Suchttherapie 2002; 3(2): 69-70
DOI: 10.1055/s-2002-28497
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Editorial

EditorialJoachim Körkel
  • 1Evangelische Fachhochschule Nürnberg, Fachbereich Sozialwesen
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Publication Date:
15 May 2002 (online)

Menschen haben offenbar ein elementares Bedürfnis, sich, das eigene Leben und zuweilen auch das anderer unter Kontrolle zu erleben und Empfindungen von Hilflosigkeit zu vermeiden. „Kontrolle zu haben heißt, Ziele erreichen zu können, seine Lebensbedingungen im Griff zu haben, Freiheit oder doch Freiheitsgrade zu besitzen, funktionstüchtig und glücklich zu sein, gelegentlich auch, Macht zu haben und sich überlegen zu fühlen.” [1, S. 7]. Oft ist es gar nicht die tatsächliche, sondern die wahrgenommene Kontrolle, die mit persönlichem Wohlbefinden, Stresstoleranz, besserer Genesung von Krankheiten und positivem Selbstbild einhergeht - mehr oder weniger unabhängig davon, ob diese Kontrollmeinung gerechtfertigt oder illusionär ist [1]. Umgekehrt kann die Überzeugung der Nicht-Kontrolle dazu führen, dass tatsächliche Kontrollspielräume nicht wahrgenommen werden und negative psychische Folgen, etwa ein depressiver Affekt, eintreten. Das Vorgenannte schließt im Übrigen nicht aus, Inseln der Nicht-Kontrolle (z. B. im Rausch) als lustvoll empfinden zu können.

Wie weit ist nun aber die Kontrollfähigkeit bei Menschen mit einem hohen Konsum psychotroper Substanzen wie Alkohol, Tabak oder illegalen Drogen eingeschränkt oder ganz abhanden gekommen? Nach allgemeinem Verständnis geht insbesondere die Abhängigkeit von Suchtmitteln mit einem Zwang, die Substanzen zu konsumieren, und einer daran gekoppelten Einschränkung der willentlichen Steuerungsfähigkeit einher. Doch erneut die Frage: Wie viel der Steuerungsfähigkeit bleibt dabei auf der Strecke? Und: Kann die verminderte Kontrollfähigkeit zurückgewonnen werden? Die Antworten auf diese Fragen entstammen zumeist dem Bereich des „Alkoholismus”. Da die bevorzugten Antworten oftmals auch auf andere Substanzbereiche übertragen werden, können die Grundzüge der Argumentation am Alkoholbereich verdeutlicht werden: Mitglieder der Anonymen Alkoholiker haben bereits in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts aus ihren eigenen Erfahrungen gefolgert, dass bei einem „richtigen Alkoholiker” nicht nur ein grundlegender, sondern auch irreversibler Zusammenbruch seiner Selbstkontrollfähigkeit vorliege: „Einmal süchtig, immer süchtig”. Aus diesem charakteristischen Merkmal Alkoholabhängiger werden die Unmöglichkeit eines kontrollierten Alkoholkonsums und die Forderung nach völliger und lebenslanger Abstinenz abgeleitet. Die vermutete Ursache dieser Steuerungsunfähigkeit im Umgang mit Alkohol (allen Suchtmitteln?) wird vielfach - bis heute spekulativ - in einer unveränderlichen biologischen Aberration gesehen, die zuweilen metaphorische Umschreibungen mit Pseudoerklärungswert („Die Zelle vergisst nichts” etc.) erfährt. Diese Gedankengänge werden nicht nur von den anderen Abstinenzverbänden geteilt, sondern bestimmen auch das Denken vieler Teile der professionellen Suchthilfe.

Eine historische Analyse der Irreversibilitäts- und Kontrollverlustannahmen macht jedoch deutlich, dass diese keine „logical consequence of scholarly work and scientific discoveries” [2] sind, sondern zurückgehen auf eine „unique concatenation of moral, political, societal, and economic forces in American society that borrows from the 19th-century concept of dipsomania” [3, p. 135]. Eine genauere Betrachtung des Konstruktes „Kontrollverlust” lässt mindestens zwei, auch bei Jellinek [4] [5] vorfindbare Begriffsverwendungen erkennen. Die weithin verbreitete „mechanistische” Form der Kontrollverlusthypothese besagt, dass ein „Alkoholiker” nach einem ersten Alkoholquantum dem Weitertrinken keinen Einhalt gebieten kann („one drink, one drunk”) und nur durch die Unmöglichkeit der weiteren Alkoholzufuhr (etwa durch motorische Einschränkungen, Geldmangel oder äußere Zwänge wie Verwahrung) am Weitertrinken gehindert werden kann. Diese, vor allem bei so genannten „Gamma-Alkoholkern” vorgebrachte „Kettenreaktions-Sichtweise” von Kontrollverlust kann durch zahlreiche Laborexperimente (z. B. von Mendelson), die zeigen, dass das Trinkverhalten nicht unerheblich durch soziale und situative Bedingungen gesteuert wird, als widerlegt gelten. Wird zum Beispiel für aufgebrachte Trinkkontrolle eine attraktive Belohnung in Aussicht gestellt, wird von Alkoholabhängigen selbst nach einem beachtlichen Einstiegsquantum der Alkoholkonsum nicht fortgesetzt [6]. Resümee: „Naive disease conceptions of alcoholism made the mistake of dichotomizing drinking behaviour into that of alcoholics which was completely or periodically constrained by loss of control and that of nonalcoholics which was entirely voluntary” [6, p. 125].

Nach einer zweiten, probabilistischen Kontrollverlusthypothese muss nicht notwendigerweise jedes erste Alkoholquantum in Trunkenheit enden. Die alkoholabhängige Person kann allerdings zu keinem Zeitpunkt sicher sein, die Alkoholmenge nach einer ersten Trinkmenge in Grenzen halten zu können. Nach diesem Modell ist die Kontrolle nicht gänzlich verloren, sondern zeitweise eingeschränkt („impaired control”; Edwards und Gross). Kritisch ist zu dieser revidierten Form der Kontrollverlusthypothese zu vermerken, dass sie bislang noch nicht in eine wissenschaftlich überprüfbare Form überführt worden ist, so dass vorhersagbar wäre, bei welchen Personen unter welchen Bedingungen welches Ausmaß an Kontrolleinschränkung eintreten wird. Im Sinne einer Weiterentwicklung des bisherigen Alkoholismusverständnisses eröffnet sie aber die Möglichkeit, Alkoholkonsumenten nach dem Ausmaß ihrer situativen Kontrolleinschränkung auf einem Kontinuum anzusiedeln - statt sie in die Gruppen der „Alkoholiker” und „Nichtalkoholiker” zu dichotomisieren. Mit Storm und Cutler (zit. n. [6, p. 125]) wäre dann Kontrollverlust viel sparsamer zu definieren als „drinking more, and becoming more intoxicated, than one had intended” - was auch bei „Nichtalkoholikern” ab und zu beobachtet werden kann.

Wenn man nach dem zuvor Erörterten die Prämisse verwirft, es gebe „den” Kontrollverlust und dieser sei ein irreversibles Merkmal Alkoholabhängiger, dann muss Abstinenz - bereits theoretisch betrachtet - keineswegs das alleine mögliche Therapieziel darstellen. Jellinek [5] hat dies in seinem abschließenden Werk von 1960 auch nicht ausgeschlossen, was vielfach verkannt wird. Auch empirisch gesehen haben sich in den letzten Jahrzehnten vielfältige Evidenzen dafür ergeben, dass es die Möglichkeit des kontrollierten Konsums psychotroper Substanzen gibt - als Folge gezielter therapeutischer Maßnahmen oder durch „self-change” ohne professionelle Anleitung [7].

Die Beiträge dieses Schwerpunktheftes der Suchttherapie nehmen die zuvor formulierten Überlegungen zur Möglichkeit des kontrollierten Substanzkonsums auf und laden zur Reflexion des gängigen Suchtverständnisses ein.

Drei Reviews fassen den aktuellen Forschungsstand zum kontrollierten Konsum illegaler Drogen (Schippers und Cramer), kontrollierten Rauchen (Drinkmann) und kontrollierten Alkoholkonsum (Körkel) zusammen. Alle drei Übersichtsbeiträge kommen zu dem Ergebnis, dass der kontrollierte Konsum der jeweiligen Substanzen selbst einem Teil der Drogen-, Nikotin- und Alkoholabhängigen unter bestimmten Bedingungen möglich ist und durch therapeutische Maßnahmen gefördert werden kann. Vor allem angesichts der Erfordernis, mehr Menschen mit Suchtproblemen als bisher zu erreichen und ihnen bedarfsgerechte Hilfeangebote zu unterbreiten, wird für eine Erweiterung des Angebotsspektrums der Suchthilfe um kontrollorientierte Angebote sowie die Begünstigung eigenständiger Reduktionsbemühungen (z. B. auf Basis von Selbstkontrollbroschüren) plädiert.

Mehrere Beiträge berichten über Behandlungssettings und Behandlungsprogramme, in denen in mehr oder weniger formalisierter Form ein reduzierter/kontrollierter Alkoholkonsum ermöglicht oder explizit vermittelt wird. Im Beitrag über das „Psychoedukative Gruppenprogramm bei problematischem Alkoholkonsum (PEGPAK)” schildern Wessel und Westermann ein neun ambulante Gruppentreffen umfassendes Schulungsprogramm, in dem Selbstmanagementstrategien zur Erreichung der selbstgewählten Ziele „Abstinenz” oder „gesundheitsverträglicher, risikoarmer Konsum” vermittelt werden. Körkel, Schellberg, Haberacker, Langguth und Neu geben einen Überblick über das zehn Sitzungen umfassende „Ambulante Gruppenprogramm zum kontrollierten Trinken (AkT)”, das gezielt Kompetenzen zur Selbstkontrolle des Trinkverhaltens vermittelt und eine verhaltenstherapeutische Grundstruktur, lösungsorientierte Interventionen sowie didaktische Elemente aus dem Bereich moderner Erwachsenenbildung in sich vereinigt. Sowohl für das PEGPAK als auch das AkT werden empirische Befunde zu deren Wirksamkeit vorgelegt. Zwei Fallvignetten (Körkel, Langguth, Schellberg und Neu) veranschaulichen, wie sich individuelle Veränderungsverläufe von AkT-Teilnehmern gestalten und in anhaltendes kontrolliertes Trinken oder Abstinenz übergehen können.

Was sollte getan werden, wenn einer Person (gegenwärtig) ein selbstkontrollierter Alkoholkonsum nicht möglich ist, sie den Genuss alkoholischer Getränke aber als Bestandteil ihrer Lebensqualität betrachtet und deshalb wünscht? Vor dem Hintergrund ethischer Erwägungen kann in solchen Fällen fremdkontrolliertes Trinken in Betracht gezogen werden. In diesem Sinne berichten Böhlke und Schäfer über ein Pflegeheim, in dem alkoholabhängigen Bewohnern zur Förderung ihrer Lebensqualität Alkoholkonsum ermöglicht wird - unter vorgegebenen Rahmenbedingungen (z. B. tägliche Konsumhöchstgrenze) und fremdkontrolliert durch die Mitarbeiterinnen des Heims.

Es bleibt zu wünschen, dass die vorgestellten Arbeiten zu Theorie, Empirie und Praxis des kontrollierten Konsums psychotroper Substanzen die wissenschaftliche Diskussion über Grundfragen des Abhängigkeitsverständnisses stimulieren und in der Suchthilfe Erweiterungen der Angebotspalette um Interventionen zum kontrollierten Konsum anregen können.

Literatur

  • 1 Flammer A. Erfahrung der eigenen Wirksamkeit. Einführung in die Psychologie der Kontrollmeinung Bern; Huber 1990
  • 2 Room R. Comments on Robinson, D. „The alcohologist’s addiction”.  Quartely Journal of Studies on Alcohol. 1972;  33 1049-1059
  • 3 Miller W R. Alcoholism: Toward a better disease model.  Psychology of Addictive Behaviors. 1993;  7 129-136
  • 4 Jellinek E M. Phases of alcohol addiction.  Quartely Journal of Studies on Alcohol. 1952;  13 673-684
  • 5 Jellinek E M. The disease concept of alcoholism. New Haven; Connecticut 1960
  • 6 Heather N, Robertson I. Controlled drinking (revised edition). London; Methuen 1983
  • 7 Klingemann H, Sobell L, Barker J, Blomqvist J, Cloud W, Ellinstad T, Finfgeld D, Granfield R, Hodgings D, Hunt G, Junker C, Moggi F, Peele S, Smart S, Sobell M, Tucker J. Promoting self-change from problem substance use. Dordrecht; Kluwer Academic Publishers 2001

Prof. Dr. Joachim Körkel

Evangelische Fachhochschule Nürnberg, Fachbereich Sozialwesen, Bärenschanzstr. 4, 90429 Nürnberg

Email: joachim.koerkel@evfh-nuernberg.de

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