem Diabetes die Entstehung des metabolischen Syndroms, von Herzinfarkt und Schlaganfall, und es verkürzt die durchschnittliche Lebenserwartung. Um die Frage „normal oder nicht” für den BMI beantworten zu können, müssten also neben den für beide Geschlechter und jedes Alter ermittelten Referenzwerten auch langfristig bedeutsame Außenkriterien herangezogen werden. Dies kann eine Querschnittsstudie wiederum nicht leisten. Hierzu müssen Ergebnisse aus anderen Untersuchungen, meist auch aus anderen Ländern, herangezogen werden.

Ähnliches gilt für Laborbefunde. Die existierenden Referenzwerte reichen meist für eine grobe Bewertung aus. Durch den Survey werden repräsentative Ergebnisse vorliegen, die auf die Population angewendet werden können. Da die Labordaten konjunkt mit anderen Informationen gewonnen werden, lassen sich zum Teil auch differenziertere Aussagen dazu machen, welche Werte wirklich gesundheitlich relevant und welche gesundheitlich irrelevant, also normal, sind und sich damit als besser definierte Referenzwerte künftig verwenden lassen.

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Diskussion

Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey soll erstmalig für Deutschland gültige und genaue Daten und Erkenntnisse für ein breites Spektrum von Gesundheitsproblemen erarbeiten. Es steht außer Zweifel, dass die Ergebnisse für so wichtige und wechselseitig miteinander verzahnte Bereiche wie die Gesundheitsberichterstattung, die gesundheitliche Versorgung, die Prävention und Gesundheitsförderung sowie die Entwicklung von Gesundheitszielen unentbehrlich sind und entsprechende Verwendung finden werden.

Als Querschnittsuntersuchung ermittelt der Survey mit hochstandardisierten Methoden alters- und geschlechtsspezifische Häufigkeiten, die auch nach anderen Merkmalen weiter differenziert werden können. Die Studie wird also zeigen, wer unter welchen Bedingungen und wo unter einem körperlichen oder seelischen Gesundheitsproblem leidet, Gesundheitsrisiken aufweist, die sich kurz oder langfristig auswirken können, und das Gesundheitssystem in Anspruch nimmt. Durch retrospektiv gewonnene Informationen zur Pränatalperiode (z.B. Rauchen in der Schwangerschaft), zum Stillen, zum BMI der Eltern, zu elterlicher Atopie, zum Sozial- und Bildungsstatus und zu Lebensbedingungen sind auch einige ätiologische Analysen möglich.

Wenn es dagegen darum geht, Ursachen nachzuweisen und langfristige Auswirkungen zu identifizieren, so kann eine Querschnittsstudie dazu nur sehr begrenzt Erkenntnisse beitragen. Da es sich zunächst um eine einmalige Untersuchung handelt, sind auch zu zeitlichen Trends keine Aussagen möglich.

Die Datenerhebung des Surveys ist so konzipiert, dass die gewonnenen Ergebnisse repräsentativ für Gesamtdeutschland und zusätzlich jeweils für Ost- und für Westdeutschland sein werden. Kleinräumige, regional begrenzte Probleme werden durch die Surveyerhebung kaum erkannt. Da Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung in einem föderalen Staat wie unserem aber in vielen Fällen regional zu veranlassen sind, können die Daten des Surveys als wichtige Vergleichsdaten herangezogen werden, um entsprechende Probleme in den nationalen Kontext einzubetten. Die durch den Survey gewonnenen Referenzwerte werden in vielen Fällen von großer Bedeutung sein.

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Schlussfolgerungen

Die Daten des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys werden für die Gesundheitsberichterstattung, die Beschreibung der gesundheitlichen Situation und der gesundheitlichen Versorgung von Kindern und Jugendlichen benötigt. Darauf aufbauend werden datenbasierte Schwerpunkte für Präventionsansätze, die Entwicklung von Gesundheitszielen und die Gesundheitsförderung gesetzt werden können.

Für ein Monitoring von gesundheitlichen und gesundheitspolitischen Maßnahmen wäre die regelmäßige Durchführung solcher Querschnittsuntersuchungen erforderlich, so wie es zurzeit für die erwachsene Bevölkerung im Abstand von ca. sieben Jahren praktiziert wird. Von noch größerem Wert wären aber als Längsschnittuntersuchung konzipierte Studien. Dazu böte sich der Survey beispielsweise als Ausgangserhebung einer sequenziellen Kohorte an, wobei die Studienteilnehmer alle in regelmäßigen Zeitabständen wiederholt untersucht würden. Auf diese Weise könnte das Neuauftreten von Gesundheitsproblemen, d. h. Inzidenzen, ermittelt werden und damit könnten ätiologische Analysen durchgeführt werden.

Die ideale Erhebung für diesen Zweck wäre natürlich eine Geburtskohortenstudie. Als Modell dafür könnten die britischen Geburtskohortenstudien [BCS 70] dienen, deren älteste bereits über fünf Jahrzehnte wichtige Erkenntnisse hervorgebracht hat. Die Durchführung eines repräsentativen bundesweiten Kinder- und Jugendsurveys kann wichtige Erfahrungen auch für ein solches, noch größeres „Zukunftsprojekt” sammeln.

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Literatur

  • 1 Altgeld T. Gesundheitsziele: Kindergesundheit - Ein Beitrag zur Chancengleichheit der heranwachsenden Generationen.  Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz. 2003;  46 (im Druck)
  • 2 Angele S. Die Entwicklung von Gesundheitszielen in Deutschland.  Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz. 2003;  46 (im Druck)
  • 3 Bergmann K E, Baier W, Meinlschmidt G. Gesundheitsziele für Berlin. Wissenschaftliche Grundlagen und epidemiologisch begründete Vorschläge Berlin, New York; Walter de Gruyter & Co. Verlag 1996
  • 4 Bergmann K E, Bergmann R L, Dudenhausen J W. Krankheitsprävention durch Gesundheitsförderung in der Familie: Warum beginnen wir nicht am Anfang?.  Monatsschr Kinderheilkd. 1995;  143 526-530
  • 5 Bös K, Heel J, Romahn N. et al . Untersuchungen zur Motorik im Rahmen des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys.  Gesundheitswesen. 2002;  64 (Sonderheft 1) 80-87
  • 6 BSC 70 .1970 British Cohort Study - A study of everyone in Britain born in the week 5-11 April 1970. Institute of Education. University of London London; Centre for Longitudinal Studies 2002
  • 7 Centers for Disease Control .Reducing tobacco use. A report of the surgeon General. Executive summary MMWR 2000 49: 1-27
  • 8 D’Onofrio C N. Making the case for cancer prevention in the schools.  J School Health. 1989;  59 225-231
  • 9 Grunbaum J A, Kann L, Kinchen S A. et al .Youth risk behaviour surveillance - United States, 2001. MMWR 2002 51 (Surveillance summaries/CDC): 1-62
  • 10 Hill P D. Update on breastfeeding: healthy people 2010 objectives.  Am J Maternal Child Nursing. 2000;  25 248-251
  • 11 Kurth B M, Bergmann K E, Hölling H. et al . Der bundesweite Kinder- und Jugendgesundheitssurvey - Das Gesamtkonzept.  Gesundheitswesen. 2002;  64 (Sonderheft 1) 3-11
  • 12 Maffeis C, Tatò L. Long-term effects of childhood obesity on morbidity and mortality.  Hormone Research. 2001;  55 (Suppl 1) 42-45
  • 13 May K M, Mendelson C, Ferketich S. Community empowerment in rural health care.  Public Health Nursing. 1995;  12 25-30
  • 14 Schafer T E, Adair S M. Prevention of dental disease. The role of the pediatrician.  Pediatr Clin N Am. 2000;  47 1021-1042
  • 15 Williams C L, Hayman L L, Robinson T N. et al . Cardiovascular health in childhood: A statement for health professionals from the Committee on Atherosclerosis, Hypertension, and Obesity in the Young (AHOY) of the Council on Cardiovascular Disease in the Young, American Heart Association.  Circulation. 2002;  106 143-160
  • 16 World Health Organisation, Regional Office for Europe .Health 21: the health for all policy framework for the WHO European Region. Kopenhagen; Eigenverlag 1999

Prof. Dr. Karl E. Bergmann

Robert Koch-Institut

Seestraße 10

13353 Berlin

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Literatur

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Prof. Dr. Karl E. Bergmann

Robert Koch-Institut

Seestraße 10

13353 Berlin