Einleitung
Wir erinnern an ein Krankeitsbild, das seit seiner Erstbeschreibung im Jahr 1916 [1] immer wieder Anlass zu Diskussionen über seine Eigenständigkeit gibt. Klinisch treten
dabei vereinzelte oder auch am gesamten Integument dichtstehende hyperkeratotische
Knötchen und Knoten mit zentralem Hornpfropf auf. In Verbindung mit dem spezifischen
histologischen Aspekt erhielt die Krankheit den deskriptiven Namen „Hyperkeratosis
follicularis et parafollicularis in cutem penetrans”.
Die Erkrankung verdankt ihren Namen dabei Josef Kyrle (gesprochen Kêrlé), der als
Sohn eines westenglischen Wanderschauspielers und einer oberösterreichischen Apothekerstochter
1880 in Schärding am Inn geboren wurde, in Graz studierte und sich unter Anton Weichselbaum
und später Ernst Finger in Wien habilitierte (Abb. [1]). 1918 wurde Kyrle zum außerordentlichen Professor für Dermatologie und Syphilogie
in Wien ernannt, wo er völlig unerwartet schon 1926 starb. Bei annähernd 100 Publikationen
im Bereich von Anatomie, Syphilogie und allgemeiner Dermatologie zeugen neben der
Entdeckung des „Morbus Kyrle” vor allem die zweibändigen „Vorlesungen ueber die Histo-Biologie
der menschlichen Haut und ihrer Erkrankungen” und die bemerkenswerten Forschungen
über die Behandlung der progressiven Paralyse mit Plasmodien von seiner ausgesprochenen
Forschernatur und einem anerkannten Spezialisten auf dem Gebiet der Dermatohistologie.
Fast wäre ihm sogar noch posthum aufgrund seiner Forschungen über die Fiebertherapie
der Neurosyphilis mit Malariaerregern der Nobelpreis verliehen worden.
Abb. 1 Josef Kyrle (1880 -1926).
Kasuistik 1
Anamnese
Bei einem 24-jährigen Marinesoldaten traten seit ca. 3 Jahren gelegentlich leicht
juckende, bis linsengroße, gerötete, schuppende Papeln an beiden Unterschenkeln, vereinzelt
auch an den Oberschenkeln und Oberarmen auf. Bei ansonsten normalem Allgemeinbefinden
waren bei ihm und in der Familie weder Hauterkrankungen noch Stoffwechselstörungen
bekannt.
Aufnahmebefund
An den unteren Extremitäten betont prätibial sowie diskret an den Oberschenkeln und
Oberarmen fanden sich bis linsengroße, z. T. flächig konfluierende, bräunliche bzw.
grau-rötliche, z. T. spinuloide keratotische Papeln mit überwiegend follikulärer Bindung,
zum Teil mit festhaftender, fein- bis groblamellärer Schuppung.
Weitere Befunde
Cholesterin 261 mg/dl; Triglyzeride 560 mg/dl. Sonstige Routinelaborparameter inklusive
Blutzucker waren unauffällig. Adipositas permagna.
Histologie
Leichte lamelläre Orthohyperkeratose mit follikulärer Akanthose und in Stufenschnitten
kolbenartigen, follikulären Invaginationen, die von teils para-, teils orthokeratotischem
Hornmaterial ausgefüllt waren. Fokal degenerative Verschmälerungen der follikulären
Epithelstrukturen im Bereich der Invaginationen. Perifokal Vermehrung kapillärer Blutgefäße,
Elastikaverlust, Fibrosierungen, diskrete Lymphozyteninfiltrate und vereinzelt Histiozyten.
Keine transepidermale Bindegewebsausschleusung.
Therapie
Bei geringem Leidensdruck gelegentliche Anwendung harnstoffhaltiger Externa. Empfehlung
einer konsequenten Diät und Gewichtsreduktion zur Normalisierung der Fettstoffwechsellage.
Kasuistik 2
Anamnese
Bei einem 42-jährigen Patienten traten seit einem Jahr an den Beinen bis linsengroße,
gerötete, sich langsam vemehrende, keratotische Papeln auf, die zeitweise juckten
bei ansonsten normalem Allgemeinbefinden. In der Familie waren keine ähnlichen Hauterkrankungen
bekannt. Seit 29 Jahren bestand ein insulinpflichtiger Diabetes mellitus Typ I und
seit ca. 18 Jahren ein diabetisches Spätsyndrom mit u. a. 3-jähriger dialysepflichtiger
Nephropathie.
Befund
An den unteren Extremitäten fanden sich proximal betont disseminierte, zumeist eindeutig
follikuläre, verschieden stark gerötete Papeln mit spinuloiden oder pfropfartigen
Keratosen oder kleinen zentralen, von Blutkrusten ausgefüllten Erosionen. Ansonsten
normaler allgemeiner Untersuchungsbefund bei stabilisiertem diabetischen Spätsyndrom.
Weitere Befunde
Creatinin 12 mg %, Glukose < 180 mg %, Triglyzeride 222 mg %, Cholesterin 245 mg %.
Sonstige Routinelaborparameter waren unauffällig.
Histologie
Kolbenartige Invagination der Epidermis mit einem zentral parakeratotischen Hornkegel.
Degenerative Verschmälerung der überstürzt verhornenden Epidermis bis zum Durchbruch
des Hornkegels ins Korium. Lymphohistiozytäre Entzündungsreaktion mit Fremdkörperriesenzellen
in der Tiefe. Fokaler Elastikaverlust. Keine transepidermale Ausschleusung von Bindegewebe.
Therapie und Verlauf
Keine Besserung unter harnstoff- und salizylsäurehaltigen Externa, Versuch einer lokalen
Retinoidtherapie.
Diskussion
Der „Morbus Kyrle”, deskriptiv vom Erstbeschreiber Hyperkeratosis follicularis et
parafollicularis in cutem penetrans genannt, ist ein sehr selten diagnostiziertes
und immer wieder in seiner Eigenständigkeit umstrittenes Krankheitsbild, dessen Diagnose
erst durch die Kombination aus klinischem Bild und typischem histologischen Befund
gestellt werden kann. Gerade die Histologie erweist sich dabei als Fallstrick, wenn
man es versäumt, durch Serienschnitte den im Zentrum der keratotischen Papeln befindlichen,
in die Epidermis penetrierenden und häufig ins Korium perforierenden Hornpfropf darzustellen,
der für die Dermatose so typisch ist. Erst dadurch lassen sich andere „erworbene perforierende
Dermatosen” [2] wie die reaktive perforierende Kollagenose [3], die perforierende Follikulitis [4] und die Elastosis perforans serpiginosa [5] abgrenzen. Zu den klinischen Differenzialdiagnosen zählen v. a. der Morbus Flegel
[6], der Morbus Darier, die Keratosis follicularis, die Porokeratosis punctata und follikuläre
Formen der Psoriasis oder des Lichen ruber, bei abortiven Formen auch Spindelzellkarzinome
[7].
Bis heute ist die Ätiologie des Morbus Kyrle nicht eindeutig geklärt. Obwohl der Beginn
der Erkrankung einen Häufigkeitsgipfel zwischem dem 30. und 50. Lebensjahr zu haben
scheint, wurde sie auch schon kasuistisch bei Kindern beobachtet. Auch eine familiäre
Häufung bei Geschwistern ist beschrieben [8]
[9]
[10]
[11].
Eine mögliche Auslösung durch Viren, die Kyrle selbst vermutete, scheint nicht vorzuliegen.
Eher schon könnte es sich um ein Zusammenspiel zwischen genetischer Disposition und
metabolischen Störungen handeln. Hierbei sind in erster Linie ein Diabetes mellitus
(Patient 2), aber auch andere Stoffwechselstörungen wie Hyperthyreose, ethyltoxische
Leberzirrhose [12] und Hyperlipoproteinämie (Patient 1 [13]
[14]) zu nennen. Über das gehäufte Auftreten des M. Kyrle bei Diabetikern und Dialysepatienten,
wurde wiederholt berichtet [15]
[16]
[17]
[18]
[19].
Bei größeren angloamerikanischen Untersuchungen [18]
[20] konnten bei immerhin 10 % der Dialysepatienten erworbene reaktive Perforationsdermatosen
beobachtet werden.
Vermutet werden u. a. gestörte lokale Glykolisierungsprozesse [17], die v. a. bei schlecht eingestelltem Diabetes über die Bildung von so genannten
„advanced glycations endproducts” zu metabolischen Störungen in der Basalmembranzone
und bei der Keratinisation führen [21]. Offensichtlich handelt es sich dabei nicht um einen aktiven, penetrierenden, von
der Epidermis ausgehenden Prozess, sondern der Hornpfropf bildet sich passiv durch
eine Verlagerung des Keratinisierungsniveaus auf immer tiefere Epidermis- bzw. Follikelschichten
direkt über der Basalmembran [22].
Eine Ausheilung dieser ansonsten chronischen Dermatose wurde bisher nicht beobachtet
und die Therapie hat sich bisher auf rein symptomatische Maßnahmen zu beschränken.
Sowohl topische als auch systemische Behandlung mit Vit-A-Säure führt häufig zu einer
Besserung der Hauterscheinungen mit regelmäßigem Rückfall nach Absetzen der Behandlung
[23]
[24]
[25].
Ferner wurden mit der systemischen PUVA-Behandlung auch Lichttherapien in Kombination
mit oralen Retinoiden eingesetzt, wobei passagere Besserungen zu beobachten waren
[26].
Mittlerweile werden einige der erworbenen perforierenden Dermatosen als ein unspezifischer
Folgezustand von chronisch mechanischen Irritationen (Kratzen) bzw. rezidivierenden
oberflächlichen Traumata im Rahmen eines zum Beispiel urämischen Juckreizes angesehen.
Auch beim Morbus Kyrle wurde immer wieder die Eigenständigkeit der Erkrankung bestritten
[20].
Mit einigen anderen Autoren, die sich die Mühe der genauen Analyse der entsprechenden
klinischen Bilder machten, sind wir aber der Ansicht, dass es sich gerade wegen des
sehr typischen histologischen Befundes um eine eigene unabhängige Entität mit einer
spezifischen, wenn auch bisher ungeklärten Ätiopathogenese und auffälliger Affinität
zu v. a. diabetischen Stoffwechselstörungen handelt.
Da die Erkrankung oft nur geringe Beschwerden bereitet, wenig bekannt ist und sicher
oft klinisch fehlinterpretiert bzw. auch nach Probebiopsie oft noch histologisch im
wahrsten Sinne des Wortes übersehen wird, liegt ihre Inzidenz vielleicht deutlich
höher als bisher angenommen. Es lohnt sich also, gelegentlich an den Morbus Kyrle
zu erinnern und nachfolgend daran zu denken (Abb. [2]
[3]
[4]
[5]).
Abb. 2 Multiple, z. T. dichtstehende Papeln im Bereich beider Beine (Patient 2).
Abb. 3 Typisches klinisches Bild mit zentral hyperkeratotischen, erythematösen Papeln (linker
Oberschenkel, Patient 1).
Abb. 4 Lamelläre Orthohyperkeratose mit follikulärer Akanthose und kolbenartiger, follikulärer
Invagination. Perifokal Vermehrung kapillärer Blutgefäße, Elastikaverlust, Fibrosierungen,
diskrete Lymphozyteninfiltrate und vereinzelt Histiozyten (Patient 1, Übersichtsvergrößerung
× 25).
Abb. 5 Follikuläre Invagination, von teils para-, teils orthokeratotischem Hornmaterial ausgefüllt.
Fokal degenerative Verschmälerungen der follikulären Epithelstrukturen im Bereich
der Invaginationen. Keine transepidermale Bindegewebsausschleusung (Patient 1, Detailausschnitt
× 38).