Z Sex Forsch 2002; 15(2): 147-149
DOI: 10.1055/s-2002-32400
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Stellungnahme zu dem misslungenen Versuch der Bundesregierung, homosexuelle Opfer zu rehabilitieren

Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung
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Publication Date:
03 June 2002 (online)

Im Januar 2002 hat das Bundesministerium der Justiz den Entwurf eines „Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege” (NS-AufhGÄndG) vorgelegt, der inzwischen an den Bundestag weitergeleitet wurde. Dieser Entwurf sieht vor, nationalsozialistische Urteile gegen Wehrmachtsdeserteure und homosexuelle Männer aufzuheben. Als Unrecht qualifiziert werden in diesem Gesetzentwurf neben Urteilen der NS-Militärjustiz auch die zwischen 1935 bis 1945 ergangenen Urteile nach § 175 (einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern) und nach § 175 a Nr. 4 (männliche Prostitution).

Bereits im Vorfeld der parlamentarischen Debatten wird der Entwurf von Vertretern der Regierungskoalition als bemerkenswerter politischer Erfolg dargestellt. Für Bündnis 90/Die Grünen ist er ein „großer Durchbruch”, eine „würdige Regelung zur Rehabilitierung” (Volker Beck). Und die SPD erklärt pathetisch: „Wir wollen diesen Menschen, die auch heute noch Außenseiter sind, ihre Ehre zurückgeben” (Alfred Hartenbach). Auch wenn sich Ehre nicht zurückgeben lässt und der dürre Gesetzestext alles andere, nur keine würdige Regelung ist, würde ein solches Gesetz den Opfern der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung wenigstens Genugtuung verschaffen. Sie wären rehabilitiert. Nach der Verabschiedung des Gesetzentwurfs könnten sie in der Gewissheit leben, seinerzeit zu Unrecht verurteilt worden zu sein. Mehr aber auch nicht. Und auch das würde nur für wenige gelten, denn die meisten Männer, die im Nationalsozialismus wegen homosexueller Handlungen verurteilt wurden, leben nicht mehr. Die Mehrheit von ihnen starb folglich unrehabilitiert.

Der Gesetzentwurf ist aber noch in anderer Hinsicht ein rechtspolitisches Ungeheuer: Er hebt Unrechtsurteile auf und bestätigt diese zugleich. Das geschieht dadurch, dass die während des Nationalsozialismus nach §§ 175 und 175 a ergangenen Urteile als Unrechtsurteile bezeichnet werden, nicht aber jene, die zwischen 1949 und 1969 in der Bundesrepublik ergangen sind. Während dieses Zeitraums wurden in der Bundesrepublik etwa 40 000 Männer wegen homosexueller Handlungen verurteilt, und zwar auf der Grundlage des von den Nationalsozialisten 1935 verschärften Schandparagraphen. Das bedeutet im Klartext: Was im Nationalsozialismus Unrecht war, gilt in der Bundesrepublik weiterhin als Recht. Und es bedeutet zugleich, dass der Schaden an Freiheit, Körper und Gesundheit, den die von diesen Urteilen in der Bundesrepublik Betroffenen erlitten, nicht als solcher anerkannt wird. Diese Spaltung des Rechts dürfte weder den in der Bundesrepublik verurteilten homosexuellen Männern noch sonst jemand zu vermitteln sein.

Doch das ist nicht der einzige Widerspruch. Völlig ausgeklammert sind in dem Gesetzentwurf Fragen der Entschädigung. Sie wären in einer separaten, das NS-Unrechtsgesetz flankierenden Regelung zu kodifizieren. Das jedoch ist nicht vorgesehen. Die an der Gesetzesinitiative Beteiligten sehen sich deshalb auch in Erklärungsnot. „Den Betroffenen geht es nicht ums Geld. Sie wollen mit Anstand weiterleben können” (Hartenbach). Bewusst habe man „die Rehabilitierung von der Entschädigung abgekoppelt”. Die Entschädigung „vergessener Opfergruppen” sei in der Diskussion (Beck). Die euphemistische Bemerkung von den so genannten vergessenen Opfergruppen deckt nur zu, was allen an der Diskussion Beteiligten bewusst ist. Alle bisherigen Regelungen zur Entschädigung haben sich als eine Farce erwiesen:

Nach dem Bundesentschädigungsgesetz von 1953 wurden während der Nazi-Zeit nach §§ 175, 175 a verurteilte Männer überhaupt nicht als Verfolgte des NS-Regimes anerkannt. Nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz (AKG) von 1957 konnten sie theoretisch Ansprüche bis 31. 12. 1959 geltend machen. Praktisch haben davon nur wenige Gebrauch gemacht. Denn mit dem Antrag outete sich der Antragsteller als homosexuell und setzte sich damit der Gefahr einer erneuten Strafverfolgung aus. Insgesamt haben lediglich 14 homosexuelle NS-Opfer fristgerecht Anträge gestellt. Nach den Härterichtlinien von 1988 musste der Antragsteller nicht nur den NS-unrechtsbedingten Schaden nachweisen, um eine Entschädigung zu erhalten, sondern er musste sich in einer wirtschaftlichen Notlage befinden (d. h. bei Alleinstehenden monatlich weniger als DM 1.704 bzw. bei Verheirateten weniger als DM 2.142 verdienen). Insgesamt wurden 21 Anträge gestellt, davon 11 abgelehnt und 10 positiv entschieden.

„Vergessen” wurden die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus nicht. Die bisherigen Formen der gesetzlich möglichen individuellen Entschädigung sind - wie die Auflistung deutlich macht - skandalös. Bisher haben weniger als 50 Männer eine individuelle Entschädigung erhalten.

Dringend geboten scheint uns eine Ergänzung des vorgesehenen Gesetzes durch Regelungen, die die Ergebnisse einer kritischen Überprüfung der derzeit geltenden Praxis individueller Entschädigung aufnimmt und zugleich Rahmenbedingungen für eine kollektive Entschädigung fixiert.

Die fehlende kollektive Rehabilitierung und Entschädigung homosexueller Opfer ist schon deshalb eine Gerechtigkeitslücke, weil anderen Verfolgtengruppen solche Leistungen bereits zugestanden worden sind. Eine Möglichkeit, diese Gerechtigkeitslücke zu schließen, könnte eine aus öffentlichen Mitteln finanzierte Stiftung sein, die die Dokumentation der Diffamierung, Verfolgung und Vernichtung von Homosexuellen im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik zur Aufgabe hat und die in Erinnerung daran zugleich Projekte zur weiteren politischen Emanzipation homosexueller Männer und Frauen fördert.

Hamburg, Frankfurt am Main, Aachen und Bremen, im März 2002

Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung:
Prof. Dr. phil. Hertha Richter-Appelt, Erste Vorsitzende
Abteilung für Sexualforschung, Klinikum der Universität
Hamburg

Prof. Dr. phil. Martin Dannecker, Zweiter Vorsitzender
Institut für Sexualwissenschaft, Klinikum der Universität
Frankfurt am Main

Dr. med. Andreas Hill, Geschäftsführer
Abteilung für Sexualforschung, Klinikum der Universität
Hamburg

Dr. med. Ulrike Brandenburg
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Rheinisch-Westfälische Technische Universität
Aachen

Dr. phil. Günter Grau
Institut für empirische und angewandte Soziologie der Universität
Bremen

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