Menschen haben offenbar ein elementares Bedürfnis, sich, das
eigene Leben und zuweilen auch das anderer unter Kontrolle zu erleben und
Empfindungen von Hilflosigkeit zu vermeiden. „Kontrolle zu haben
heißt, Ziele erreichen zu können, seine Lebensbedingungen im Griff
zu haben, Freiheit oder doch Freiheitsgrade zu besitzen, funktionstüchtig
und glücklich zu sein, gelegentlich auch, Macht zu haben und sich
überlegen zu fühlen.” [1, S. 7]. Oft ist es gar
nicht die tatsächliche, sondern die wahrgenommene Kontrolle, die mit
persönlichem Wohlbefinden, Stresstoleranz, besserer Genesung von
Krankheiten und positivem Selbstbild einhergeht - mehr oder weniger
unabhängig davon, ob diese Kontrollmeinung gerechtfertigt oder
illusionär ist [1]. Umgekehrt kann die
Überzeugung der Nicht-Kontrolle dazu führen, dass tatsächliche
Kontrollspielräume nicht wahrgenommen werden und negative psychische
Folgen, etwa ein depressiver Affekt, eintreten. Das Vorgenannte schließt
im Übrigen nicht aus, Inseln der Nicht-Kontrolle (z. B. im Rausch)
als lustvoll empfinden zu können.
Wie weit ist nun aber die Kontrollfähigkeit bei Menschen mit
einem hohen Konsum psychotroper Substanzen wie Alkohol, Tabak oder illegalen
Drogen eingeschränkt oder ganz abhanden gekommen? Nach allgemeinem
Verständnis geht insbesondere die Abhängigkeit von Suchtmitteln mit einem Zwang, die
Substanzen zu konsumieren, und einer daran gekoppelten Einschränkung der
willentlichen Steuerungsfähigkeit einher. Doch erneut die Frage:
Wie viel der Steuerungsfähigkeit bleibt dabei auf
der Strecke? Und: Kann die verminderte Kontrollfähigkeit
zurückgewonnen werden? Die Antworten auf diese
Fragen entstammen zumeist dem Bereich des „Alkoholismus”. Da die
bevorzugten Antworten oftmals auch auf andere Substanzbereiche übertragen
werden, können die Grundzüge der Argumentation am Alkoholbereich
verdeutlicht werden: Mitglieder der Anonymen Alkoholiker haben bereits in den
30er Jahren des letzten Jahrhunderts aus ihren eigenen Erfahrungen gefolgert,
dass bei einem „richtigen Alkoholiker” nicht nur ein
grundlegender, sondern auch irreversibler
Zusammenbruch seiner Selbstkontrollfähigkeit
vorliege: „Einmal süchtig, immer süchtig”. Aus diesem
charakteristischen Merkmal Alkoholabhängiger werden die Unmöglichkeit
eines kontrollierten Alkoholkonsums und die Forderung nach völliger und
lebenslanger Abstinenz abgeleitet. Die vermutete Ursache dieser
Steuerungsunfähigkeit im Umgang mit Alkohol (allen Suchtmitteln?) wird
vielfach - bis heute spekulativ - in einer unveränderlichen
biologischen Aberration gesehen, die zuweilen metaphorische Umschreibungen mit
Pseudoerklärungswert („Die Zelle vergisst nichts” etc.)
erfährt. Diese Gedankengänge werden nicht nur von den anderen
Abstinenzverbänden geteilt, sondern bestimmen auch das Denken vieler Teile
der professionellen Suchthilfe.
Eine historische Analyse der Irreversibilitäts- und
Kontrollverlustannahmen macht jedoch deutlich, dass diese keine „logical
consequence of scholarly work and scientific discoveries”
[2] sind, sondern zurückgehen auf eine
„unique concatenation of moral, political, societal, and economic forces
in American society that borrows from the 19th-century concept of
dipsomania” [3, p. 135]. Eine genauere Betrachtung des
Konstruktes „Kontrollverlust” lässt mindestens zwei, auch
bei Jellinek [4]
[5]
vorfindbare Begriffsverwendungen erkennen. Die weithin verbreitete
„mechanistische” Form der Kontrollverlusthypothese besagt, dass
ein „Alkoholiker” nach einem ersten Alkoholquantum dem
Weitertrinken keinen Einhalt gebieten kann („one drink, one
drunk”) und nur durch die Unmöglichkeit der weiteren Alkoholzufuhr
(etwa durch motorische Einschränkungen, Geldmangel oder äußere
Zwänge wie Verwahrung) am Weitertrinken gehindert werden kann. Diese, vor
allem bei so genannten „Gamma-Alkoholkern” vorgebrachte
„Kettenreaktions-Sichtweise” von Kontrollverlust kann durch
zahlreiche Laborexperimente (z. B. von Mendelson), die zeigen, dass das
Trinkverhalten nicht unerheblich durch soziale und situative Bedingungen
gesteuert wird, als widerlegt gelten. Wird zum Beispiel für aufgebrachte
Trinkkontrolle eine attraktive Belohnung in Aussicht gestellt, wird von
Alkoholabhängigen selbst nach einem beachtlichen Einstiegsquantum der
Alkoholkonsum nicht fortgesetzt [6]. Resümee:
„Naive disease conceptions of alcoholism made the mistake of
dichotomizing drinking behaviour into that of alcoholics which was completely
or periodically constrained by loss of control and that of nonalcoholics which
was entirely voluntary” [6, p. 125].
Nach einer zweiten, probabilistischen Kontrollverlusthypothese muss
nicht notwendigerweise jedes erste Alkoholquantum in Trunkenheit enden. Die
alkoholabhängige Person kann allerdings zu keinem Zeitpunkt sicher sein,
die Alkoholmenge nach einer ersten Trinkmenge in Grenzen halten zu können.
Nach diesem Modell ist die Kontrolle nicht gänzlich verloren, sondern
zeitweise eingeschränkt („impaired control”; Edwards und
Gross). Kritisch ist zu dieser revidierten Form der Kontrollverlusthypothese zu
vermerken, dass sie bislang noch nicht in eine wissenschaftlich
überprüfbare Form überführt worden ist, so dass
vorhersagbar wäre, bei welchen Personen unter welchen Bedingungen welches
Ausmaß an Kontrolleinschränkung eintreten wird. Im Sinne einer
Weiterentwicklung des bisherigen Alkoholismusverständnisses eröffnet
sie aber die Möglichkeit, Alkoholkonsumenten nach dem Ausmaß ihrer situativen Kontrolleinschränkung
auf einem Kontinuum anzusiedeln - statt sie in
die Gruppen der „Alkoholiker” und
„Nichtalkoholiker” zu dichotomisieren. Mit Storm und Cutler (zit.
n. [6, p. 125]) wäre dann Kontrollverlust viel sparsamer zu
definieren als „drinking more, and becoming more intoxicated, than one
had intended” - was auch bei „Nichtalkoholikern” ab
und zu beobachtet werden kann.
Wenn man nach dem zuvor Erörterten die Prämisse verwirft,
es gebe „den” Kontrollverlust und dieser sei ein irreversibles
Merkmal Alkoholabhängiger, dann muss Abstinenz - bereits theoretisch
betrachtet - keineswegs das alleine mögliche Therapieziel
darstellen. Jellinek [5] hat dies in seinem
abschließenden Werk von 1960 auch nicht ausgeschlossen, was vielfach
verkannt wird. Auch empirisch gesehen haben sich in den letzten Jahrzehnten
vielfältige Evidenzen dafür ergeben, dass es die Möglichkeit des
kontrollierten Konsums psychotroper Substanzen gibt - als Folge gezielter
therapeutischer Maßnahmen oder durch „self-change” ohne
professionelle Anleitung [7].
Die Beiträge dieses Schwerpunktheftes der Suchttherapie nehmen die zuvor formulierten
Überlegungen zur Möglichkeit des kontrollierten Substanzkonsums auf
und laden zur Reflexion des gängigen Suchtverständnisses ein.
Drei Reviews fassen den aktuellen Forschungsstand zum kontrollierten
Konsum illegaler Drogen (Schippers und Cramer), kontrollierten Rauchen
(Drinkmann) und kontrollierten Alkoholkonsum (Körkel) zusammen. Alle drei
Übersichtsbeiträge kommen zu dem Ergebnis, dass der kontrollierte
Konsum der jeweiligen Substanzen selbst einem Teil der Drogen-, Nikotin- und
Alkoholabhängigen unter bestimmten Bedingungen
möglich ist und durch therapeutische Maßnahmen gefördert werden
kann. Vor allem angesichts der Erfordernis, mehr Menschen mit Suchtproblemen
als bisher zu erreichen und ihnen bedarfsgerechte Hilfeangebote zu
unterbreiten, wird für eine Erweiterung des Angebotsspektrums der
Suchthilfe um kontrollorientierte Angebote sowie die Begünstigung
eigenständiger Reduktionsbemühungen (z. B. auf Basis von
Selbstkontrollbroschüren) plädiert.
Mehrere Beiträge berichten über Behandlungssettings und
Behandlungsprogramme, in denen in mehr oder weniger formalisierter Form ein
reduzierter/kontrollierter Alkoholkonsum ermöglicht oder explizit
vermittelt wird. Im Beitrag über das „Psychoedukative
Gruppenprogramm bei problematischem Alkoholkonsum (PEGPAK)” schildern
Wessel und Westermann ein neun ambulante Gruppentreffen umfassendes
Schulungsprogramm, in dem Selbstmanagementstrategien zur Erreichung der
selbstgewählten Ziele „Abstinenz” oder
„gesundheitsverträglicher, risikoarmer Konsum” vermittelt
werden. Körkel, Schellberg, Haberacker, Langguth und Neu geben einen
Überblick über das zehn Sitzungen umfassende „Ambulante
Gruppenprogramm zum kontrollierten Trinken (AkT)”, das gezielt
Kompetenzen zur Selbstkontrolle des Trinkverhaltens vermittelt und eine
verhaltenstherapeutische Grundstruktur, lösungsorientierte Interventionen
sowie didaktische Elemente aus dem Bereich moderner Erwachsenenbildung in sich
vereinigt. Sowohl für das PEGPAK als auch das AkT werden empirische
Befunde zu deren Wirksamkeit vorgelegt. Zwei Fallvignetten (Körkel,
Langguth, Schellberg und Neu) veranschaulichen, wie sich individuelle
Veränderungsverläufe von AkT-Teilnehmern gestalten und in anhaltendes
kontrolliertes Trinken oder Abstinenz übergehen können.
Was sollte getan werden, wenn einer Person (gegenwärtig) ein
selbstkontrollierter Alkoholkonsum nicht möglich
ist, sie den Genuss alkoholischer Getränke aber als Bestandteil ihrer
Lebensqualität betrachtet und deshalb wünscht? Vor dem Hintergrund
ethischer Erwägungen kann in solchen Fällen fremdkontrolliertes
Trinken in Betracht gezogen werden. In diesem Sinne berichten Böhlke und
Schäfer über ein Pflegeheim, in dem alkoholabhängigen Bewohnern
zur Förderung ihrer Lebensqualität Alkoholkonsum ermöglicht wird
- unter vorgegebenen Rahmenbedingungen (z. B. tägliche
Konsumhöchstgrenze) und fremdkontrolliert durch die Mitarbeiterinnen des
Heims.
Es bleibt zu wünschen, dass die vorgestellten Arbeiten zu
Theorie, Empirie und Praxis des kontrollierten Konsums psychotroper Substanzen
die wissenschaftliche Diskussion über Grundfragen des
Abhängigkeitsverständnisses stimulieren und in der Suchthilfe
Erweiterungen der Angebotspalette um Interventionen zum kontrollierten Konsum
anregen können.