Suchttherapie 2002; 3(2): 103-105
DOI: 10.1055/s-2002-28492
Schwerpunktthema
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Darstellung eines Praxisprojektes zum fremdbestimmten kontrollierten Trinken im Pflegeheim „Haus Abendsonne”

Alcohol Consumption Externally Controlled by the Staff: A New Project in a Nursing Home.Petra Böhlke, Barbara Schäfer
  • 1Prof. Dr. Ihlefeld-Stiftung e.V., Heimverbund Zapkendorf
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Petra Böhlke

Prof. Dr. Ihlefeld-Stiftung e. V.

Pferdemarkt 13

18273 Güstrow

Publication History

Publication Date:
15 May 2002 (online)

Table of Contents #

Einleitung

In unserem Artikel geht es um alkoholkranke Menschen, welche mit Seniorinnen und Senioren zusammen in einem normalen offenen Pflegeheim leben. Das Pflegeheim ist in freier Trägerschaft der Volkssolidarität Mecklenburg-Mitte e. V.

Das fremdbestimmte kontrollierte Trinken ist als ein Element des Betreuungskonzeptes im Pflegeheim „Haus Abendsonne” in Zapkendorf, Landkreis Güstrow, Mecklenburg-Vorpommern, zu sehen. Das „Haus Abendsonne” ist eine 1725 errichtete Gutsanlage und wurde mit der Aufnahme von Flüchtlingen bereits 1948 ein Heim. Im Laufe der Zeit entwickelte es sich zu einem Feierabend- und schließlich Pflegeheim. Die Nervenklinik in Rostock und andere Einrichtungen hatten schon mehrfach einen Bedarf signalisiert zur Unterbringung Alkoholkranker, die mehrfach ihre Therapien abgebrochen hatten, immer wieder rückfällig geworden waren und aufgrund der Alkoholfolgeschäden pflegebedürftig waren. So wurde dieser praktischen Notwendigkeit entsprechend unser Konzept ausgerichtet.

Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Arbeitsweise im „Haus Abendsonne” bilden das Heimgesetz, das SGB XI (Pflegeversicherungsgesetz) und das BSHG (Bundessozialhilfegesetz).

Die Finanzierung des Heimbetriebes erfolgt über Heimentgelte. Sie werden jährlich in Verhandlungen mit den Pflegekassen festgelegt und richten sich nach dem personellen und sächlichen Aufwand für die einzelnen Stufen der Pflegebedürftigkeit. Die Pflegekasse gewährt jedem Versicherten 75 % des Heimentgeltes, maximal je Stufe jedoch 1022,58 €, 1278,23 €, 1431,62 €. Die Differenz zu den tatsächlichen Heimkosten trägt der Heimbewohner aus seinem Einkommen, in unserem Heim also von der jeweiligen Rente. Ist diese nicht ausreichend, wird der Betrag vom Sozialamt übernommen. Der Bewohner selbst erhält dann außerdem zu seiner persönlichen Verfügung ein Taschengeld, das abhängig vom Sozialhilfesatz des jeweiligen Landes ist.

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Zielgruppe

Unsere alkoholkranken Heimbewohner gehören zur Gruppe der chronisch mehrfachbeeinträchtigten Alkoholkranken, die immer wieder rückfällig sind, Alkoholschäden besitzen und sozial auffällig sind.

Im „Haus Abendsonne” finden 80 Bewohner ein Zuhause. Die Altersspanne bei den Alkoholkranken liegt zwischen 39 und 80 Jahren. Gemeinsames Merkmal der alkoholkranken und nichtalkoholkranken Bewohner ist die Pflegebedürftigkeit aufgrund ihres Alters und/oder ihrer Alkoholabhängigkeit.

Die zahlenmäßige Struktur lässt sich folgendermaßen darstellen:

Tab. 1 Bewohnerprofil im „Haus Abendsonne” (Stand: 1.4.2001)
alkoholkrankgesamt:50 Bewohnerdavon 18 Frauen, 32 Männer
davon pflegebedürftig:26 Bewohnerdavon 6 Frauen, 20 Männer
nicht alkoholkrankgesamt:28 Bewohnerdavon 21 Frauen, 7 Männer
davon pflegebedürftig:23 Bewohnerdavon 16 Frauen, 7 Männer

Durch das exzessive Trinken bis hin zur Abhängigkeit haben die alkoholkranken Bewohner vielfältige physische und psychische Störungen. Sie werden als chronisch mehrfachgeschädigt angesehen. Dieser Sachverhalt äußert sich in den teils vorhandenen Diagnosen, wie z. B.

  • Polyneuropathie,

  • Korsakow-Syndrom,

  • Korsakow-Syndrom + Diabetes mellitus

  • Polyneuropathie + Korsakow-Syndrom + chronische Pankreatitis

  • Hirnorganisches Psychosyndrom + Polyneuropathie + Korsakow-Syndrom

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Konzept

Ein wesentliches Kriterium unserer Bewohner und damit grundlegend für die Umsetzung unseres Konzeptes ist die Pflegebedürftigkeit nach § 14 SGB XI.

Die Notwendigkeit der Pflege zeigt auf, welche Alkoholkranken wir versorgen, nämlich die, die in wesentlichen Funktionen beeinträchtigt und dabei allein nicht lebensfähig sind. In der Verrichtung der Abläufe des täglichen Lebens benötigen sie Anleitung, Hilfe und Unterstützung. Viele unserer Alkoholkranken sind nicht mehr in der Lage, abstinent zu leben. Für diese praktische Erscheinung des immer wieder Rückfälligwerdens, des stetigen exzessiven Alkoholkonsums trotz aller medizinischer oder therapeutischer Maßnahmen wurde im Rahmen der wissenschaftlichen Konzeptbegleitung der Begriff der autonomen Abstinenzunfähigkeit geprägt. Sie stellt ein Dispositionsgefüge dar, das eine eigenständige, bewusste willensmäßige Steuerung bezüglich des Alkoholkonsums nicht zulässt.

Die Zielsetzung des Konzeptes heißt:

  • Schaffung einer würdigen Existenz, in der das Heim als Zuhause verstanden wird und Bedürfnisorientierung, Selbstbestimmtheit und Entfaltung der Persönlichkeit Grundlage des Aufenthaltes sind.

  • Entgegenwirken des krankheits- und altersbedingten Persönlichkeitsabbaus durch Erhalt bzw. Förderung der Persönlichkeits- und Lebensstrukturen und vorhandener Fertigkeiten und Fähigkeiten.

Für die alkoholkranken Bewohner gilt darüber hinaus:

  1. Reduktion der Trinkmenge, ggf. Trinkexzesse

  2. Führung zu längeren alkoholfreien Perioden

  3. Bearbeitung von Rückfällen zwischen diesen Perioden

  4. Abstinenz

  5. Bearbeitung von Rückfällen

Um Über-, aber auch Unterforderung zu vermeiden, bedarf es einer Pflege- bzw. Betreuungsplanung. Dieser individuelle Hilfeplan leitet Zielstellungen für einzelne Bereiche der Persönlichkeit ab und entwickelt Methoden zur Umsetzung. Spätestens halbjährlich erfolgt nach einer Auswertung die Zielkonkretisierung. Schwerpunkte für die individuell geltenden Pflegepläne sind:

  • Körperpflege

  • Ernährung

  • Mobilität

  • Ausscheidung

  • eines der betreffenden Interventionsziele der Alkoholkranken

  • soziale Integration

Die Qualität des Lebens steht auch unter geschützten Bedingungen im Mittelpunkt der fachlichen Überlegungen. Oberstes Ziel ist also auch im Heim: Erreichung eines sinnerfüllten Lebens ohne bzw. mit reduziertem Alkoholkonsum. Die Vorstellung vom Sinn des Lebens wird durch subjektive Faktoren bestimmt und ist stets individuell begründet.

Mit der Aufnahme in das offene Pflegeheim „Haus Abendsonne” wird vom Alkoholkranken keine Abstinenz verlangt. Das heißt aber auch - in Zapkendorf muss man nicht trinken!

Damit sind wir beim fremdbestimmten kontrollierten Trinken als einem fakultativen Element unseres Betreuungskonzeptes angelangt. Das fremdbestimmte kontrollierte Trinken gilt nicht in erster Linie als Ziel, sondern als Methode, als ein Element des Betreuungskonzeptes.

Bewohner mit Krankheitseinsicht und Abstinenzmotivation werden in ihrem Streben nach Abstinenz unterstützt und begleitet. Bewohner, die ein aktuelles, teilweise missbräuchliches Trinkverhalten aufweisen, zählen zur potentiellen Gruppe der fremdbestimmten kontrollierten Trinker.

Im Aufnahmegespräch werden die Einzelheiten des fremkontrollierten Trinkens festgelegt. Die Rahmenbedingungen im „Haus Abendsonne” stellen sich wie folgt dar:

  • Die Alkoholmenge wird in Abstimmung mit Bewohner bzw. Betreuer festgelegt. Sie ist abhängig von biografischen Besonderheiten, dem bisherigen Trinkverhalten, bestehenden Schädigungen, körperlichen Voraussetzungen und angestrebten Perspektiven. Begrenzt ist diese Menge auf maximal 3 × 1 Bier (je 0,3 Liter) täglich.

  • Die zugeteilte Menge muss vom Heimbewohner finanziell selbst getragen werden und richtet sich demzufolge auch nach der Höhe seines Taschengeldes.

  • Die Alkoholika befinden sich unter Obhut des Personals und werden vom Sozialpädagogen verabreicht.

  • Die tägliche Alkoholverteilung erfolgt gekoppelt an ein Gespräch über körperliches Befinden, Probleme oder mögliche Verhaltensauffälligkeiten.

  • Gleichzeitig behält sich der Sozialpädagoge die Zuteilung des Taschengeldes vor, um Verletzung des fremdbestimmten kontrollierten Trinkens durch Zusatzbeschaffung von Alkohol zu vermeiden.

  • Die Menge der Zuteilung ist nicht starr und unabänderlich. Durch Prüfung des körperlichen und psychischen Zustandes können Veränderungen (Reduktion) herbeigeführt werden, selbstverständlich auch auf Wunsch des Bewohners.

Mit der Unterzeichnung des Heimvertrages und damit der Anerkennung der Hausordnung wird die Zustimmung des Heimbewohners zu diesen Regelungen als gegeben angesehen.

Zur Zeit nehmen am fremdbestimmten kontrollierten Trinken 7 Bewohner teil (1 Frau, 6 Männer).

Unberührt darf an dieser Stelle natürlich nicht die Thematik des Rückfalls bleiben. Im vorliegenden Betreuungskonzept ist der Rückfall entsprechend dem differenzierten Suchtverhalten der Heimbewohnergruppen zu definieren. Für die abstinent lebenden Bewohner bedeutet der Rückfall Konsum von Alkohol. Der Verstoß gegen die vereinbarte und gestattete Menge des Alkoholkonsums, so genannter Beikonsum, beschreibt für den Teilnehmer am kontrollierten Trinken den Rückfall.

Die Gründe und Art und Weise der Rückfälle sind unterschiedlich. Bei Heimweh, Sorgen um die Familie, Depressionen oder auch Selbstüberschätzung „besorgen” sich einzelne Bewohner Alkohol. Kräftemessen, Leichtsinn oder auch diverse Tauschgeschäfte bedingen vielfach einen Gruppenrückfall.

Wir leben mit dem Rückfall als Bestandteil der Krankheit. Es erfolgt der Versuch der Aufarbeitung, der Suche nach Ursachen, aber vor allem der Suche nach neuen Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten beinhalten die Motivation zur Rückkehr zum Leben mit Reduktion des Alkohols.

Abschließend noch einige Bemerkungen zum Personal: Die Personalstruktur richtet sich nach den Richtlinien der Heimmindestpersonalverordnung und den Anforderungen des SGB XI. Da das Konzept ein ganzheitliches ist, also alle Arbeitsbereiche bei der Betreuung einschließt, wurde mit dem Personal ein besonderes Schulungsprogramm durchgeführt. In einem einjährigen Kurs wurden alle Mitarbeiter suchtspezifisch gebildet. Sie erlernten dazu ausgewählte Grundlagen der Psychologie, Sozialarbeit, Gesprächsführung und die neu gefassten theoretischen Überlegungen zur Gestaltung des Konzeptes. Diese Komplexe wurden schwerpunktmäßig als Fallstudien mit der praktischen Arbeit verbunden. Viele Ideen und Ansatzpunkte zur Verbesserung des Konzeptes waren Begleitergebnis dieser Schulungen. Alle Mitarbeiter erhielten nach bestandener Belegarbeit ein Zertifikat als Sozialbetreuer von Alkoholkranken. Die ständigen Schulungen, auch als Beratungen durch einen Arzt der Suchtkrankenhilfe, sind für das Gelingen des Konzeptes von großer Bedeutung.

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Fazit

Kontrolliertes Trinken für Alkoholkranke unter einem Dach mit pflegebedürftigen Seniorinnen und Senioren: Ist das möglich oder eine Zumutung, ein Kunstfehler oder ein Versorgungsbaustein? Nach nun fast 10-jähriger Tätigkeit haben wir auf diese Fragen und viele andere nicht nur eine Antwort gefunden, sondern sie auch umgesetzt. Die Anwendung des kontrollierten Trinkens hat sich als sinnvoll erwiesen. Dafür müssen jedoch klare Prämissen gesetzt werden. Im „Haus Abendsonne” erfolgt es aufgrund der vorangeschrittenen Schädigung der Bewohner in erster Linie durch Fremdbestimmung. Generell unterliegt das kontrollierte Trinken stets den individuellen Voraussetzungen des Betroffenen und muss auf diese abgestimmt sein. Kontrolliertes Trinken muss stets im Zusammenhang mit einhergehender sozialer Betreuung angeboten werden.

Dieses Projekt beansprucht sicher keine Allgemeingültigkeit, doch ist der gezeigte Ansatz ein neuer Weg in der Suchtkrankenhilfe und darüber hinaus ein wichtiger Versorgungsbaustein zur Betreuung chronisch mehrfachgeschädigter Alkoholkranker.

Der Heimverbund der VS Mecklenburg-Mitte e. V. und die Prof. Dr. Ihlefeld-Stiftung e. V. haben sich das Ziel gesetzt, dieses Konzept im Sinne des verstorbenen Prof. Dr. Ulrich Ihlefeld fortzuführen und den heutigen Bedingungen anzupassen und zu erweitern.

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Literatur

  • 1 Schäfer B. Sozialpädagogisches Betreuungskonzept chronisch mehrfachgeschädigter Alkoholabhängiger unter dem Aspekt des fremdbestimmten KT im Heimverbund Zapkendorf der VS Mecklenburg-Mitte e. V. Diplomarbeit. Güstrow 2001
  • 2 Naumann W. Sozialpädagogische Betreuung von Alkoholkranken in Heimen unter besonderer Berücksichtigung des kontrollierten Trinkens (redaktionelle Bearbeitung). Sozialakademie Mecklenburg-Vorpommern e.V Rostock; Neuer Hochschulschriftenverlag Rostock 1999
  • 3 Ihlefeld U. Kontrollierte Alkoholvergabe. Zerdick J Suchtmedizin im Dialog Berlin; VWB - Verlag für Wissenschaft und Bildung 1999: 233-243

Petra Böhlke

Prof. Dr. Ihlefeld-Stiftung e. V.

Pferdemarkt 13

18273 Güstrow

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Literatur

  • 1 Schäfer B. Sozialpädagogisches Betreuungskonzept chronisch mehrfachgeschädigter Alkoholabhängiger unter dem Aspekt des fremdbestimmten KT im Heimverbund Zapkendorf der VS Mecklenburg-Mitte e. V. Diplomarbeit. Güstrow 2001
  • 2 Naumann W. Sozialpädagogische Betreuung von Alkoholkranken in Heimen unter besonderer Berücksichtigung des kontrollierten Trinkens (redaktionelle Bearbeitung). Sozialakademie Mecklenburg-Vorpommern e.V Rostock; Neuer Hochschulschriftenverlag Rostock 1999
  • 3 Ihlefeld U. Kontrollierte Alkoholvergabe. Zerdick J Suchtmedizin im Dialog Berlin; VWB - Verlag für Wissenschaft und Bildung 1999: 233-243

Petra Böhlke

Prof. Dr. Ihlefeld-Stiftung e. V.

Pferdemarkt 13

18273 Güstrow