Intuition und Standard
Intuition und Standard
Ziel einer patientenorientierten Medizin sollte es sein, nach einem
Standard zu einer bestimmten Fragestellung vorzugehen. Allerdings
stößt die dieser Vorstellung verpflichtete Etablierung einer
leitliniengestützten Versorgung oft auf vielfältige Widerstände.
So kommen beispielsweise Bedenken auf, die standardisierte Medizin werde einer
individuellen Betrachtung des einzelnen Patienten nicht gerecht. Außerdem
ist eine vielfältig geäußerte Befürchtung, Leitlinien
engten die ärztliche Autonomie ein, reglementierten den Arzt und
könnten als Rationierungsinstrument missbraucht werden. Diesen Argumenten
steht jedoch die Erfahrung gegenüber, dass der einzelne Arzt die
Informationsflut über neue wissenschaftliche Erkenntnisse vielfach nicht
mehr überblicken und kaum noch abschätzen kann, welches die
bestverfügbare Medizin für seinen Patienten ist. Es geht vor allem
also darum, durch Beschreibung guter Standards einer unbegründeten
Abweichung von der bestverfügbaren Medizin entgegenzusteuern
[1]. Hierfür sind der Einsatz des Instrumentariums
der „evidence based medicine” (EbM) und der daraus abgeleiteten
Leilinienorientierung ein unverzichtbares Mittel geworden.
Dabei bedeutet die Praxis der evidenzbasierten Medizin die
Integration individueller Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz
aus systematischer Forschung. Mit individueller klinischer Expertise sind dabei
das Können und die Urteilskraft gemeint, die Ärzte durch ihre
Erfahrung und klinische Praxis erwerben [2]. Dies
heißt, dass das ärztliche Handeln bestimmt wird durch das
individuelle Können und die Erfahrung sowie das Regelwissen. Auf der Basis
der ärztlichen Erfahrung muss entschieden werden, wie das Regelwissen auf
den konkreten individuellen Patienten und sein aktuelles Gesundheitsproblem
anzuwenden ist. Als weiteres Element der evidenzbasierten Medizin ist in der
Leitlinienerstellung auch die Patientenpräferenz in der konkreten
Situation zu berücksichtigen. Die evidenzbasierte Versorgung unter Achtung
des Gebots der informierten Patientenentscheidung ist damit anzustreben.
Unter diesem Gesichtspunkt liegt das Hauptproblem von Leitlinien
nicht in ihrem konzeptuellen Ansatz, sondern in der Unterentwicklung klinisch
bedeutsamer, die Versorgungsmöglichkeit angemessen abbildende Leitlinien.
Beispielsweise hat die American Psychiatric Association (APA) bereits 1995
[3] eine entsprechende „Guideline”
für Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen veröffentlicht, die
sich nicht nur auf eine Konsensusevidenz, sondern auch auf metaanalytische
Effekte der Suchtkrankenbehandlung stützt. Diese „Guideline”
wurde jedoch erarbeitet mit Bezug auf das US-amerikanische Versorgungssystem
und ist insofern nur begrenzt auf das deutsche Gesundheits- und Reha-System zu
übertragen.
Beispiele aus der Suchtmedizin
Beispiele aus der Suchtmedizin
„Qualifizierter Entzug/Entgiftung” bei
Alkoholabhängigen
Während bis in die 80er-Jahre Alkoholkranke in der Regel
lediglich körperlich entgiftet wurden, wurden sie seit Anfang der
90er-Jahre aufgrund der psychischen und sozialen Dimension ihrer Erkrankung und
des in der Regel prozesshaften langwierigen Verlaufes ihrer Erkrankung
multiprofessionell und interdisziplinär behandelt [4]. Ein solcher „Gesamtbehandlungsplan”
enthält üblicherweise psychiatrische, psychotherapeutische,
somatische und sozialtherapeutische Ansätze
(„Strukturqualität”). Weiterhin geht es im Sinne der
„Prozessqualität” um Diagnostik und Therapie von a)
Ethanolintoxikation und komplizierter Zustände
(„Entgiftung”); b) Entzugssyndrom, einfach oder kompliziert
(„Entzugsbehandlung”); c) Abhängigkeitssysndrom (vor allem
psychische Abhängigkeit mit Einstellungs- und Verhaltensänderung;
„Motivationsbehandlung”; d) Alkoholfolgeerkrankungen (psychische
und körperliche Komorbidität, soziale Schäden).
Erfolgsindikatoren von qualifizierten Entzugsbehandlungen
können sich im Sinne der „Ergebnisqualität” beziehen
beispielsweise auf die Anzahl vollständig beendeter qualifizierter
Entzüge (completer-rate), Komplikationen in der Behandlung (Abbrecher,
Entzugkomplikationen), Vermittlungsrate in weiterführende Behandlungen
(Kontakt mit Selbsthilfegruppen, Überweisung an Beratungsstellen,
Fachärzte, Entwöhnungskliniken, Überwindung der
Schnittstellenproblematik), die Abstinenzrate der nachuntersuchten Patienten
oder die Ausgangsstichprobe, die berufliche Reintegration, die
Frühberentung und die Mortalität.
In der Umsetzung des qualifizierten Entzugs besteht allerdings
eine erhebliche Variabilität bezüglich der Therapieelemente und der
Behandlungsdauer. Beispielsweise ist die in den Kliniken verwendete
Entzugsmedikation nach Substanz, Dauer und Dosierungsschema erheblich
unterschiedlich wie auch die Art der Anwendung
psychiatrisch-psychotherapeutischer Maßnahmen (zur Herstellung einer
aktuellen und anhaltenden Abstinenz als „motivierende
Interventionen”, der Information und Aufklärung des Patienten
über die Entwicklung des komplexen Krankheitsbildes der Alkoholkrankheit
im Sinne der „Psychoedukation” oder Vermittlung einer
spezifischen „Krankheitslehre”, der Verminderung belastender und
körperlicher Symptome durch psychotherapeutische, pharmakologische,
handlungs- und körperbezogene Maßnahmen oder der Verringerung
sozialer Defizite in Familie und Beruf).
Der „qualifizierte Entzug” wird als eine
Verbesserung der Versorgung der Abhängigkeitskranken angesehen, da damit
die Zuweisungsrate in weiterführende Behandlungsangebote verbessert wird
[5]
[6]. Auch Mann
[9] geht davon aus, dass die qualifizierte Entgiftung
erfolgreich ist, da sie mehr Patienten in Therapie bringt und höhere
Abstinenzraten erbringt als Kurzprogramme.
Unglücklicherweise drängen die Kostenträger in den
letzten Jahren zunehmend auf Verkürzung der Krankenhausbehandlungszeiten
(bis hin zu „7-Tage-Regelungen”). Empirische Arbeiten haben
jedoch gezeigt, dass eine Verkürzung der Behandlungszeiten eher zu
Drehtüreffekten führt; beispielsweise konnte Wickizer
[7] nachweisen, dass für jeden Tag, der von den
Kostenträgern erzwungenen verkürzten Behandlungsdauer die
Wahrscheinlichkeit der vorzeitigen Wiederaufnahme innerhalb von 60 Tagen um
3,1 % steigt. Zwar ist das Konzept der qualifizierten
Entzugsbehandlung nicht in die Neuregelung der Empfehlungsvereinbarung vom
4.5.2001 aufgenommen worden. Erfreulich ist aber, dass das Rahmenkonzept
für die stationäre qualifizierte Entzugsbehandlung alkoholkranker
Menschen in NRW nunmehr verabschiedet worden ist, das dieses Behandlungskonzept
auch seitens der Kostenträger als Regelbehandlung anerkennt. Auf der Basis
des Anwendungsbereiches der Psych-PV wird darin von einer Behandlungsdauer bis
zu drei Wochen ausgegangen. Allerdings sieht Kunze [8]
in der Verknüpfung von (teil-)stationärer Krankenhausbehandlung mit
der psychiatrischen Institutsambulanz wiederum einen Weg, die qualifizierte
Suchtkrankenbehandlung mit schlankem Ressourcenverbrauch zu verbinden.
Sucht-Rehabilitation
Die stationäre Entwöhnungsbehandlung war lange Zeit das
Kernstück der Therapie Alkoholabhängiger. Dabei finanzierten die
Rentenversicherungsträger seit langem eine Standardbehandlungszeit von 6
Monaten. In den letzten Jahren legten neuere und kürzere gemeindenahe
Therapiemodelle den Schluss nahe, dass vergleichbare Therapieresultate auch mit
weniger Aufwand erreichbar sind [9]. Zudem hatten Daten
der Evaluationsstudie von Küfner und Feuerlein (zit. bei
[9]) aus den Fachkliniken unerwarteterweise ergeben,
dass diejenigen Patienten, die nach gültigen Prognosekriterien die
günstigste Prognose hatten, zugleich auch am längsten behandelt
wurden. Andererseits hatte die Expertise von Sonntag und Künzel
[10] ergeben, dass es einen eindeutigen positiven
Zusammenhang zwischen Therapiedauer und Therapieerfolg gibt.
Die Regel „je länger, desto erfolgreicher” gilt
jedoch nicht universell für das gesamte Spektrum möglicher
Therapiezeiten. Vielmehr gehen Sonntag und Künzel [10] davon aus, dass es optimale Zeitfenster für
Therapiefortschritte gibt, ohne dass jedoch eine empirisch abgesicherte Aussage
über die Dauer gemacht werden könnte. Außerdem wird
eingeschränkt, dass die Aussage zu optimalen Zeitfenstern für Gruppen
von Patienten mit durchschnittlichen Störungsausprägungen
(Schweregrad, Komorbidität und Veränderungsbereitschaft) gilt,
für Gruppen mit spezifischen Charakteristika im besonderen Einzelfall
können die optimalen Zeitfenster nach oben und unten variieren.
(Beispielsweise gilt auch für die Behandlung von chronisch mehrfach
beeinträchtigen Alkoholabhängigen [CMA], dass die besten Ergebnisse
nach einer individuell angepassten Behandlungsdauer von 2-6 Monaten
erzielt werden, wonach unter Berücksichtigung ökonomischer Interessen
der Kostenträger ein „therapeutisches Zeitfenster” von
30-60 Tagen optimal zu sein scheint; [11]).
Eine weitere Expertise des Lehrstuhls Versorgungssystem Forschung
der Humboldt-Universität zu Berlin geht davon aus, dass die
Behandlungszeiten in der Suchtrehabilitation in der Bundesrepublik zwar
deutlich länger sind als in den USA, dafür liegen die Erfolgsquoten
(bezogen auf die absolute und relative Abstinenz bei Alkoholabhängigkeit)
jedoch auch um 10-20 % höher [5].
Die die Entwöhnungsbehandlung tragenden Fachkliniken hatten
gemäß des Grundgesundheits-Reformgesetzes und der Verpflichtung zur
Qualitätssicherung (nach SBG V § 135-39) Instrumente des
Qualitätsmanagements in der Sucht-Rehabilitation entwickelt. Von Bedeutung
ist in diesem Zusammenhang das 5-Punkte-Programm der Rentenversicherung zur
Qualitätssicherung, das FVS/DGMED-Konzept sowie das BUSS-Konzept,
wofür eigens die Deutsche Gesellschaft für Qualitätsmanagement
in der Suchttherapie (deQuS) e. V. gegründet wurde. Entsprechend
wird heute davon ausgegangen, dass die danach durchgeführten
Entwöhnungsbehandlungen sich durchaus lohnen. Selbst wenn man annimmt,
dass es mehr als einer Maßnahme bedarf, um den Reha-Erfolg zu erreichen,
sind die Ausgaben für Entwöhnungsbehandlungen um ein Vielfaches
geringer als die indirekten Kosten für die Frühberentung
[5].
Die zurzeit vorliegende Datenlage kann allerdings auf dem
Hintergrund der evidenzbasierten Medizin nicht befriedigen, da zur
Verfügung stehende Studien kaum zur Bewertung der globalen oder
differenziellen Wirksamkeit der therapeutischen Maßnahmen herangezogen
werden können. Kritisiert werden „dominante Kriterien” (wie
Haltequote, Konsumverhalten, gesundheitliche und psychische Situationen etc.);
Kriterien der Erwerbsfähigkeit sind kaum berücksichtigt
[5]. Auch zu Effektstärken einzelner
Behandlungsstrategien sind kaum Ergebnisse zu finden. Deshalb wird es in
Zukunft darum gehen, das therapeutische Setting zu optimieren, welches
gleichermaßen ein Einflussfaktor auf das Behandlungsergebnis ist;
immerhin können Verkürzungen der Therapiedauer durch eine optimale
Gestaltung des Settings - zumindest teilweise - ausgeglichen werden
[10].
Methodik der Entwicklung von Leitlinien
Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen
Fachgesellschaften (AWMF) wurde vom Sachverständigenrat für die
konzertierte Aktion im Gesundheitswesen in seinem Sondergutachten 1995 gebeten,
die Entwicklung von „Standards, Richtlinien, Leitlinien und
Empfehlungen” voranzutreiben und zu koordinieren. Nach einer ersten
Leitlinien-Konferenz der AWMF am 4. Oktober 1995 in Frankfurt wurden 1997
„Leitlinien für Leitlinien” der Bundesärztekammer
(BÄK) und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) mit der von
beiden Institutionen gegründeten und getragenen Ärztlichen
Zentralstelle für Qualitätssicherung (ÄZQ) herausgegeben. 1999
wurde durch die Selbstverwaltungskörperschaften im Gesundheitswesen
(ÄZQ, Deutsche Krankenhausgesellschaft und Spitzenverbände der
Krankenkassen) das „Deutsche Leitlinien-Clearingverfahren”
etabliert. Inzwischen abgeschlossene Projekte sind Leitlinien zur Hypertonie,
Tumorschmerz, Kreuzschmerz, Asthma-Bronchiale, Diabetes mellitus Typ II; in
Arbeit sind Leitlinien zur koronaren Herzerkrankung, Herzinsuffizienz und
Depression.
Seit Januar 2000 sind nach SGB V Leistungserbringer gesetzlich
zu einer Berücksichtigung leitliniengestützter Kriterien für
eine zweckmäßige und wirtschaftliche Leistungserbringung
(§ 137 Abs. 1) verpflichtet. Im Rahmen der Gesundheitsreform 2000
wurde im § 137e SGB V ferner festgelegt, dass ein
Koordinierungsausschluss - auf der Basis evidenzbasierter
Leitlinien - Kriterien für eine zweckmäßige und
wirtschaftliche Leistungserbringung für mindestens 10 Krankheiten pro
Jahr, bei denen Hinweise auf unzureichende oder fehlerhafte oder
übermäßige Versorgung bestehen und deren Beseitigung die
Morbidität und Mortalität der Bevölkerung nachhaltig
beeinflussen kann, beschließt.
Da nach § 137e die Kriterien für die
Krankenkassen, Krankenhäuser und Vertragsärzte unmittelbar
verbindlich sind, ist die Kostensicherung langfristig nur dann gegeben, wenn
entsprechende Kriterien des Koordinierungsausschusses und die tragenden
evidenzbasierten Leitlinien anerkannt sind.
Definitionsgemäß sind Leitlinien „systematisch
entwickelte Entscheidungshilfen über die angemessene ärztliche
Vorgehensweise bei speziellen gesundheitlichen Problemen”. (Richtlinien
hingegen bezeichnen Handlungsregeln einer gesetzlich, berufsrechtlich,
standesrechtlich oder satzungsrechtlich legitimierten Institution, die für
den Rechtsraum dieser Institution verbindlich sind und deren Nichtbeachtung
definierte Sanktionen nach sich ziehen kann). Entsprechend sind Ziele von
Leitlinien aus der Sicht von Körperschaften [11]:
a) Sicherung, Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung; b) Vermeidung
unnötiger medizinischer Maßnahmen und Kosten; c) Verminderung
unerwünschter Qualitätsschwankungen; d) Information über
notwendige/übliche Maßnahmen; e) Förderung der Einbeziehung der
Patienten in ärztliche Entscheidungsprozesse.
Dabei ist die Entwicklung evidenzbasierter Leitlinien
gekennzeichnet durch a) die systematische Aufarbeitung und Zusammenstellung
der
besten verfügbaren Evidenz; b) Herleitung des in der Leitlinie empfohlenen
Vorgehens aus der wissenschaftlichen Evidenz; c) die exakte Dokumentation des
Zusammenhangs zwischen der jeweiligen Empfehlung und der dazugehörigen
Evidenzstufe; d) die Auswahl der evidenzbasierten Schlüsselempfehlungen
einer Leitlinie, die mithilfe formalisierter Konsentierungsverfahren erfolgt.
Die Aussagekraft der den Leitlinienempfehlungen zugrunde liegenden
Therapiestudien schlägt sich in verschiedenen Evidenzstärken nieder:
Grad I ist gegeben bei Vorliegen von Metaanalysen von randomisierten klinischen
Studien oder wenn wenigstens eine randomisierte kontrollierte Therapiestudie
vorliegt; Grad II: bei Vorliegen mindestens einer gut kontrollierten
(experimentell nichtrandomisierten) Studie (z. B. Kohortenstudie); Grad
III: Vorliegen einer deskriptiven Studie (Vergleichs-, Korrelations- und
Fallkontrollstudie); Grad IV: Vorliegen von Fallbeobachtungen; Grad V: bei
Vorliegen von Expertenmeinungen.
Nach dem 3-Stufen-Prozess der Leitlinienentwicklung lassen sich
drei Arten von Leitlinien abgrenzen [12]. Leitlinien
der 1. Stufe werden von einer Expertengruppe erstellt, die im informellen
Konsens eine Leitlinie erarbeitet, welche wiederum vom Vorstand einer
Fachgesellschaft verabschiedet wird. Leitlinien der Stufe 2 beruhen auf einer
formalen Konsensfindung, indem die vorhandenen Leitlinien der Stufe 1 in einem
bewährten formalen Konsensusverfahren (Konsensus-Konferenz,
Delphi-Konferenz, nominaler Gruppenprozess) beraten und verabschiedet werden.
Leitlinien der Stufe 3 sind Leitlinien mit allen Elementen systematischer
Entwicklung im Sinne einer systematischen Evidenzrecherche, wobei die
Leitlinienentwicklung der zweiten Stufe um fünf Komponenten erweitert wird
(Logik, Konsensus, „evidence based medicine”,
Entscheidungsanalyse, „outcome”-Analyse; [13].
Derzeitiger Entwicklungsstand
Derzeitiger Entwicklungsstand
In der 6. gemeinsamen Fachkonferenz
„Qualitätssicherung” der Bundesärztekammer und der AWMF
am 26. und 27. September 2001 in Köln wurde zusammengefasst, dass es eher
zu wenig als zu viele Diagnose- und Therapieempfehlungen gibt. Zwar beruhten
alle ärztlichen Leitlinien auf der „evidence based
medicine”, die Evidenzgrade seien aber verschieden. Die fachliche
Vervollständigung und interdisziplinäre Abstimmung der einzelnen
Leitlinien sollte innerhalb der AWMF erfolgen. Dabei wird die
Leitlinienentwicklung als permanenter Prozess angesehen. Außerdem sollen
die ärztlichen Leitlinien die Grundlagen für die Aus-, Fort- und
Weiterbildung werden. Dafür muss die Implementierung von Leitlinien
modellhaft erprobt werden. Es ist zu erwarten, dass nach Implementierung der
evidenzbasierten Leitlinien in die Krankenversorgung die Medizin nicht billiger
wird.
Gemäß der Homepage der AWMF hat die Deutsche Gesellschaft
für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) inzwischen 13
Leitlinien der Stufe 1 vorgelegt: acht zu Schmerzen (atypischer Gesichtsschmerz
bis Fibromyalgie) und fünf zu Schizophrenie, Affektive Erkrankungen,
Demenz, Angsterkrankungen und Essstörungen.
Vor diesem Hintergrund haben sich unter Federführung der
Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-Sucht
e. V.) und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie,
Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) weitere 11 Gesellschaften und
Berufsverbände zusammengefunden, um Leitlinien für substanzbezogene
Störungen zu entwickeln. Die 1. Konsensuskonferenz wurde am 15.9.2000 in
Extertal abgehalten. Dabei wurde das weitere Vorgehen festgelegt,
Arbeitsgruppen gebildet, ein Redaktionskreis beschlossen und eine Gliederung
der Empfehlungskapitel nach Frühintervention, Akut- und Postakutbehandlung
(in Kurz- und Volltextversion) erarbeitet. Die 2. Konsensuskonferenz fand am
27.4.2001 in Frankfurt statt. Dabei wurde insbesondere auf die Problematik der
Leitlinien nach § 137e SBGV abgehoben, der Expertenkreis erweitert
sowie die Kapitelinhalte präzisiert. Insbesondere wurde als wichtiges
Merkmal der weiteren Leitlinienentwicklung die Transparenz der Finanzierung
unterstrichen. Zunächst wurde festgelegt, dass Konsensuskonferenzen nach
dem Prinzip der sparsamen Wirtschaftsführung abzuhalten sind, wobei
möglichst die Nähe zu Kongressen genutzt werden soll. Zusagen zur
Kostenerstattung für Reisen und Unterkunft sowie für die
späteren Druckkosten der Leitlinien liegen vor von der DG-Sucht, DGPPN und
der Prof.-Dr.-Mathias-Gottschaldt-Stiftung.
Am 20.9.2001 wurde die erste Gesamtgliederung der Drogenbeauftragten
der Bundesregierung, Frau Marion Caspers-Merk, durch Herrn Prof. Dr. Schmidt
überbracht und erläutert.
Die 3. Konsensuskonferenz fand am 22.11.2001 während der
Jahrestagung der DGPPN in Berlin statt; es wurde der Einbezug niedergelassener
Ärzte „zum Mitlesen” beschlossen. Der Entwicklungsstand der
Leitlinien wurde ferner auf einem Symposium der DGPPN dargestellt. Die 4.
Konsensuskonferenz hat am 10.4.2002 in Berlin während des Jahreskongresses
der DG-Sucht stattgefunden. Auch während des DG-Sucht-Kongresses wurde der
aktuelle Stand der Leitlinienentwicklung auf einem eigenen Symposium
dargestellt.
Derzeit besteht folgende Gliederung: Alkohol-bezogene
Störungen, Opioid-bezogene Störungen, Cannabis-bezogene
Störungen, Kokain- und Psychostimulanzien-bezogene Störungen,
Tabak-bezogene Störungen, Medikamenten-bezogene Störungen (Sedativa
und Hypnotika, Mischanalgetika).
Die Arbeitsgruppen setzen sich wie folgt zusammen:
Alkohol-bezogene Störungen:
Frühinterventionen: Autoren: Rist, Hapke, Demmel, Kremer,
Klein, Richter, Schwantes, Rumpf. Akutbehandlung: Autoren: Mundle, Banger,
Driessen, Mugele, Kunze, Schmidt, Schwoon, Seitz, Soyka, Stetter, Veltrup.
Lesen: Cimander, Hutschenreuter, Mann, Kuhlmann, Peters, Schüder.
Postakutbehandlung: Autoren: Geyer, Beutel, Funke, Hutschenreuter, Küfner,
Müller-Fahrnow, Müller-Mohnssen, Soyka, Stetter, Veltrup,
Wiesbeck.
Opioid-bezogene Störungen:
Frühintervention: Bühringer, Thomasius,
Schulte-Markwort, Koch. Akutbehandlung: Reymann, Cimander, Gastpar,
Hähnchen, Havemann-Reinecke, Köhler, Pöhlke, Tretter.
Postakutbehandlung: Havemann-Reinecke, Cimander, Günthner, Küfner,
Sarrazin, Schallast, Schneider, Tretter, Vollmer.
Cannabis-bezogene Störungen:
Bonnet, Tossmann, Gouzoulis-Mayfrank, Harries-Hedder, Kovar,
Schneider.
Kokain- und Psychostimulanzien-bezogene
Störungen:
Thomasius, Heinz, Gouzoulis-Mayfrank, Schütz.
Tabak-bezogene Störungen:
Batra, Schütz, Lindinger, Poetschke-Langer, Nowak,
Jork.
Medikamenten-bezogene Störungen:
Poser, Böning, Hartkamp, Holzbach.
Ausblick
Ausblick
Der Lebenszyklus einer Leitlinie besteht in ihrer Entwicklung, der
Implementierung in der Praxis, der Überprüfung der
Praktikabilität des Einsatzes und der Verbesserung der
Behandlungsergebnisse und schließlich in der Überarbeitung unter
Bezug neuer Erkenntnisse aus der Forschung. Die in Arbeit befindlichen
Behandlungsleitlinien für substanzbezogene Störungen sind
höherstufig zu bewerten als die bereits vorliegenden DGPPN-Richtlinien zu
psychiatrischen Störungen aufgrund ihrer interdisziplinären
Abstimmung. Dabei steht der aktuelle Leitlinienprozess unter dem Druck
gesellschaftspolitischer und gesundheitsökonomischer Vorgaben. Zu fordern
ist, dass die Weiterentwicklung der Suchtkrankenbehandlung in Deutschland sein
im internationalen Vergleich hohes Qualitätsniveau erhält.
Die aktuelle Versorgungspraxis scheint allerdings durchaus
Entwicklungspotenziale zu enthalten, wie z. B. im Bereich der
Frühintervention, der intensiveren Nutzung von rehabilitativen Ressourcen
durch bisher nur unzulänglich erreichte Gruppen von
Abhängigkeitskranken oder auch das Schnittstellen-Management von Entzug
und Entwöhnung [13]. Empfohlen wird eine
zunehmende Flexibilisierung und Individualisierung therapeutischer Ansätze
anstelle der Verwendung starrer Regelungen (z. B. 6-Monats-Dogma,
„7-Tage-Regelung”). Einheitstherapeutische Ansätze sollen
durch störungs-, defizit- bzw. ressourcenspezifische Behandlungsmodule
ersetzt werden [13]. Die verschiedenen
Behandlungsformen müssen durchlässiger und vernetzter werden, was
konkret bedeutet, dass man auch während eines Behandlungsprozesses von
einer Organisationsform in eine andere wechseln kann und vice versa
[13].
Gesamtwirtschaftliche Trends im Gesundheitswesen sollten nicht aus
dem Auge verloren werden. So besteht die Befürchtung, dass Ressourcen
für Disease-Management-Programme aus dem Risiko-Strukturausgleich genommen
werden, die der Finanzierung des Suchthilfesystems entzogen werden
könnten. Es bleibt zu bedenken, dass die aus der Krankheitsverleugnung
sich ableitende Unfähigkeit Suchtkranker, sich oft nicht an
Disease-Management-Programme halten zu können, ihnen nicht zum Nachteil
ausgelegt werden dürfen (da diese gerade zum Kern und zur Natur von
Suchterkrankungen gehört).