Kontrolliertes Trinken (kT) war und ist ein streitbares Thema, da es
Grundpfeiler des gängigen, in den Abstinenzverbänden und im
professionellen Behandlungssystem offenbar sakrosankten
Alkoholismusverständnisses hinterfragt. Dispute in Fachzeitschriften
(z. B. Addiction 1995; 90, British Journal of Addiction 1987; 82, Sucht
2001; 47), im Internet (www.kontrolliertes-trinken.de) und auf Fachtagungen
(z. B. der Deutschen Gesellschaft für Suchtpsychologie
[2001] oder auf den Suchttherapietagen Hamburg [2002])
sowie neuerdings Fortbildungen zum kT in Deutschland und der Schweiz
[1] zeugen vom Interesse, auf das diese Thematik
stößt. Im Folgenden sollen Grundzüge des derzeitigen
Forschungsstandes und ausgewählte Praxisansätze zusammenfassend
dargestellt werden.
Definition
Definition
In Anlehnung an die „Begriffserfinder” Reinert und
Bowen [2] wird in der Literatur von
„selbstkontrolliertem Trinken” oder kurz „kontrolliertem
Trinken” (kT) bevorzugt dann gesprochen, wenn jemand sein Trinkverhalten
eigenständig an einem zuvor festgelegten
Trinkplan bzw. Trinkregeln ausrichtet [3]
[4]. Punktabstinenz ist eine
Variante von KT. Der bereits definitorisch geforderte Disziplincharakter des
Trinkens unterscheidet das kT von „moderatem”,
„normalem” und „sozialem” Trinken
[4]. Beim fremdkontrollierten Trinken werden die
Konsummenge und -bedingungen (z. B. Uhrzeit des Konsumbeginns) durch
andere Personen festgelegt [5]
[6].
Begründungszusammenhang
Begründungszusammenhang
Warum sollte man in Ergänzung zu abstinenzorientierten
Hilfeangeboten auch solche zum kT vorhalten? Drei Gründe werden im
Allgemeinen vorgebracht (z. B. [7]):
-
Autonomiewahrung des Konsumenten (ethisches
Argument)
Nach einem ersten Argument erfordert es das Recht auf Autonomie
des Menschen (bzw. freie Entfaltung oder Unverfügbarkeit der Person),
Therapieziele nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Klienten zu verfolgen
[8 10]. Daraus ergibt sich als ethische
Notwendigkeit, die Behandlungszielfrage (Abstinenz oder kontrolliertes
Trinken?) explizit und sanktionsfrei ins Gespräch zu bringen, das Für
und Wider dieser Ziele zu erörtern und letztlich das Ziel aufzugreifen,
das der Klient für sich anstreben möchte. 63 % der
australischen Einrichtungen, die Hilfen zum kT anbieten, arbeiten nach diesem
Prinzip [11].
-
Verbesserung der Erreichbarkeit der Zielgruppe
(gesundheits-/versorgungspolitisches Argument)
Die deutsche Suchthilfe erreicht mit ihren Angeboten nur einen
Bruchteil der Menschen, die Unterstützung wegen eingetretener oder
drohender Alkoholprobleme bedürfen [12]: von den
Alkoholabhängigen zwischen 1,7 %
(durch Fachkliniken) und 7 % (durch Fachberatungsstellen), von
den Personen im Vorfeld (riskanter Konsum, Missbrauch) oder im Frühstadium
einer Abhängigkeit so gut wie niemanden [13]
[14]. Dies dürfte nicht zuletzt am Zielmonopolismus
der Angebote liegen, wie schon vor 20 Jahren festzustellen war: Viele der im
kT-Programm von Vollmer et al. [15]
[16] behandelten 19- bis 30-jährigen
Alkoholabhängigen hatten die Therapie nur unter der Voraussetzung
begonnen, dass kT ein legitimes Ziel darstellte. Das Institute of Medicine
[17] hat vor über 10 Jahren in diesem
Zusammenhang festgestellt: „Uniform goals for all individuals may be a
simpler approach, but the notion of different goals for different individuals
seems more consistent with the heterogeneity of alcohol problems and the
individuals who manifest them.” Die Erreichbarkeit der Zielgruppe
könnte verbessert werden durch: Verzicht auf eine
A-priori-Abstinenzforderung und diagnostische Etikettierungen
(„Alkoholiker”); zeitlich kurze und auf diese Weise attraktive
Programmangebote zum kT; einen leichten Zugang zu Selbsthilfematerialien zum
reduzierten Alkoholkonsum; die Thematisierung problematischen Alkoholkonsums
im
gesamten (nicht zuletzt medizinischen) Hilfesystem.
Im Übrigen kann eine höhere Nachfrage nach Behandlung
durch bisher nicht erreichte Zielgruppen auch Grundlage neuer
Finanzierungsquellen für die Einrichtungen sein [7].
-
Förderung des therapeutischen Prozesses
und Erfolges (therapeutisches Argument)
Gemäß einem dritten Argument ist (auch) von
Suchtbehandlung zu fordern, dass sie ehrliche Zielaussagen der Klienten und
ihre innere Bindung an ein Ziel („commitment”) fördert und
die Therapie mit expliziten, klaren Zielabsprachen beginnt [8]. Zieloffenheit ist eine Vorbedingung dafür,
Patienten in ihrer Zielambivalenz zu erreichen und den Zielentscheidungsprozess
„in der Therapie und nicht gegen sie zu absolvieren”
[18] und sich als Therapeut weniger in
Kontrollkämpfe („Sind Sie nun für oder gegen
Abstinenz?”) und „Koabhängigkeit” (sich gut
fühlen bei „Trockenheit” der Klienten und sich schlecht
fühlen bei erneutem Alkoholkonsum) zu verwickeln [18]. Zudem: Letztlich weist diejenige Therapie das beste
Behandlungsergebnis auf, bei der das offizielle Behandlungsziel mit dem vom
Patienten bevorzugten Ziel in Übereinstimmung steht [19 21].
Zusammengefasst ist eine zieloffene Herangehensweise an
Alkoholprobleme ethisch geboten, dem Erreichen bislang unerreichter Adressaten
dienlich und hilfreiche oder gar notwendige Bedingung zum Herstellen eines
psychotherapeutischen Arbeitsbündnisses.
Historische Bezüge
Historische Bezüge
Ausgelöst wurde die Kontroverse um das kT durch ein
Forschungsergebnis von Davies [22]. Er stellte
7-11 Jahre nach einer Abstinenztherapie bei 7 der 93 behandelten
Alkoholabhängigen einen Alkoholkonsum innerhalb der kulturell vorgegebenen
Normen fest. In der Folge wurden von den australischen Psychologen Lovibond und
Caddy [23]
[24] erste
erfolgreiche kontrollierte Studien mit dem expliziten Ziel
des kT durchgeführt. Die Debatte um das kT entflammte aber erst so
richtig in den 70er Jahren in den USA, wo das Ehepaar Sobell
[25] bei körperlich abhängigen Konsumenten
mit Kontrollverlusterscheinungen („Gamma-Alkoholikern” sensu
Jellinek [26]) die Effekte von jeweils 17 Sitzungen
Abstinenzprogramm versus kT-Programm verglich („IBT-Studie”).
Neben diversen anderen therapeutischen Programmbestandteilen unterzogen sich
die Teilnehmer beider Gruppen einer „aversiven Konditionierung”:
Die Teilnehmer mit Abstinenzziel erhielten einen elektrischen Schlag von einer
Sekunde Dauer beim Bestellen eines alkoholischen Getränks und einen
kontinuierlichen elektrischen Schlag beim Berühren des Glases. Die
kontrollierten Trinker bekamen einen Einsekunden-Elektroschlag, wenn sie
Spirituosen bestellten, zu rasch tranken (z. B. mehr als ein
Zwölftel des Bierglases) oder zu schnell (innerhalb von 20 Minuten) bzw.
zu oft (mehr als dreimal) nachbestellten. Zwei Jahre nach Therapieende standen
bei der Gruppe mit dem Ziel des kT mehr abstinent oder kontrolliert trinkend
verbrachte Tage, weniger Tage mit Trunkenheit, weniger Krankenhaus- und
Gefängnisaufenthalte und eine bessere soziale Anpassung als bei der
Abstinenzgruppe zu Buche [27]
[28]. Nach zehn Jahren war die Lage der ursprünglich
kontrolliert Trinkenden nicht mehr so rosig: So gut wie keiner der Behandelten
trank nunmehr kontrolliert, die Mehrzahl lebte stattdessen abstinent, war
schwer rückfällig geworden oder an Alkoholfolgeschäden
verstorben [29]. Allerdings sah die Lage der Gruppe
mit Abstinenzziel noch schlechter aus [30], woraus man
schließen kann, dass Abstinenz keineswegs das humanere oder
realistischere Ziel war [31].
Außerhalb dieser „Meilensteinstudien” wurden
vielfältige weitere wichtige Untersuchungen zum kT durchgeführt
(exzellent zusammengefasst von Heather und Robertson [32]) und im englischsprachigen Raum ausführlich
diskutiert (s. u.).
Interventionsmethoden
Interventionsmethoden
Die Frage, durch welche Interventionen das Ziel des kT am besten zu
erreichen ist, wurde im Laufe der letzten drei Jahrzehnte je nach
vorherrschendem Trend innerhalb der Verhaltenstherapie - die sich am
intensivsten mit kT beschäftigt hat - unterschiedlich beantwortet.
So hat man übermäßiges Trinken durch das Verabreichen leichter
Stromstöße oder unangenehmer Geräusche
„wegkonditioniert” („aversive Konditionierung”,
s. o.; z. B. [23 25]
[83]), kT durch extern gesteuerte Konsequenzen aufgebaut
(„Kontingenzmanagement”, z. B. Privileg einer besonders
schönen Wohnumgebung bei Unterschreiten einer bestimmten Trinkmenge
[33]), Disulfiram verabreicht [34], Kompetenzen zur selbstständigen Regulation des
Alkoholkonsums vermittelt („Behavioral Self-Control-Training”,
z. B. [35]) und Klienten instruiert, nach einer
ersten Alkoholdosis dem weiteren Alkoholkonsum zu widerstehen („cue
exposure and response prevention” [36]).
Seit vielen Jahren hat sich das „Behavioral
Self-Control-Training” (BSCT) durchgesetzt. Es bildet heutzutage das
„standard moderation-oriented treatment” [36], zu dem mehr kontrollierte klinische Studien
(über 30) als zu jedem anderen Behandlungsverfahren bei Alkoholproblemen
durchgeführt worden sind [37]. Auch hierbei
lässt sich ein Wandel verfolgen. Während beispielsweise das Training
einer korrekten Selbsteinschätzung des Blutalkoholspiegels („BAC
discrimination training”) früher prominent war (z. B.
[24]
[38]), hat es -
nicht zuletzt wegen unzureichender Selbsteinschätzungsergebnisse -
stark an Bedeutung eingebüßt. Heutige Selbstkontrollprogramme
beinhalten in der Regel die in Abb. [1]
dargestellten Programmkomponenten (Details in [3]
[4]
[39]). Verschiedene Studien
[37] belegen, dass das „Gesamtpaket”
dieser Komponenten wirksamer ist als der Einsatz nur einzelner seiner
Bestandteile (z. B. nur eines Trink-Tagebuchs).
Abb. 1 Komponenten
verhaltenstherapeutischer Selbstkontrolltrainings („Behavioral
Self-Control-Trainings”) zum kontrollierten Trinken.
Interventionswege
Interventionswege
Die im vorigen Abschnitt genannten Interventionsmethoden zum Aufbau
von kT werden auf vier Vermittlungswegen umgesetzt:
-
Autodidaktisch zu bearbeitende
Selbstkontrollmanuale („Bibliotherapie”) können anonym
in Anspruch genommen werden und sind in dieser Hinsicht niedrigschwelliger als
therapeutische Programme. Selbstkontrollmanuale liegen bereits seit 1976 aus
den USA [38] und inzwischen aus verschiedenen
Ländern vor (vgl. Tab. [1]). Das aktuellste
und umfassendste deutschsprachige Manual ist das „10-Schritte-Programm
zum selbstständigen Erlernen des kontrollierten Trinkens”
[39].
-
Therapeutisch begleitete Einzel- oder
Gruppenprogramme, wie zum Beispiel das „Ambulante Gruppenprogramm zum kontrollierten Trinken”
(AkT) [40 42], umfassen in der Regel 6-12
strukturierte Sitzungen, die von 1-2 Therapeuten durchgeführt und
manchmal [19] durch eine Auffrischsitzung ergänzt
werden. Die Stärke dieses Zugangs zum kT liegt in der sukzessiven
Anleitung zum und Unterstützung beim kT sowie in der Möglichkeit zur
ergänzenden Behandlung weiterer Problembereiche (z. B. psychischer
Beeinträchtigungen). Therapeutenmanuale [43 45] erleichtern die strukturierte
Durchführung der Sitzungen.
-
Selbsthilfegruppen mit dem Ziel des
kontrollierten/moderaten Trinkens sind in den USA durch den Ansatz des
„Moderation Management” (MM) von Audrey Kishline
[46] prominent geworden (vgl. www.moderation.org).
Reduktionswilligen Alkoholkonsumenten werden eine wöchentliche, 3-12
Monate andauernde Teilnahme an einer MM-Gruppe und ein Vorgehen nach dem
„9-Schritte-Programm für mäßiges Trinken und positive
Veränderungen im Lebensstil” empfohlen. Durch eine zu
Programmbeginn geforderte 30-Tage-Einstiegsabstinenz verliert das Programm
allerdings an Niedrigschwelligkeit.
In Deutschland existieren Selbsthilfegruppen zum kT bislang
u. a. in Nürnberg und Bielefeld. Sie folgen dem AkT- bzw.
PEGPAK-Ansatz (siehe unten) und nicht dem des MM.
-
Schließlich sehen ärztliche
Kurzinterventionen - zumindest in den großen US-amerikanischen
Modellprogrammen TrEAT [47] und Health
[48] sowie dem britischen DRAMS-Programm
[49] - den Einsatz ausgewählter kT-Elemente
vor, wie z. B. die Ausgabe eines Trink-Tagebuchs und die
Sensibilisierung für Risikosituationen des Zu-viel-Trinkens
(zusammenfassend [50]).
Tab. 1 Selbstkontrollbroschüren/-manuale zum
kontrollierten/ moderaten Trinken
(Auswahl)
Name (Land) |
Autoren (1. Auflage/aktuelle Auflage) |
Umfang |
„How to control your drinking. A practical
guide to responsible drinking” (USA) |
Miller & Munoz (1976/1990) [38]
|
159
Seiten + 6 Seiten Anhang |
„Drink wise. How to quit drinking or cut down.
A self-help book” (Kanada) |
Sanchez-Craig (1993/1994) [113]
|
79
Seiten + 14 Seiten Anhang |
„So you want to cut down your drinking? A
self-help guide to sensible drinking”
(Großbritannien) |
Robertson
& Heather (1991) [114]
|
78
Seiten + 21 Seiten Anhang + 1
Flyer |
„Let’s drink to your health. A self-help guide to
sensible drinking” (Großbritannien) |
Heather & Robertson (1986/1996) [115]
|
127
Seiten + 24 Seiten Anhang |
„Weniger Alkohol. Ein Programm zur
Selbstkontrolle” (Deutschland) |
Heil & Jaensch (1978) [105]
|
65
Seiten
|
„Alles klar? Tipps und Informationen für den
verantwortungsvollen Umgang mit Alkohol” (Deutschland) |
Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung (2001) [92]
|
61 Seiten
+ 5 Seiten Anhang + 1
Flyer |
„Das
10-Schritte-Programm zum selbstständigen Erlernen des kontrollierten
Trinkens” (Deutschland/ Schweiz) |
Körkel (2001) [39]
|
105
Seiten + 47 Seiten
Anhang |
Wirksamkeit und Wirkkomponenten
Wirksamkeit und Wirkkomponenten
Inzwischen liegen vielfältige Befunde zur Prävalenz von kT
sowie zu (differenzieller) Wirksamkeit und Wirkkomponenten von
Behandlungsansätzen zum kT vor (Übersichten: [4]
[7]
[31]
[32]
[42]
[ 45]
[51]
[54 56]
[109]):
-
In nahezu jeder Katamnese, die das Trinkverhalten nach
abstinenzbezogener Behandlung überprüft,
sind Alkoholabhängige mit einem kontrollierten Trinkverhalten zu
identifizieren - obwohl zumindest in Deutschland in Abstinenztherapien
keine Hilfestellungen zum kT gegeben werden und davor in der Regel
ausdrücklich gewarnt wird („one drink one drunk”). Zwei
Ergebnisbeispiele: Sieber [52] stellte 12-50
Monate nach stationärer Entwöhnungsbehandlung in der Schweizer
Forel-Klinik zwischen 5,8 % (enge Operationalisierung von kT) und
27,2 % (weite Operationalisierung) kontrolliert Trinkende fest.
Selbst nach nur achttägiger stationärer Alkoholentgiftung (ohne
anschließende Behandlung) ermittelten Shaw und Kollegen
[53] bei einer Stichprobe schwer
alkoholabhängiger Londoner Patienten 6 Monate nach der Entlassung
4,7 % und weitere sechs Monate später 8,7 %
kontrolliert Trinkende. Die Gruppe der kontrolliert Trinkenden stand den
Abstinenten im Übrigen in nichts nach, was die Reduzierung ihrer Angst-
und Depressionssymptomatik sowie den Anstieg ihres Selbstwertgefühls und
die Zufriedenheit mit ihrer Lebenssituation anbelangte.
-
Nach verschiedenen narrativen [54]
[55] und statistischen Metaanalysen [56] sind Interventionen mit dem Ziel
des kT wirksam, und zwar was die Reduktion des Trinkverhaltens
als auch die Verminderung alkoholassoziierter Probleme
anbelangt. Genauer besehen sind Interventionen zum kT wirksamer als gar keine
Intervention (no treatment control) und andere, nicht auf Abstinenz abzielende
Interventionen (z. B. eine Alkohol-Informationsgruppe). Die kT-Studien,
auf denen diese Ergebnisse beruhen, beinhalten klinisch bedeutsame Behandlungen
im Sinne von Shadish et al. [57]: Sie wurden in einem
klinischen Behandlungssetting durchgeführt, benutzten die üblichen
Überweisungskanäle für Klienten und wurden von Therapeuten
durchgeführt, die auch sonst in der klinischen Versorgung tätig
sind.
-
Besonders aufschlussreich ist Walters’
[56] metaanalytischer Befund, dass kT-Programme
abstinenzbezogenen Programmen mindestens ebenbürtig, längerfristig
tendenziell sogar überlegen sind: „The results of this
meta-analysis denote that, at the very least
[Hervorhebung J.K.], behavioral self-control training is equivalent
to abstinence-oriented forms of intervention in terms of overall effectiveness,
stability of outcomes, and potential clientele.” Und: „Behavioral
self-control training met with greater success than abstinence-oriented
intervention at a level that bordered on statistical significance in follow-ups
lasting a year or longer.”
-
Differenziert man die Ergebnisse zum kT nach den oben
unterschiedenen vier Vermittlungswegen, so sind Selbstkontrollmanuale
(z. B. [58]) - auch bei computerisierter
Vorgabe [59] -, therapeutische
Einzel-/Gruppenprogramme (z. B. [35]
[60]) und ärztliche Kurzinterventionen (z. B.
[47]) zur nachhaltigen Trinkmengenreduktion oder
Förderung der Abstinenz nachweislich geeignet. Zwischen Einzelprogrammen,
Gruppenprogrammen und Bibliotherapie (mit minimaler therapeutischer Anleitung)
ergeben sich keine bedeutsamen Ergebnisunterschiede [61]. Für ärztliche Kurzinterventionen wurden
die dadurch bewirkten Kostenersparnisse für das Gesundheitswesen
geprüft und bestätigt [62]. Zur Wirksamkeit
kontrollfördernder Selbsthilfegruppen liegen bislang keine
aussagefähigen Studien vor.
-
Programme zum kT erzielen bei einer Katamnesezeit von mindestens
einem Jahr eine durchschnittliche Erfolgsquote von 65 %, wobei
als Erfolg sowohl ein reduzierter Alkoholkonsum (geringere Anzahl alkoholischer
Getränke an Trinktagen; geringerer Wochenkonsum; oftmals auch
Erhöhung der Anzahl abstinenter Tage) als auch dauerhafte Abstinenz
gewertet werden ([54]; vgl. zur Erfolgsbemessung
[63]). In diese Durchschnittsquote gehen Studien mit
unterschiedlichen Operationalisierungen des kT, Nacherhebungszeiträumen
und Stichproben ein, weshalb nicht verwundert, dass das Erfolgsspektrum
zwischen den Studien von 25 % bis 90 % reicht
[54]. Die Erfolgsraten fallen höher aus, wenn ein
kT-Programm von einer oder mehreren Auffrischsitzungen (booster sessions)
gefolgt wird [19].
-
Die Trinkmengenreduktion durch kT-Programme beträgt im
Mittel etwa 50 % (z. B. [41]
[58 60]).
-
Durch kT-Programme werden nicht nur Trinkmengenreduktionen,
sondern auch Abstinenzentscheidungen begünstigt: Bereits während der
Teilnahme an Programmen zum kT gelingt es einem Teil der Personen, die mit kT
nicht den gewünschten Erfolg erzielen, zur Abstinenz überzugehen
(z. B. [35]
[40]
[42]
[64]), andere Teilnehmer mit
mehr Unterstützungsbedarf können in weitergehende
abstinenzorientierte Angebote vermittelt werden (z. B.
[40 42]).
-
Langzeitstudien demonstrieren, dass systematisch erlerntes kT
über viele Jahre erfolgreich aufrechterhalten werden kann (z. B.
[32]
[35]) und das erste Jahr
erfolgreichen kontrollierten Trinkens eine gute Vorhersagemöglichkeit
für die Beibehaltung dieses Verhaltens über die folgenden acht Jahre
liefert [35]. Der Einwand, kT gelinge - falls
überhaupt - immer nur kurzfristig und werde von Rückfällen
in das alte Konsumverhalten abgelöst, ist empirisch nicht nur unbelegt,
sondern nach diversen Einzelstudien (z. B. [61]) und Walters’ [56]
statistischer Metaanalyse der Forschungsliteratur widerlegt: „There is
no evidence in the current meta-analysis to support the claim of opponents of
controlled drinking that the effects of behavioral self-control training are
temporary, transient, or unstable” [56].
-
Es ist kein Widerspruch zu dem zuvor aufgeführten Befund,
dass mit zunehmendem Abstand vom Behandlungsende die durch kT-Programme
erzielten Effekte zurückgehen [56] - gilt
dies doch in mindestens gleichem Ausmaß auch für
abstinenzorientierte Programme, wie Rosenberg [55] in
seiner Übersicht über die kT-Forschung feststellt: „Periods of
relapse are likely whether an alcoholic attempts CD or abstinence.”
Dabei bleibt sogar unberücksichtigt, dass die Erfolge von
Abstinenzbehandlungen durch daran anschließende
Selbsthilfegruppenteilnahme oder ambulante Beratung/Therapie begünstigt
werden [65]. Es liegt nahe, dass die Erfolge von
kT-Programmen auf diesen Wegen ebenfalls gesteigert werden könnten.
-
Nicht selten wird behauptet und durch nicht verallgemeinerbare
„klinische Eindrücke”, zuweilen auch durch nicht
randomisierte, unkontrollierte abstinenzorientierte
(!) Behandlungsstudien zu „belegen” versucht, Alkoholabhängigen sei nur Abstinenz, nicht aber kT
möglich. Eine andere Sprache sprechen verschiedene Studien mit gezielter
Vermittlung von Kompetenzen zum kT [20]
[35]
[36]
[66], vor allem aber Walters’ [56] statistische Metaanalyse aller randomisierten
kT-Studien mit Vergleichsgruppendesign: „The results of the current
meta-analysis suggest that alcohol-dependent subjects are just as likely to
benefit from behavioral self-control training as persons classified as problem
drinkers ... The extent, severity, and chronicity of problem drinking
appears to have little bearing on who will and will not profit from enrollment
in a program of behavioral self-control training.” Die eingängige
Schlussfolgerung, bei Alkoholmissbrauchern sei kontrolliertes Trinken
möglich, bei Alkoholabhängigen dagegen kontraindiziert, ist folglich
fehlerhaft.
In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, dass die gerne
vorgebrachten „Killerargumente”, es handele sich in den
erwähnten Studien nicht um „wirkliche Alkoholiker” und die
Angaben zum Trinkverhalten seien beschönigt gewesen, schon vor
längerer Zeit entkräftet worden sind [32].
In diesem Kontext fällt ganz generell auf, in welcher Kritikastermanier
Studien zum kT behandelt werden und wie gleichzeitig die analoge
methodologische Messlatte bei Abstinenzstudien ausbleibt (etwa
[67]). So werden zum Beispiel ohne jeden methodischen
Skrupel die Erfolgsquoten deutscher 2- bis 6-monatiger stationärer
Alkoholentwöhnungsbehandlungen mit Abstinenzzielsetzung US-amerikanischen
kT-Ansätzen, die sich auf wenige ambulante Sitzungen oder die
Aushändigung eines Selbstkontrollmanuals beschränken,
gegenübergestellt und als Belege für die Überlegenheit von
Abstinenztherapien gewertet [68]. Derartige
Gepflogenheiten veranlassten Robertson [69] bereits
vor Jahren, von „Doppelbödigkeit” (double standards) in der
Diskussion um das kT zu sprechen.
-
Mit zunehmender Schwere der Alkoholabhängigkeit gelingt
dauerhaftes kT immer seltener („severity of dependence
hypothesis”; z. B. [35]
[61]
[70]). Bei diesem Befund ist
allerdings mehrerlei zu bedenken:
-
Der entscheidende Gradmesser für den Nutzen von
kT-Programmen bei schwer Alkoholabhängigen sollte nicht der optimale
Erfolg (dauerhaftes kT oder Abstinenz), sondern der relative sein, d. h. der Erfolg, der im Vergleich
zu gängigen Abstinenztherapien, anderen Maßnahmen oder der
Nichtinanspruchnahme einer Behandlung erreicht wird. Entscheidungstheoretisch
und ethisch begründet sollte also bei einem konkreten
Klienten diejenige Interventionsmaßnahme eingeschlagen werden, bei
der die Wahrscheinlichkeit günstiger Ergebnisse am höchsten ist
[112]. Und hier liegt die Krux der Argumentation:
Bislang gibt es keine aus randomisierten, kontrollierten Studien stammenden
Belege dafür, dass Abstinenztherapien - so sie denn überhaupt
angetreten werden - zum Beispiel bei schwer alkoholabhängigen
„Straßenalkoholikern” besser abschnitten als
kT-Interventionen. Die zuvor genannten Ergebnisse zum geringeren kT-Erfolg bei
schwer Abhängigen stammen nämlich in der Regel aus Post-hoc-Analysen
von kT-Programmen, denen keine Vergleichsgruppe mit
Abstinenzbehandlung gegenübergestellt ist (z. B.
[35]).
-
Nicht allen schwer Alkoholabhängen muss kT
gänzlich verbaut sein. Beispielsweise reduzierten in der schottischen
Studie von Heather et al. [36] schwer
Alkoholabhängige ihren Alkoholkonsum von Beginn eines
verhaltenstherapeutischen Programms bis zur sechsmonatigen Nacherhebung an
Trinktagen von 12,4 auf 4,2 Standardeinheiten (1
Standardeinheit = 1 Flasche Bier zu 0,5 Liter), nicht bzw.
leicht Abhängige von 6,8 auf 4,5 Standardeinheiten (Abb. [2]).
Heather et al. [36] folgern:
„On the basis of this finding, it would seem that, always assuming they
prefer a moderation goal to abstinence and that it is not contra-indicated on
other grounds, there is no reason why higher dependence clients should not be
offered a moderation goal.”
-
Zudem sind Optimierungsmöglichkeiten von
kT-Ansätzen für die spezifische Zielgruppe der schwer
Alkoholabhängigen denkbar: „It is still possible that more
effective forms of intervention could raise the level of severity of dependence
or problems for which moderation training is considered advisable”
[71].
-
Mehrfach bestätigt werden konnte die „persuasion
hypothesis” (z. B. [20]), wonach ein
hohes Selbstzutrauen (self-efficacy expectation) in die Erlernbarkeit des kT
die Drop-out-Rate aus kT-Programmen, die konsumierte Alkoholmenge und die
Rückfallwahrscheinlichkeit verringert [72]
[73].
-
Nach der Studie von Hester und Delaney [59] wirkt sich der zusätzliche Konsum anderer
psychotroper Substanzen (v. a. Cannabis, Kokain und Amphetamine) nicht
auf die Erfolge von kT-Programmen aus.
-
Zur Frage, ob es beim kT geschlechtsspezifische Unterschiede
gibt, variieren die Befunde von Studie zu Studie [55]
[59], ein einheitlicher Trend
ist nicht feststellbar.
-
Im Gegensatz etwa zu den deutschsprachigen Ländern wird kT
im skandinavischen und englischsprachigen Raum in breitem Umfang umgesetzt,
wie
Abb. [3] (aus [7])
demonstriert.
Beispielsweise halten nach der als repräsentativ zu
bezeichnenden Studie von Dawe und Richmond [11] zwei
Drittel aller australischen Einrichtungen, die Hilfen für Menschen mit
Alkoholproblemen anbieten, auch strukturierte Angebote zum kT vor. Andere
australische Studien kommen zu einem ähnlichen Ergebnis. Für
Großbritannien sieht die Verbreitung von kT-Angeboten mit
76 % noch günstiger aus, wie zwei unabhängig
voneinander im 10-Jahres-Abstand durchgeführte Studien zutage
förderten. Noch weitergehender sind kT-Angebote in den skandinavischen
Ländern implementiert: „Control-training techniques and reduced
consumption are a part of many treatment packages offered to individuals with
alcohol problems” [74]. Selbst in den von den
Anonymen Alkoholikern dominierten Selbsthilfe- und Behandlungsangeboten der
USA
gibt es nach diversen Studien eine nennenswerte Anzahl von Einrichtungen mit
zieldifferenzierenden Angeboten (z. B. [70]).
Abb. 2 Reduktion der
täglichen Trinkmenge („Drinks per Drinking Day”) nach
verhaltenstherapeutischer Behandlung zum kontrollierten Trinken (getrennt nach
Ausmaß der Alkoholabhängigkeit).
Abb. 3 Akzeptanz von
kontrolliertem Trinken als Zieloption im internationalen Vergleich (aus
[7]).
Indikation
Indikation
Angebote zum Erlernen des kT werden in der Literatur für
Menschen indiziert gehalten, denen alkoholbedingte Probleme (körperlicher,
beruflicher, familiärer, juristischer oder anderer Art) entstanden sind
(schädigender Konsum) oder zu entstehen drohen (riskanter Konsum) und die
zu Alkoholabstinenz nicht motiviert und auch nicht motivierbar sind
[4]
[42]
[75]. Einigkeit besteht darin, dass eine absolute
Kontraindikation für kT bei Personen mit bereits erreichter und/oder
dauerhaft angestrebter Abstinenz vorliegt (Abb. [4]). Darüber hinaus ist eine abstinente Lebensweise
zu präferieren, wenn jeglicher Alkoholkonsum die Wahrscheinlichkeit
negativer Konsumfolgen erhöhen würde, wie etwa bei
Schwangerschaft/Stillzeit oder körperlichen Vorschädigungen. Die
letztgenannten Kontraindikationen sind allerdings nur „bedingte”.
Sollte nämlich a) Abstinenz ausdrücklich abgelehnt und eine Konsumreduktion gewünscht werden und b) die
Unmöglichkeit, Abstinenz anzustreben oder einzuhalten, zu wahrscheinlich
mehr negativen Folgen führen als kT, ist trotzdem eine Trinkmengenreduktion als sinnvoll anzusehen [7]
[42]
[75].
Abb. 4 Absolute und bedingte
Kontraindikationen für kontrolliertes Trinken.
Die Indikationsfrage kann deshalb nicht - wie es vielfach
geschieht (z. B. [76]
[111]) - auf eine empirisch-wissenschaftliche
reduziert werden („Welche Effekte [Haupt- und Nebenwirkungen]
treten mit welcher Wahrscheinlichkeit bei Abstinenzbehandlung X [oder
kT-Behandlung Y] und Klientel Z ein?”), sondern muss um die
ethische Dimension ergänzt werden („Was soll getan werden, wenn
Klient X das Abstinenzziel auch nach therapeutischem Dialog über die Vor-
und Nachteile und Erreichbarkeit von Abstinenz versus kT ablehnt?”)
[4]
[77]
[78]. Insofern erfordert eine ethisch legitimierte
Indikationsentscheidung stets den therapeutischen Dialog und kann nicht von
therapeutischer Seite verordnet werden - einmal ganz abgesehen davon,
dass Patienten unabhängig vom therapeutisch für gut Befundenen recht
robust an eigenen Zielentscheidungen festhalten [79]
[80]. Auch empirisch
betrachtet ist das Ergebnis einer fremdbestimmten Indikationsentscheidung wenig
erfreulich: Vermittelt man Menschen mit Alkoholproblemen gegen ihre
Überzeugung in Abstinenztherapien, kommt es gehäuft zu
Behandlungsabbrüchen [81].
kT-Ansätze im deutschsprachigen Raum
kT-Ansätze im deutschsprachigen Raum
In den deutschsprachigen Ländern sind seit den 70er Jahren des
letzten Jahrhunderts Einzel- [15]
[16]
[82]
[83] und Gruppenprogramme [40]
[84 86] zum kT umgesetzt worden - allerdings
sehr selten und zumindest in früheren Jahren meist im Kontext von
Forschungsstudien ohne anschließende Implementierung in die klinische
Praxis (Übersicht: [87]).
In Österreich wandten Czypionka und Demel [83] bei 20 Alkoholabhängigen in 10-14
zweistündigen Sitzungen das Verfahren der aversiven Konditionierung an und
stuften 6 Monate später - extrem konservativ - 15 davon als
Misserfolge ein, da ihre Blutalkoholkonzentration in diesen 6 Monaten
mindestens einmal über 0,6 Promille lag.
Vollmer et al. [15]
[16] behandelten mit verhaltenstherapeutischen Methoden
19- bis 30-jährige Alkoholabhängige (durchschnittlicher Tageskonsum
210 g Ethanol) je nach ihrem Wunsch und organmedizinischem Zustand
entweder auf das Ziel der Abstinenz oder das des kT hin (ohne Randomisierung).
Zwei Jahre nach Behandlungsende wurden 45 % der kT-Gruppe als
Behandlungserfolge eingestuft (deutliche Konsumreduktion oder Abstinenz), aber
nur 25 % der Abstinenzbehandlung.
Polli und Kollegen [84]
[85] setzten in der Schweiz ein Gruppenangebot zum kT um
(7 Sitzungen verteilt auf 3 Monate, max. 10 Personen), das vorgegebene
tägliche Konsumhöchstgrenzen (Männer 76 g, Frauen 36 g)
und eine dreiwöchige Abstinenzphase während des Programms vorsieht.
Zwei Jahre nach Programmende wurden 9 der 14 Teilnehmer als volle und 3 als
Teilerfolge eingestuft.
Arend [82] bietet in Neunkirchen (Saarland)
speziell für jüngere Alkoholkonsumenten einen verhaltenstherapeutisch
strukturierten Rahmen zur kT-Behandlung an, der u. a. mit graduierten
Expositionsübungen arbeitet. Sondheimer [88]
behandelt in Zürich in niedergelassener ärztlicher Praxis auch
Alkoholabhängige auf das Ziel des kT hin und integriert darin auch die
Aufarbeitung psychodynamischer Konflikte. In Deutschland durchgeführte
Nachschulungskurse für alkoholauffällige Kraftfahrer gestatten
teilweise ebenfalls die Wahl des kT-Ziels.
Seit mehreren Jahren praktizieren Wessel und Westermann
[86] in Bielefeld das psychoedukative
Schulungsprogramm PEGPAK (Psychoedukatives Gruppenprogramm bei
problematischem Alkoholkonsum), das in einem Zeitraum von 4-6 Wochen 9
Gruppentermine à 120 Minuten vorsieht, zieloffen ist und speziell auch
für einen reduzierten Alkoholkonsum spezifische Kompetenzen vermittelt.
Die Autoren berichten von einer hohen Attraktivität und Effektivität
des Programms.
Seit 1999 wird von Körkel und Kollegen [40]
[41] das „Ambulante Gruppenprogramm zum kontrollierten Trinken
(AkT)” in Nürnberg und nach Schulung von inzwischen etwa 140
AkT-Trainern auch in anderen Städten Deutschlands und der Schweiz
eingesetzt. An 10 Terminen zu je 2Œ Stunden Dauer werden maximal 15
Teilnehmern die für einen BSCT-Ansatz typischen Kompetenzen vermittelt. In
ähnlicher Weise ist das „Ambulante Einzelprogramm zum kontrollierten
Trinken (EkT)” strukturiert. Die vorliegenden
Evaluationen lassen auf die Effektivität des Ansatzes schließen.
Abgeleitet aus dem AkT wurden weitere Materialien und Stepped-care-Algorithmen
für spezifische Anwendungsfelder, wie Arztpraxen und psychotherapeutische
Praxen und die betriebliche Suchtkrankenhilfe, entwickelt (z. B. ein
kurzes Arbeitsheft zum kT für Patienten und eine Begleitbroschüre
für den Arzt [75]).
Folgerungen
Folgerungen
Erweiterung von Zielgruppen und Interventionsrepertoire in den
Praxisfeldern
Die bislang geringe Erreichungsquote von Menschen mit
eingetretenen oder drohenden alkoholbezogenen Problemen legt nahe, sich in den
Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialsystems vermehrt als
„Dienstleistungszentren für Menschen mit Substanzproblemen”
[14] zu verstehen. Dies würde unter anderem
bedeuten, auch Hilfen zum kT als attraktive Reduktionsvariante für nicht
abstinenzbereite Menschen vorzuhalten und sich für diese neuen Angebote zu
qualifizieren. Die Angebote sollten dort greifen, wo man mit problematischen
Alkoholkonsumenten ohnehin konfrontiert ist: in der klassischen Suchthilfe,
aber auch in der medizinischen und psychotherapeutischen Grundversorgung, in
psychosomatischen Kliniken, den Allgemeinen Sozialen Diensten, den
Justizvollzugsanstalten, der Wohnsitzlosenhilfe u. a. m.
Eine spezifische Zielgruppe für kT-Programme sind
Abhängige illegaler Drogen, wenn man bedenkt, dass eine beachtliche Zahl
etwa der Heroinabhängigen - auch derer in Methadonprogrammen -
schwere, behandlungsbedürftige Alkoholprobleme aufweist. Bei
Drogenabhängigen resultieren nicht nur die generellen Gefahren bei
überhöhtem Alkoholkonsum. Bei ihnen ist das Mortalitätsrisiko
durch den gleichzeitigen Gebrauch von Alkohol und illegalen Drogen deutlicht
erhöht [89] und die pharmakologische
HIV-Behandlung bei hohem Alkoholkonsum kann unwirksam werden
[90]. Gleichwohl streben selbst von den in
stationären Abstinenztherapien befindlichen Drogenabhängigen fast
90 % keine Alkoholabstinenz an [91].
Stepped care als Interventionsprinzip
Grundprinzip der Intervention in den genannten Arbeitsfeldern
sollte das der „stepped care” [45]
[93] sein. Das bedeutet, mit der
Interventionsmaßnahme zu beginnen, die am wenigsten restriktiv ist
(z. B. keinen totalen Alkoholverzicht fordert), am wenigsten in das
alltägliche Leben des Klienten eingreift (z. B. ambulant abends und
im Allgemeinen ohne Unterbrechung der Arbeitstätigkeit durchgeführt
werden kann), kostengünstig ist, gute Ergebnisse verspricht und mit
Zufriedenheit der Kunden einhergeht. Führt eine gewählte
Maßnahme nicht zu den erwünschten Ergebnissen, ist schrittweise eine
intensivere Maßnahmenabfolge zu wählen.
Thematisierung des kT in abstinenzorientierten
Behandlungen
Abstinenzorientierter Suchtbehandlung (Entgiftung, Beratung,
Entwöhnung etc.) stellt sich die Aufgabe, das Thema des kT offensiver und
informierter, als es bislang oft der Fall ist, aufzugreifen. Es geht dabei
darum, dogmen- und ideologiefrei eine dem Stand der wissenschaftlichen
Erkenntnis entsprechende Informationsbasis und Austauschmöglichkeiten zu
diesem Thema zu schaffen. Auf diese Weise könnten Patienten, die
entschieden sind, nach der Behandlung kontrolliert (weiter) zu trinken oder
sich später dazu entscheiden, freimütiger über ihr
„wirkliches” Ziel sprechen und in Bezug auf potenzielles kT
besser unterstützt werden (vgl. [94]).
Schließlich könnte kT für abstinenzwillige, aber
rückfällige Patienten zumindest eine Zwischenstation sein, die vor
dem resignativen, unkontrollierten Weitertrinken bewahren kann.
kT und die abstinenzbezogene Selbsthilfe
Die Debatte um das kT hat vor allem in der abstinenzorientierten
Selbsthilfe eine Reihe von Befürchtungen und wohl auch Kränkungen
ausgelöst [95]
[96]: Die
Alkoholabstinenz verliere in der Gesellschaft an Wert; die komplette
abstinenzorientierte Selbsthilfe werde infrage gestellt; „trockene
Alkoholiker” könnten zum erneuten Alkoholkonsum und „nasse
Alkoholiker” zum Weitertrinken animiert werden und auf diese Weise
könne ihr Leiden verlängert werden. All dies ist nicht der Fall
[77]
[97]
[98]: kT-Angebote können und wollen das
ausdifferenzierte und auf Abstinenz ausgerichtete Suchthilfesystem nicht
ersetzen, sondern ergänzen. Kolportierte Missverständnisse und
Pauschalierungen (z. B. „Alle
Alkoholiker können und sollen kontrolliert
trinken”) sind offenbar unvermeidbar, wenn auch nicht erwünscht. Zu
hoffen ist, dass zukünftig Abstinenz- und kT-Ansätze in friedlicher
Koexistenz ihren Platz im Hilfesystem finden.
Notwendigkeit theoriebezogener Weiterentwicklungen
Die Ergebnisse zum kT stellen das tradierte
„Krankheitsmodell des Alkoholismus” (vgl. [99]) infrage („[that] arose not from
science but from a unique concatenation of moral, political, societal, and
economic forces in American society that borrows from the 19th-century concept
of dipsomania” [4]
[32]
[100]
[101]):
-
Das Uniformitätspostulat, nach dem es „den”
typischen Alkoholiker gibt, der aufgrund eines biologischen Determinismus nach
dem „ersten Glas” weitertrinken muss und
deshalb nie in Maßen wird trinken können
(Irreversibilitätsannahme), ist revisionsbedürftig. Die
Dichotomisierung zwischen „dem Alkoholiker” und „dem
Nichtalkoholiker” ist empirisch nicht haltbar und nicht jeder so
genannte „Alkoholiker” ist zu einem
„Kontrollverlusttrinken” verdammt.
-
Zum Zweiten ist es erforderlich, das Konstrukt
„Kontrollverlust” zu präzisieren („Ab welcher
Verhaltensmanifestation soll von ‚Kontrollverlust‘ gesprochen
werden?” [32]) und Kontrollverlust nicht
länger als Ja-nein-Phänomen zu konzeptualisieren, sondern von auch
psychometrisch erfassbaren Abstufungen der Kontrollfähigkeit auszugehen
(„impaired control” [102]).
-
Die wie naturgegeben erscheinende Unterscheidung in die
ICD-10- bzw. DSM-IV-Gruppen der Alkoholmissbraucher und Alkoholabhängigen
lässt sich empirisch weder reliabel noch sinnvoll vollziehen
[4]
[103] und gibt - wie
oben belegt - für die Therapiezielindikation nicht viel her. Deshalb
wird vermehrt dafür plädiert, Alkoholprobleme als kontinuierlich
verteiltes Merkmal anzusehen (z. B. Ausmaß der Kontrolleinbuße und
Ausmaß der Alkoholfolgeschäden) und bei
jedweder Art von problematischem Alkoholkonsum bzw.
Problemtrinken ein Behandlungsangebot vorzuhalten, statt die Ausbildung einer
chronischen und folgenreichen Abhängigkeit abzuwarten. Diese Strategie
orientiert sich weg von einem engen Alkoholismusdenken hin zu einem Ansatz der
umfassenden Förderung des öffentlichen Gemeinwohls („public
health”), so wie er von der WHO [104] und in
den USA [106] propagiert wird.
Zusammengefasst erweist sich das gängige Krankheitsmodell des
Alkoholismus als „simply inadequate for the task of describing,
understanding, and addressing alcohol problems in society”
[100] oder - schärfer - als
„folk science” [32].
Forschungsdesiderata
Eine Vielzahl Forschungsaufgaben zum kT steht an. Auf dem Weg zu
einer einheitlichen Erfolgsbemessung von kT-Programmen wäre es
vorteilhaft, wenn bereits vorliegende Operationalisierungsvorschläge
(z. B. [63]) in Forschungsstudien stärker
berücksichtigt würden. Langzeitkatamnesen mit größeren
Patientengruppen wären wünschenswert, um stabilere Effektmaße
zu erhalten und subgruppenspezifische Analysen zu ermöglichen.
Größere Studienpopulationen würden auch komplexere statistische
Auswertungen (wie Kausalanalysen) zulassen und damit das Muster einflussreicher
Erfolgsprädiktoren für kT klären helfen. Weiterhin fehlen
randomisierte, kontrollierte Studien zu der Frage, wer von einem
abstinenzorientierten und wer von einem kontrollorientierten Programm am
meisten profitiert. Die vorliegende Literatur lässt allerdings schon jetzt
vermuten, dass nicht das formale Behandlungsprogramm mit seinen offiziell
angesteuerten Therapiezielen den Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage
abgibt. Bedeutsamer erscheinen nach gegenwärtiger Datenlage die
Qualität der therapeutischen Beziehung [107]
[108], die Zielpräferenz des Klienten
[19] und seine Überzeugung (self-efficacy), das
erstrebte Ziel auch erreichen zu können [20]
[21]. Dies lässt vermuten, dass auch zukünftig
nicht ein einzelnes Personenmerkmal (z. B. Abhängigkeitsschwere)
die Grundlage für Indikationsentscheidungen abgeben kann.
Eine intensivere Beschäftigung mit dem Thema des kT
könnte nicht nur die wissenschaftliche Modellbildung in Bezug auf
alkoholbezogene Beeinträchtigungen voranbringen und die Implementierung
attraktiver Hilfsangebote für bisher nicht erreichte Problemkonsumenten
fördern, sondern mit Odo Marquard [110] auch den
Blick auf das Machbare wahren helfen: „Wer nur jene perfekte
Weltverbesserung zulässt, die die absolut gute Welt herbeiführt,
infernalisiert das wirklich Mögliche und das Wirkliche. Aber die
Negativierung des Zugänglichen, die Schlechtmachung jenes Guten, das auch
noch im vorhandenen Unvollkommenen steckt, können wir uns nicht leisten:
Endliche Wesen haben nicht so viele Eisen im Feuer, dass sie auf irgendeines
verzichten könnten.”
Literatur