Hintergrund: Krieg und Folter
Nach Schätzungen von Jacobsen und Vesti (1990) haben zwischen
10% und 30% aller Flüchtlinge, die in europäischen
Ländern ankommen, Folter erlitten [1]. Als Folter
bezeichnen die Vereinten Nationen jede Handlung, bei der eine in amtlicher
(staatlicher) Eigenschaft handelnde Person einer anderen Person
vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen
zufügt - ausgenommen davon sind Schmerzen, die sich aus
zulässigen Sanktionen ergeben (z.B. Strafrecht) [2]. Folter ist ein immer wiederkehrender Bestandteil von
politischer Verfolgung und Terror. Obwohl verschiedene internationale
Konventionen Folter verbieten, liegen „amnesty international”
doch alljährlich aus mehr als der Hälfte der Staaten der Erde
Berichte von stattfindenden Folterungen vor [3].
Folter führt direkt zu schweren körperlichen Schäden
und erhöht langfristig das Risiko für psychische Störungen
insgesamt, besonders häufig sind Posttraumatische
Belastungsstörungen, andere Angsterkrankungen, Depressionen, somatoforme
und dissoziative Störungen und andere. Verschiedene Studien haben die
Häufigkeit der Posttraumatischen Belastungsstörung in
Flüchtlingsstichproben untersucht, die Angaben reichen dabei von etwa
10-50% [4] [5]
[6] [7]. Bei
Flüchtlingen besteht also ein sehr hoher Bedarf für psychosoziale,
therapeutische und medizinische Hilfe. Dem gegenüber steht die gesetzliche
Regelung, die den Anspruch, den Flüchtlinge in Deutschland auf
Krankenhilfe haben, stark einschränkt (§4 AsylbLG): Nur bei akuten
Erkrankungen und akutem Schmerz wird Behandlung gewährt. Ein Anspruch auf
Psychotherapie lässt sich faktisch nicht umsetzen. Damit bleiben schwere
und chronische Erkrankungen regelmäßig unbehandelt.
Im Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin behandeln wir
Menschen, die Opfer von Kriegen, Folter und politischer Verfolgung geworden
sind und an körperlichen und psychoreaktiven Folgen der erlittenen Gewalt
leiden [8]. Etwa 90% unserer Patienten leben
über Jahre hinweg in einer unsicheren Aufenthaltssituation mit Phasen
akuter Abschiebebedrohung. Um zu verstehen, was es bedeutet, Menschen
psychotherapeutisch zu behandeln, die erkrankt sind, weil sie massive Gewalt
von anderen Menschen im Rahmen von politischer Verfolgung erlitten haben,
reicht es m. E. nicht aus, das diagnostische Konzept der PTBS zu kennen.
Darüber hinaus ist ein Verständnis für den
gesellschaftspolitischen Kontext, in dem die Gewalt möglich wurde und in
dem sie häufig nicht oder nur ungenügend sanktioniert wird,
notwendig. Der gesellschaftspolitische Kontext von Folter beinhaltet nicht nur
die Diktatur des Staates, der foltert. Zum Kontext gehören auch jene
Staaten, die dies unterstützen, dulden oder folterüberlebende
Flüchtlinge nicht aufnehmen. Bei Folterüberlebenden sind die
individuellen sozialen und gesundheitlichen Folgen, die wir beobachten, nicht
zufällig als Folge der Gewalt entstanden, sie sind vielmehr von den
Folterern und den Diktaturen im Hintergrund beabsichtigt.
Das Ziel der Folterer ist es, ihr Opfer in eine Situation extremer
Ohnmacht und maximalem Schmerz zu bringen und dabei minimale und nur
unspezifische Spuren zu hinterlassen.
Das Erhalten einer Aussage ist bloß vordergründiges Ziel
der Folterungen. Gefoltert wird auch, nachdem die Informationen längst
bekannt geworden sind. Geständnisse unter Folter sind mehr als die
Preisgabe von Informationen und der Verrat von Menschen: Zu gestehen
beinhaltet, den Folterer als Herrscher anzuerkennen. Im Geständnis bricht
der letzte Widerstand. Unter der Folter nicht zu sprechen ist die letzte
Möglichkeit, um die eigenen Grenzen und die eigene Identität zu
wahren. Die Folterer versuchen gezielt, diesen Widerstand zu brechen, um damit
das Erleben von Identität zu zerstören. Deshalb geht die totale
Demütigung und Zerstörung der Person auch dann weiter, wenn die
angeblich gesuchten Informationen von ihr längst gegeben wurden. Folter
ist ein Angriff auf die grundlegenden menschlichen körperlichen,
psychischen und sozialen Funktionen. Die Zufügung von Schmerz hat den
Zweck, letztendlich die Persönlichkeit des Opfers zu zerstören.
Folter soll das Empfinden ihres Opfers, Teil einer menschlichen Gemeinschaft zu
sein, Pläne und Hoffnungen für die Zukunft zu haben, vernichten.
Folter zerstört aber nicht nur ihr unmittelbares Opfer, weil die
Destruktion der Persönlichkeit des Opfers auch jene betrifft, die mit ihm
zusammen leben. Durch den Verrat, der unter der Folter stattfindet, durch das
Zufügen von tabuisierten Verletzungen (z.B. Vergewaltigung), durch die
nachhaltigen Folgen im psychosozialen Bereich, z.B. das oft generalisierte
Misstrauen der Opfer, werden die Beziehungen des Folterüberlebenden zu
seiner Familie, seinen Freunden und Kollegen nachhaltig gestört. Dadurch
wird sein gesamtes soziales Umfeld in Mitleidenschaft gezogen. So kann Folter
den Zusammenhalt von Familien und ganzen Gemeinden beschädigen.
Außerdem ist der Folterüberlebende durch die Folgen der Folter
gezeichnet und wird damit zum warnenden Beispiel für seine Umgebung. Um
weiterer Folter zu entgehen, müssen die Überlebenden oft
flüchten und in den Zufluchtsstaaten unter ablehnenden Bedingungen leben.
Die gezielte Vertreibung, das Leben unter den Einschränkungen, die der
Flüchtlingsstatus bedeutet, setzt die Gewalt der Folterstaaten fort.
Folter und Verfolgung geschehen geschlechtsspezifisch
[9]. Frauen werden nicht nur gefoltert, weil sie
selber politisch aktiv sind oder einer bestimmten Gruppe angehören, sie
werden auch deshalb verfolgt, weil sie Angehörige von Verfolgten sind,
oder einfach weil sie Frauen sind und damit bestimmten Normen, die nur für
Frauen gelten, unterworfen sind. Wenn Frauen diese Regeln übertreten (z.B.
Berufsverbote, Kleiderordnung, rigide Sexualnormen) wird das häufig als
Ausdruck ihrer prinzipiellen Gegnerschaft zum Regime interpretiert und hart
bestraft. Außerdem ist die Folter von Frauen regelmäßig mit
sexualisierter Gewalt verbunden, das Bekanntwerden bedeutet in manchen
Gesellschaften den Ausschluss aus dem sozialen Verband bis hin zum Verlust der
Existenzgrundlage.
Das Ziel der Folterer ist die Durchsetzung der Herrschaft, die
Terrorisierung der Gesellschaft. Das einzelne Opfer ist das warnende Beispiel
für alle anderen, die dadurch eingeschüchtert und zum Schweigen
gezwungen werden sollen. Diese Absicht der Folterer und die damit verbundenen
sozialen und gesundheitlichen Folgen, aber auch die Einschränkung der
Rechte von Flüchtlingen im europäischen Zufluchtsland erfordert eine
spezielle therapeutische Grundhaltung, um Folterüberlebenden zu
begegnen.
Adäquates Traumakonzept für die Arbeit mit
Folterüberlebenden
Das gängige Verständnis von Trauma, wie es im ICD-10 oder
im DSM-IV beschrieben wird, beruht auf der Ansicht, dass es sich bei einem
traumatischen Ereignis um eine punktuelle Erfahrung handle, zu einem bestimmten
Zeitpunkt oder auch zu mehreren, aber immer zeitlich begrenzt mit einem Anfang
und einem Ende. Es wird davon ausgegangen, dass das traumatische Ereignis
selbst ein Ende habe und sich danach bei manchen
Menschen so genannte post-traumatische Symptome und Erkrankungen entwickeln
können, wenn das Trauma an sich schon „vorbei” sei. Dieses
Konzept von Trauma ist für jene Menschen nicht sinnvoll, die chronische
Traumatisierungen erlitten haben, z.B. lange andauernde Verfolgung, wiederholte
Haft, Folter und Flucht und die nun unter den Belastungen des
Flüchtlingsalltags in Europa leben. Hilfreicher ist für uns ein
Prozessverständnis der Traumatisierung, wie dies etwa bei Fischer und
Riedesser (1998) oder bei Keilson (1979) beschrieben ist [11] [12].
Fischer und Riedesser (1998, S. 59-119) [11] beschreiben die psychische Traumatisierung als einen
Prozess, in dem die Reaktion eines Menschen auf eine traumatische Situation als
Versuch verstanden wird, mit der traumatischen Erfahrung irgendwie zurecht zu
kommen (sog. Prozess traumatischer Kompensation). Die einschneidende Bedeutung
des traumatischen Erlebnisses hält auch dann an, wenn das Ereignis selbst
vorbei ist. Wenn nach dem Ereignis keine Phase der Erholung folgen kann (bei
andauernder Bedrohung oder wiederholter Gewalt, also regelmäßig im
politischen Verfolgungskontext oder bei intrafamiliärer Gewalt) komme es
zu einem andauernden traumatischen Prozess. Darunter sind die Bemühungen
des Traumatisierten zu verstehen, eine andauernde existenzbedrohende und
unverständliche Erfahrung zu begreifen und sie in das eigene Selbst- und
Weltverständnis zu integrieren. Der Betroffene entwickelt dazu eine
subjektive Theorie darüber, wodurch das Trauma entstanden ist, wie es
geheilt werden kann und was geschehen muss, um eine erneute Traumatisierung zu
vermeiden. Das Wesentliche dieses Prozess-Modells von Fischer und Riedesser
bildet das Verständnis, dass der Einfluss der traumatischen Situation
nicht automatisch endet, wenn die Situation vorüber ist, sondern weiterhin
andauert.
Fischer und Riedesser betonen die soziale Dimension der
Verarbeitungsversuche: Ein traumatisches Erlebnis kann ein Mensch nicht alleine
bewältigen. Für die Entwicklung und Aufrechterhaltung des
traumatischen Prozesses ist es entscheidend, wie sich die Mitmenschen zum
traumatischen Leiden verhalten. Insbesondere bei bewusst herbei geführten
Traumatisierungen durch Menschenhand (Folter, Gewaltverbrechen) ist es wichtig,
dass die soziale Umwelt das erlittene Unrecht anerkennt und dass das Opfer von
der Gesellschaft Gerechtigkeit und Würdigung erfährt (a.a.O., S.
60f). Bagatellisierung und Verleugnung der Bedeutung und Schwere der erlittenen
traumatischen Ereignisse durch die soziale Umwelt können beim
traumatisierten Menschen zu einer Vertiefung der psychischen Störungen
führen [13]. Der traumatische Prozess ist daher
nie nur ein individueller, sondern stets auch ein sozialer Vorgang.
Ähnliche Ergebnisse über die Bedeutung der sozialen Umwelt
berichtete schon Keilson [12]. Er studierte die
Auswirkungen der Verfolgung auf jüdische Waisenkinder, die nach der Flucht
aus Deutschland in Holland lebten, und fand heraus, dass die Art und Weise, wie
diese Kinder in den Niederlanden aufgenommen wurden, einen noch
größeren Einfluss auf ihren Gesundheitszustand hatte als die
traumatischen Ereignisse, die sie während der Verfolgung in Deutschland
erlebt hatten. Nach Keilson ist die Phase nach der
politischen Verfolgung und erzwungenen Migration, die so genannte dritte Phase
der sequentiellen Traumatisierung, entscheidend für den individuellen
traumatischen Prozess, für die Entstehung und die Schwere von klinischen
Symptomen. Wenn ein Mensch, der traumatische Ereignisse überlebt hat,
weiteren Belastungen oder der öffentlichen Leugnung der traumatischen
Ereignisse ausgesetzt ist, verschlechtert sich häufig der
Gesundheitszustand des Betroffenen, posttraumatische und andere Störungen
entstehen oder verstärken sich. Andererseits können eine
frühzeitige soziale Unterstützung und rechtzeitige Hilfsangebote die
späteren somatischen und psychosozialen Folgen traumatischer Ereignisse
günstig beeinflussen. Das alles bedeutet, dass die Exilsituation für
traumatisierte Flüchtlinge eine Phase im traumatischen Prozess darstellt
und entscheidend ist für die Entwicklung, Aufrechterhaltung oder aber
für die Prävention von schweren gesundheitlichen Folgen. Für
Opfer von Krieg und politischer Verfolgung bedeutet die Hilflosigkeit und die
Belastung, die durch die Asylsituation bedingt ist, einen zusätzlichen
traumatischen Faktor.
Psychotherapie und notwendige Zusatzaktivitäten
Engagierte Abstinenz
Wenn wir als Psychotherapeuten mit Menschen arbeiten, welche
massives Unrecht und extreme Gewalt von Menschen erlebt haben, die
Repräsentanten einer Gesellschaft sind (z.B. Polizisten), müssen wir
aus einer fachlichen Notwendigkeit heraus die therapeutische Beziehung oft
anders gestalten, als die meisten von uns dies in ihren Ausbildungen gelernt
haben. Wesentlich für die therapeutische Beziehung ist, dass
Psychotherapeuten, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen behandeln, nicht
neutral in dem Sinne sein dürfen, als dass sie von den politischen und
gesellschaftlichen Realitäten absehen und damit so tun, als gäbe es
keine Verantwortlichen für das persönliche Leiden und das erlittene
Unrecht.
Fischer und Riedesser [11] (S. 1983ff)
beschreiben den Versuch, angesichts massiven Unrechts und traumatischer Gewalt
neutral bleiben zu wollen, als weit verbreitete Abwehrstrategie, obwohl diese
Haltung oft als „Wissenschaftlichkeit” oder
„Professionalität” ausgegeben werde. Damit erspare man sich
die Mühe, zwischen dem Angreifer und dem Opfer zu unterscheiden. Der
„neutrale” Beobachter ist jeder Verantwortung enthoben, indem er
sich vom Konflikt und vom Unrecht fernhält. Position zu beziehen ist
unbequem und mit Konsequenzen verbunden, eigenes Handeln wird notwendig. Wer
als Therapeut meint, im Angesicht real erlittener Gewalt wertneutral bleiben zu
können und nicht eindeutig Position für das Opfer nehmen zu
müssen (mit den dazu gehörenden öffentlichen und politischen
Konsequenzen), stellt sich in den Augen des Opfers auf die Seite der
Täter. Wertneutralität ist hier nach Becker [14] (1995, S. 114f) eine Form der Identifikation mit dem
Folterer. Psychodynamisch betrachtet verdecke die Neutralität auf dem Wege
der Rationalisierung die unbewusste Identifizierung mit und Parteinahme
für den Täter. Neutralität lasse sich außerdem nur bei
übermäßig großer Distanz von der Erlebnis- und
Handlungsperspektive der beteiligten Personen aufrechterhalten
[15].
Neutralität wird oft fälschlicherweise mit
therapeutischer Abstinenz gleichgesetzt: Abstinenz bedeutet in der
ursprünglichen Bedeutung des Wortes (abstinere) sich-enthalten, aber wovon
sollen sich Therapeuten enthalten? Von Interventionen, die eigenen
Bedürfnissen, Eigen- oder Gegenübertragungsreaktionen entspringen.
Eine solche Abstinenz ist natürlich sinnvoll und auch mit einer grundsätzlich solidarischen Haltung
dem Klienten gegenüber vereinbar. Für Fischer [15] (S. 116) ist eine „nicht-neutrale
Abstinenzhaltung” gegenüber dem Klienten notwendig, wenn dieser
Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden ist. Abstinenz bedeutet hier,
nicht eigene Bedürfnisse, Eigen- oder Gegenübertragungsreaktionen in
der Therapie auszuagieren (also z.B. nicht aus eigener Wut heraus vorzeitig die
Klientin zu juristischen Schritten zu drängen). Mit dieser
Abstinenzhaltung ist aber vereinbar, dass der Therapeut die Tat beurteilt, zum
Unrecht, das dem Patienten widerfuhr, Stellung bezieht und das Handeln der
Täter eindeutig verurteilt. Dazu gehört auch, dass die alleinige
Verantwortung und Schuld für eine konkrete Menschenrechtsverletzung beim
Täter liegt. Folter ist aus humanistischen Überlegungen heraus
generell abzulehnen, sie darf nicht aus angeblich guten Gründen (z.B.
„Terrorismusbekämpfung”) akzeptiert werden. Eine
wertneutrale Haltung gegenüber Menschenrechtsverletzungen wirkt für
die Opfer häufig retraumatisierend, da sie allzu häufig an die
soziale Umgebung erinnert, die sich mit den Mächtigen solidarisiert, die
die Taten anzweifelt oder darüber schweigt (vor allem bei tabuisierten
Gewaltverbrechen, sexualisierte Gewalt gegen Frauen, Angriffe auf die
Zivilbevölkerung, auf Kinder etc.). Sich klar zum erlittenen Unrecht zu
positionieren leitet sich schon aus der Empathie für den Klienten ab.
Die therapeutische Beziehung sollte also zwar abstinent, aber
nicht neutral, sondern vielmehr sozial engagiert („committed”)
sein. Das beinhaltet, dass der Therapeut mit dem Patienten eine bestimmte
Position gegenüber politischen Vorgängen teilen muss und versuchen
sollte, diese Vorgänge zu verändern (Becker 1995, S. 114f)
[14]. Neutralität impliziert eine Form der
Abstraktion von der Realität, dies ist bei Menschen, die Opfer von
extremen Formen von realer Gewalt wurden, absurd und führt nicht zu
produktivem therapeutischem Handeln. Die Psychopathologie des Patienten ist
unmittelbare Konsequenz der erlittenen Verfolgung, mehr oder minder neurotische
Strukturen vor der Verfolgung spielen eine untergeordnete Rolle. Das bedeutet,
dass die Erkrankung direkt mit der Realität einer Diktatur und mit der
durch sie beabsichtigten Zerstörung der Opfer verknüpft ist. Nur
dann, wenn die Therapeuten mit ihren Patienten eine Haltung der Opposition
gegenüber der Diktatur teilen, ist Behandlung möglich! Dies ist
eine politische und sehr persönliche Grundsatzentscheidung des
Therapeuten, der sich wie seine Patienten für demokratische Freiheiten und
für Menschenrechte engagiert (a.a.O.). Der Therapeut steht damit auf
derselben Seite wie der Patient: auf der der Verfolgten.
Soziales und politisches Engagement
Therapeuten von Folterüberlebenden sind nur dann effektiv,
wenn sie sich von dem Ziel der Folterer, Herrschaft durchzusetzen, abgrenzen.
Das hat Konsequenzen für die Therapiestunde, aber auch für sonstigen
Aktivitäten. Wenn unsere Patienten aufgrund ihrer sozialen Benachteiligung
nicht in der Lage sind, dringende Lebensangelegenheiten selbst zu regeln, kann
es für Psychotherapeuten notwendig werden, sich mit praktischen Fragen des
Lebens der Klienten befassen und praktische Hilfe zu leisten oder zu
ermöglichen. Dies ist dann notwendig, wenn der Klient es nicht alleine
nicht schaffen kann - das bedeutet manchmal auch, in der Eingangsphase
der Psychotherapie sozialarbeiterisch tätig zu sein und sich um
Aufenthalts- und Wohnungsprobleme, Schulden und Sozialhilfeprobleme zu
kümmern bzw. an entsprechende Beratungsangebote vermitteln, diese selbst
heraussuchen oder Termine vereinbaren, wenn der Klient das nicht kann
[16] (Breitenbach & Requardt 2001, S. 21) oder
wenn kein Sozialarbeiter diese Aufgaben übernehmen kann. Oft müssen
Anwälte zu Rate gezogen werden.
Damit wir im Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin
unsere Patienten überhaupt behandeln können, sind sozialarbeiterische
Maßnahmen entscheidend. Am Anfang der Therapie müssen meist
aufenthaltssichernde Tätigkeiten erfolgen. Wir schreiben klinische
Stellungnahmen, in denen wir uns auf die erlittene politische Verfolgung,
Folter und die daraus resultierenden Gesundheitsschäden beziehen. Wir
interessieren uns für den Stand des Asylverfahrens und vermitteln zu
Rechtsanwälten. Wir kümmern uns darum, dass die Menschen
überhaupt auf legalem Wege aus anderen Bundesländern zu uns kommen
können (Residenzpflicht), dass das Sozialamt ihnen die U-Bahn-Karten
bezahlt. Wir bemühen uns um eine einigermaßen erträgliche
Wohnsituation. Ohne diese praktischen Tätigkeiten wäre eine
Psychotherapie im engeren Sinne gar nicht möglich und auch nicht
sinnvoll.
Es gibt jede Menge Diskussionen unter Psychotherapeuten
darüber, ob solch praktische Hilfe nicht zu weit gehe, ob es nicht
eigentlich die Aufgabe der Therapeuten wäre, die Klienten dazu zu
befähigen, dass sie selbst die Situationen bewältigen können.
Dies trifft zu für Klienten, die in der Lage sind, ihren Alltag zu regeln
bzw. die über ein ausreichendes soziales Netz und über Zugang zu
Hilfsangeboten verfügen, die noch Bürgerrechte besitzen. Es gilt
nicht für Menschen, die gesellschaftlich so stark benachteiligt sind, dass
sie kaum eine Chance darauf haben, respektiert und ernst genommen zu werden
(z.B. Flüchtlinge, Obdachlose). Hier kann es notwendig sein, dass der
Psychotherapeut sich zunächst stark praktisch engagiert und direktiv
vorgeht und dann allmählich seine Aktivität reduziert, wenn zu einem
späteren Zeitpunkt eine Form von Psychotherapie möglich wird, die auf
direkte Interventionen im Umfeld des Klienten verzichten kann. Breitenbach und
Requardt [16] (2001, S. 90), 2 systemische
Psychotherapeuten, sagen dazu: „Es scheint, als habe das Beschreiben des
Helferkomplexes inzwischen dazu geführt, dass sich viele Helfer vor
Kollegen oder Supervisoren entschuldigen, wenn sie sich für hilflose
Klienten einsetzen, da Engagement vielfach schon als mangelnde
Professionalität angesehen wird.”
In der Vergangenheit war die vorhandene oder fehlende Anerkennung
von Traumatisierungen und ihren Folgeerkrankungen sowie die Anerkennung der
spezifischen Probleme und Bedürfnisse von Traumaüberlebenden immer
vom politischen Kontext beeinflusst, dies ist auch in den heutigen Diskussionen
zu Krankheiten bei Flüchtlingen der Fall [17]
[18] [19]. Therapeuten von
Folterüberlebenden bewegen sich stets im politischen Raum, ob sie das nun
beabsichtigen oder nicht. Folterüberlebende werden sich nur dann von ihren
Therapeuten angenommen und verstanden fühlen, wenn sich das Engagement der
Therapeuten gegen die Folter nicht nur auf die Therapiestunde beschränkt,
sondern eingebettet ist in ein aktives Engagement für Demokratie und
Menschenrechte. Menschen, die gesellschaftlich diskriminiert und benachteiligt
werden, die z.B. durch Ausländergesetze entrechtet und von
Unterstützungsmöglichkeiten ferngehalten werden, benötigen unser
ganz besonderes Engagement. Bei diesen Menschen müssen wir als
Psychotherapeuten mehr praktische Hilfe leisten als z.B. bei Menschen, die als
Mittelschicht-EU-Bürger über allgemeine Bürgerrechte
verfügen.
Wenn Psychotherapeuten sich außerhalb der Therapiestunde und
losgelöst von einem konkreten Schicksal menschenrechtlich und politisch
engagieren, kann das helfen, beim einzelnen Patienten innerhalb der
Therapiestunde die therapeutischen Grenzen besser zu wahren. Die Versuchung,
über den einzelnen Patienten politische Ziele zu erreichen, wird
verringert, wenn Therapeuten in einem anderen Forum engagiert sind, und
darüber versuchen können, gesellschaftliche Verhältnisse zu
beeinflussen. Die therapeutische Beziehung wird dadurch entlastet.
Öffentliche Rehabilitation
Öffentlichkeitsarbeit ist für uns eine weitere
notwendige Ergänzung der therapeutischen Arbeit. Sie sichert Spendengelder
und damit notwendige weitere Einnahmen, sie führt aber auch zu einer
gewissen öffentlichen Bekanntheit der Einrichtung und stellt dadurch bei
ausländerpolitischen Auseinandersetzungen und bei menschenverachtenden
Maßnahmen, z.B. erzwungenen Abschiebungen von schwer kranken Menschen,
einen wichtigen Schutz für die Patienten dar. Für die Patienten ist
das Wissen, dass sich Therapeuten auch außerhalb des Therapieraumes
öffentlich für Menschenrechte engagieren, oft eine wichtige
Voraussetzung dafür, dass sie zu uns kommen und sich auf eine
vertrauensvolle Beziehung einlassen können.
Öffentlichkeitsarbeit ist auch deshalb wichtig, weil die
Behandlung der Folgen politischer Gewalt und Folter die soziale Rehabilitation
ihrer Opfer mit einschließen muss. Verfolgt und gefoltert zu werden ist
nicht nur ein persönliches unglückliches Schicksal, sondern eine
gesellschaftliche und politische Realität, Folter ist nur in einem
bestimmten politischen Kontext möglich. Deshalb hat die Behandlung von
Folterüberlebenden stets auch eine gesellschaftspolitische und soziale
Dimension. Folterüberlebende und Überlebende von mitmenschlicher
Gewalt leiden nicht an innerpsychischen Realitäten, sondern an der
Unterdrückung durch andere Menschen, diese ist oft genug real und nicht
nur eine innerpsychische Phantasie. Das Ziel der Behandlung sollte es daher
sein, die Grenzen von persönlichem Selbst und externaler Realität zu
rekonstruieren und die erlittenen Verletzungen und Verluste zu betrauern. Die
Rehabilitation kann aber nicht nur innerhalb einer privaten
psychotherapeutischen Beziehung stattfinden (Becker 1995, S. 99)
[14]. Wer politische Verfolgung und Folter erlitten
hat, fühlt sich in der Welt und in der menschlichen Gemeinschaft nicht
mehr sicher, oft fühlen sich die Opfer von sich selbst und von anderen
Menschen entfremdet, sie fühlen sich des Mensch-Seins beraubt
[20]. Deshalb ist für die Rehabilitation der
soziale Kontext entscheidend, in dem die Opfer wieder ein Gefühl von
Verbundenheit zu anderen Menschen entwickeln und trotz dem, was sie erlitten
haben, weiterleben können (in dem Zusammenhang sind auch internationale
Strafgerichtshöfe wichtig). Rehabilitation der Folgen von
Menschenrechtsverletzungen ist nur dann möglich, wenn eine soziale
Gemeinschaft das extreme Unrecht, das dem Opfer zugefügt wurde, anerkennt.
Diese Anerkennung muss irgendeine Form der Entschädigung, aber zumindest
einen nicht beschränkten Zugang zu juristischer, psychosozialer und
medizinischer Hilfe mit einschließen. Wenn eine solche gesellschaftliche
Anerkennung des erlittenen Unrechts fehlt, wenn z.B. Folterüberlebende,
wie in den meisten Ländern Europas, im Gegenteil mit diskriminierenden
Bedingungen und rechtlichen Beschränkungen des Flüchtlingsalltags
konfrontiert sind, wenn der Zugang zur Gesundheitsversorgung durch mangelnde
Angebote, durch Fehlen der Übernahme von Dolmetscherkosten etc.
beschränkt ist, werden sie weiter von anderen Menschen und der
menschlichen Gemeinschaft insgesamt entfremdet, das kann klinische Symptome
verstärken.
Was bedeutet das für die Therapiestunde? Soziale
Rehabilitation innerhalb der Therapie kann heißen, das private Leiden zu
verändern, indem das Bewusstsein des Klienten für die sozialen und
politischen Dimensionen des Leidens erweitert wird. Der Gedanke des Unrechts
(im Unterschied zum Unglück) ist dabei zentral. Das Unrecht muss aber auch
öffentlich bekannt gemacht werden, was Aktivitäten außerhalb
der Therapiestunde notwendig macht. Ärzte und Psychotherapeuten haben sich
dazu verpflichtet, heilend tätig zu sein. Daher ist es auch unserem
Interesse, krankmachende Faktoren zu benennen und uns für ihre
Veränderung einzusetzen. Die öffentliche und politische Arbeit ist
daher eine notwendige Voraussetzung und auch die logische Fortsetzung der
psychotherapeutischen Tätigkeit mit Opfern von
Menschenrechtsverletzungen.
Wenn wir als Therapeuten mit den individuellen und klinischen
Folgen der erlittenen Traumatisierungen durch Menschenhand konfrontiert sind,
wenn wir erkennen, dass Folterüberlebende nicht die notwendige Hilfe
erhalten, sondern weiter diskriminiert werden, berührt das unser
Demokratie- und Menschenrechtsverständnis und betrifft uns unmittelbar,
indem wir teilhaben an Gesellschaften, die Folter praktizieren,
ermöglichen (z.B. durch legale Produktion und Verkauf von speziellen
Elektrofolter-Geräten auch durch deutsche Firmen) oder dulden
[21]. Als Helfer von Folterüberlebenden sind wir
in Opposition zu Diktaturen, das beinhaltet auch die Opposition zu manchen
gesellschaftspolitischen Strömungen im eigenen Land. Politisches
Engagement und Öffentlichkeitsarbeit ergeben sich daher nicht
zusätzlich zur therapeutischen Arbeit, sondern sie sind die notwendige
Konsequenz aus dem Wahrnehmen und Verstehen von politischer Gewalt. Unrecht
wahrzunehmen, fordert aktives Handeln. Eine Haltung der Neutralität oder
des Sich-Heraushaltens unterstützt die Täter und fördert eine
Atmosphäre des Schweigens und Nicht-Beachtens, die von Tätern
beabsichtigt ist.
Die wachsenden Probleme von Flüchtlingen in Europa sind auch
darin begründet, dass die europäischen Staaten versuchen, Menschen
davon abzuhalten, nach Europa zu flüchten oder in Europa zu bleiben (durch
langwierige und demütigende Asylverfahren, minimale soziale Rechte und
eingeschränkte gesundheitliche Versorgung, äußerst mangelhafte
oder fehlende Unterbringung, Arbeits- und Studierverbot, Schengener Abkommen
etc.). Im Asylverfahren wird die Tatsache, dass bis zu einem Drittel aller
Flüchtlinge politische Verfolgung und Folter erlitten haben und als Folge
davon an schweren psychischen Störungen leiden, nicht berücksichtigt
[17]. Aufgrund der psychischen Erkrankungen, die
häufig Konzentrationsstörungen, Vermeidung des Sprechens über
die traumatischen Ereignisse, sogar dissoziative Gedächtnisverluste
beinhalten, sind Asylsuchende häufig nicht in der Lage, anschaulich,
vollständig, detailreich und widerspruchsfrei ihre Asylgründe
vorzutragen, wie das im Verfahren gefordert wird [22]. Nachträgliche Angaben werden häufig als
übertrieben und unglaubwürdig abgetan. Die Folgeerkrankungen der
Folter minimieren die Chance der Überlebenden, Asyl zu erhalten. Die
Probleme im Flüchtlingsalltag werden von den Überlebenden der Folter
häufig als Fortsetzung des Gefangen-Seins und des Terrors erlebt. Für
uns im BZFO sind politisches Lobbying und berufspolititische Aktivität die
Voraussetzung, um für unsere Klienten weiterhin psychotherapeutisch und
medizinisch tätig sein zu können.