Einleitung
Einleitung
Alfred Lindesmith war der Erste, der nach dem 2. Weltkrieg Muster
kontrollierten Drogengebrauchs ermittelte [1]. Er
sprach von „Genusskonsumenten”, die „nicht drauf
waren”. Später entdeckten Chein, Gerard, Lee und Rosenfeld
[2] in einer scharfsinnigen Beobachtungsstudie der New
Yorker Straßenszene, wie stark der Lebenskontext der Straßengangs
beeinflusste, ob und vor allem wie ihre Mitglieder Heroin konsumierten. Selbst
benachbarte Gangs unterschieden sich erheblich in ihren Regeln und Normen, nach
denen sie ihren (weit verbreiteten) Drogenkonsum kontrollierten. Die Forscher
dieser und anderer Untersuchungen erwähnen die Bedeutung, gleichzeitig
aber auch den Mangel an Studien über nichtabhängige Drogenkonsumenten, führten aber
selbst solche Studien niemals durch.
Der bedeutendste Erforscher des kontrollierten Konsums illegaler
Drogen ist der Harvard-Professor Norman E. Zinberg. Er unternahm zwischen 1973
und 1981 eine Reihe sich aufeinander beziehender Studien über nicht
abhängige Konsumenten von Heroin, LSD und anderen Psychedelika
[3]. Er schlug ein Rahmenmodell vor, das 1984 in seinem
Werk „Drug, Set and Setting” zusammengefasst wurde
[4]. In diesem Buch hebt er hervor, wie der
vorherrschende kulturelle Glaube, jede Form des Drogenkonsums stelle bereits
Missbrauch dar, die Erforschung dieses Verhaltens beeinflusst hat. Die meisten
Studien unterscheiden nämlich nicht einmal zwischen moderatem und
exzessivem/problematischem Konsum, und die Variabilität der Konsummuster
führte zu einer Bandbreite unklarer Begrifflichkeiten. Ganz offensichtlich
gibt es bis heute keinen allgemein akzeptierten Begriff für einen nicht
missbräuchlichen, nicht abhängigen Gebrauch illegaler Drogen. Das
macht es schwierig, derartigen Phänomenen in Forschungsstudien
präziser nachzugehen.
In der bisherigen Forschung hat man vernachlässigt, sich auch
mit der Frage des kontrollierten Konsums von Kokain und Opiaten auseinander zu
setzen. Derartige Studien wären in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: Ihre
Ergebnisse könnten dem verbreiteten Glauben widersprechen, der
kontrollierte Konsum von Heroin und Kokain führe zwangsläufig zu
Abhängigkeit und schweren psychologischen/physiologischen Schäden und
stelle „eine Fahrkarte ins Jenseits” [5]
dar; sie könnten eine bessere Hilfeleistung für abhängige
Konsumenten ermöglichen; und längerfristig könnten Erkenntnisse
aus dieser Forschung den Umgang mit illegalen Drogen auf politischer und
juristischer Ebene normalisieren helfen.
Was meint nun aber „kontrollierter Konsum” genau? Nach
Carver und Schreier beinhaltet die Selbstregulation von Verhalten eine
hierarchisch geordnete Folge von Schleifen auf verschiedenen kognitiven
Funktionsebenen, durch die Diskrepanzen zwischen den Ebenen vermindert werden.
Der Output höherer exekutiver Funktionen bildet dabei die Ausgangsbasis
für die Funktionsweise niedrigerer Ebenen. „Unkontrolliert”
ist ein Verhalten zu nennen, bei dem die höheren Kontrollmechanismen
aufgegeben werden. Wenn ein Verhalten den Zielen höherer Funktionsebenen
widerspricht und es nicht zu einer Auseinandersetzung zwischen diesen
höheren Ebenen kommt, führt dies zu problematischen Konsequenzen.
Zu einem Versagen der Selbstregulation kann es aus verschiedenen
Gründen kommen: durch übermäßige Automatisiertheit des
Verhaltens, das Bedürfnis nach Selbstverleugnung (z. B. negatives
Selbstbild), gedrückte Stimmungslagen (die zum Grübeln führen)
und eine Reihe weiterer Gründe. Ein spezieller Fall, in dem die
höheren Kontrollmechanismen vermindert sind, liegt bei der Intoxikation
durch Alkohol oder illegale Drogen und dem so genannten
„Kontrollverlust-Phänomen” vor. Obwohl aus dieser Sichtweise
jedes von einer Person initiierte Verhalten „kontrolliert”
genannt werden kann, kann das Ausmaß der Kontrolle als die
Verfügbarkeit über Regeln höherer Ordnung (z. B.
„Ich konsumiere niemals, wenn ich deprimiert bin”) und das
Ausmaß, in dem das Verhalten nicht mit höheren Lebenszielen
kollidiert (z. B. Drogen zu nehmen und gute Leistungen in der Arbeit zu
erbringen), definiert werden.
Wie lässt sich diese Sichtweise nun auf den kontrollierten
Konsum harter Drogen anwenden? Konflikte höherer Ordnung liegen vor, wenn
der Drogengebrauch beim Konsumenten zu problematischen Konsequenzen führt.
Von „Kontrolle höherer Ordnung” ist dagegen zu sprechen,
wenn dem Konsumenten explizite Selbstkontrollregeln verfügbar sind und
diese ihn von problematischem Konsum abhalten. Kontrollierter Konsum harter Drogen lässt sich demnach als
ein Konsum definieren, der nicht in nennenswertem Maß mit
persönlichen Zielen kollidiert und durch Selbstkontrollregeln gesteuert
wird, die explizit sind oder explizit gemacht werden können. In den
meisten sozialepidemiologischen Studien werden derartige Selbstkontrollregeln
gar nicht erhoben. Wenn aber der Konsum harter Drogen in einem engen Spektrum
verbleibt und nicht mit persönlichen und sozialen Problemen einhergeht,
kann er als kontrolliert angesehen werden. In den meisten Studien wird
kontrollierter Konsum auch so verstanden: als im Hinblick auf Menge und
Häufigkeit limitierter und hinsichtlich der Konsequenzen unproblematischer
Konsum. „Unkontrolliert” steht demgegenüber für
mengenmäßig hohen und häufigen (täglichen) Konsum und das
Auftreten von Problemen als Konsequenzen des Konsums.
Spezifischer bedeutet „Kontrolle” die Möglichkeit
der Unterbrechung eines habitualisierten Verhaltens.
„Unkontrolliert” (im Sinne von „Kontrollverlust”)
bedeutet die Unfähigkeit, ein abhängiges Konsummuster selbst stoppen
zu können. Der Zusatz „selbst” ist wesentlich, denn eine von
außen erzwungene Unterbrechung des Konsummusters (z. B. im Rahmen
einer Behandlung) ist in der Regel nicht als Form der Selbstkontrolle zu
verstehen. Spontanheilungen ohne bzw. mit nur geringer professioneller
Behandlung bieten eine besonders interessante Basis zur Untersuchung von
„wirklich” selbstkontrolliertem Konsum.
Die Frage, inwieweit es kontrollierten Konsum illegaler Drogen gibt,
lässt sich nun wie folgt spezifizieren:
-
Wie häufig kommt kontrollierter, d. h.
unschädlicher, unregelmäßiger und eingegrenzter Konsum von
Heroin und Kokain innerhalb der Allgemeinbevölkerung vor?
-
Kann abhängiger und/oder problematischer Konsum dieser
Substanzen aus eigener Kraft in kontrollierten Konsum
„überführt” werden?
-
Wenn es einen kontrollierten Konsum gibt: Wie funktioniert
er?
Um die erste Frage der Prävalenz zu beantworten, werden wir
diverse Bevölkerungsumfragen heranziehen und die Häufigkeit von
kontrolliertem Konsum abschätzen. Zur Beantwortung der zweiten Frage
(Übergang zwischen abhängigem und kontrolliertem Konsum) werden
Follow-up-Studien über abhängige (Ex-)Konsumenten analysiert. Bezogen
auf die dritte Frage ziehen wir einige Studien zur Häufigkeit des
Einsatzes von Selbstkontrollregeln zu Rate. Bei allen drei Fragen konzentrieren
wir uns auf die „harten” illegalen Drogen Heroin und Kokain und
sparen Marihuana, Amphetamine und Ecstasy (MDMA) aus, weil Letztere im
Allgemeinen andere Abhängigkeitsprozesse und Schadensfolgen nach sich
ziehen.
Prävalenz des kontrollierten Konsums illegaler Drogen
Prävalenz des kontrollierten Konsums illegaler Drogen
Der direkteste Weg, die Prävalenz kontrollierten Konsums zu
erheben, sind Repräsentativumfragen in der Allgemeinbevölkerung. Die
Anzahl der Personen, die in diesen Untersuchungen angeben, unerlaubte Drogen zu
nehmen oder genommen zu haben, ist sehr gering und dennoch nicht unbedeutsam.
In einer 1987 durchgeführten nationalen Erhebung aller Haushalte der
Niederlande (Einschluss: alle über 15-Jährigen) gaben
1 % an, mindestens einmal bereits Heroin oder Kokain konsumiert
zu haben. Einige Jahre später gaben im drogenfreundlichen Amsterdam
6 % der Befragten an, schon einmal Kokain probiert zu haben,
1,2 % waren es bei Heroin [6].
Interessante Beobachtungen können bei Schülern gemacht
werden, bei denen „Lifetime-Prävalenz” bereits per
definitionem kurz zurückliegenden und zumeist (noch)
unregelmäßigen Konsum bedeutet. Das europäische ESPAD-Projekt
[7] sammelte im Frühjahr 1999 in 30 Ländern
(nicht in Deutschland) entsprechende Informationen bei 15- bis 16-jährigen
Schülern. Der Prozentsatz der Kokain konsumierenden Jugendlichen reichte
von 1 % (Großbritannien) bis 3 %
(Niederlande). Die Anzahl derjenigen, die jemals Heroin ausprobiert hatten, war
leicht höher, mit besonders hohen Werten vor allem in osteuropäischen
Ländern. Auffallend hoch sind die analogen Prozentwerte mit 8 (!)
bzw. 4 % in den USA [8]. Gleichwohl
lassen diese Zahlen keine Rückschlüsse auf die Prävalenz
kontrollierten Konsums zu.
Erstmaliger Konsum kann selbstverständlich in problematischen
Konsum übergehen. Nichtsdestoweniger wird lediglich eine kleine Gruppe der
Konsumenten sozial auffällig oder kommt in Behandlung, wie verschiedene
Studien belegen. Wenn man mehr über Konsumenten, die nach einer
Experimentierphase die Kontrolle über ihren Drogenkonsum wahren, wissen
möchte, benötigt man Angaben zur Häufigkeit und Aktualität
des Konsums und nicht nur Lifetime-Prävalenz-Daten. Leider wird in vielen
Bevölkerungsstudien diese Information nicht erhoben. Eine Ausnahme bildet
die Erhebung von Abraham, Cohen, Van Til & De Winter [9], die im Jahr 1997 22 000 Niederländer
über das Vorkommen von legalem und illegalem Drogenkonsum befragte. Die
Studie konzentriert sich ausdrücklich auf die Frage des
regelmäßigen Konsums und ist darüber hinaus von Bedeutung, weil
sie Vergleiche zwischen illegalen und legalen Substanzen vornimmt. Erfasst
wurden der kontinuierliche Suchtmittelkonsum (operationalisiert als Anzahl der
Konsumenten im letzten Monat) und die Anzahl erfahrener Konsumenten
(operationalisiert als mehr als 25-maliger Substanzgebrauch im Leben) -
Angaben, die sich der Lifetime-Prävalenz annähern. Zentrale
Ergebnisse der Studie finden sich in Tab. [1].
Tab. 1 Prävalenz und
Häufigkeit des Konsums unerlaubter Drogen in den Niederlanden, in
Prozentwerten (Angaben nach [9])
[]
|
Kokain |
Heroin |
MDMA (Ecstasy)
|
Canna-bis |
Alkohol |
Nikotin |
Lifetime-Prävalenz |
2,1 |
0,3 |
1,9 |
15,6 |
90,2 |
67,9 |
Erfahrene Konsumenten (> 25-maliger Konsum),bezogen auf
die Lifetime-Konsumenten
|
22,7 |
24,3 |
25,4 |
33,1 |
88,4 |
88,0 |
Konsum im letzten Monat, bezogen auf die
Lifetime-Konsumenten |
10,0 |
10,2 |
14,0 |
15,8 |
81,4 |
50,5 |
Mehr als 20 Konsumtage im letzten Monat, bezogen auf die vorherige
Zeile |
1,8 |
* |
0,0 |
25,6 |
24,3 |
* |
* keine Angaben
|
Zunächst einmal zeigen sich zwischen den verschiedenen
Substanzen auffallende Unterschiede. Alkohol und Nikotin werden am
häufigsten konsumiert. Auffallender ist jedoch der Unterschied in der
Beibehaltung des Konsums. Die große Mehrheit derjenigen, die jemals
Alkohol oder Nikotin probiert haben, hat ihren Konsum danach fortgesetzt und
diese sind nun erfahrene Konsumenten. Dies trifft aber nur auf ein Drittel
derjenigen zu, die jemals Cannabis konsumierten, und auf weniger als ein
Viertel der Kokain- oder Heroinprobierer. Ein vergleichbarer Unterschied zeigt
sich bei denen, deren Konsum im letzten Monat erhoben wurde. Obwohl der
Prozentsatz der Tabakraucher, die auch im letzten Monat noch rauchten,
niedriger ist als der der Alkoholkonsumenten (was möglicherweise der
relativ hohen Zahl von Exrauchern zuzuschreiben ist), sind beide
Prozentsätze weit höher als die für illegale Drogen (zwischen 10
und 16 %). Nur eine sehr kleine Minderheit derjenigen, die jemals
harte Drogen konsumierten, konsumiert (fast) täglich. Der Unterschied zu
den verbreiteteren Drogen wie Cannabis, Alkohol und Nikotin ist auffallend.
Diese Ergebnisse legen die Schlussfolgerung nahe, dass der Gebrauch von Kokain
und Heroin, auch bei erfahrenen Konsumenten, nicht notwendigerweise zu
fortgesetztem und häufigem Konsum führt. Die Anzahl der kontrolliert
Drogen Konsumierenden kann letztlich auf 1 bis 2 Promille der erwachsenen
Bevölkerung geschätzt werden; das sind in den Niederlanden zwischen
10 000 und 20 000 Personen.
Es gibt auch eine neuere deutsche Studie mit interessanten
Prävalenzdaten, die allerdings im Hinblick auf den kontrollierten Gebrauch
illegaler Drogen wenig Ergänzungen liefert. Kraus und Angustin
[10] berichten über illegalen Drogenkonsum bei
den mehr als 8000 befragten 18- bis 59-jährigen West- und Ostdeutschen im
Jahr 1997. Sehr vergleichbar mit den niederländischen Zahlen haben von den
Befragten 2 % mindestens einmal im Leben Kokain und
0,3 % mindestens einmal Heroin konsumiert. Auch in der deutschen
Population hat nur ein Teil davon in den letzten 12 Monaten Drogen konsumiert:
etwa 33 % beide Substanzen (nur Kokain: 0,7 %; nur
Heroin: 0,1 % [10]) - eine
bedeutend höhere Zahl als in den Niederlanden (10 %). Nach
den Ergebnissen dieser Studie konsumierten hochgerechnet mindestens
333 000 Deutsche nicht nur einmal während ihres Lebens, sondern
auch im letzten Jahr Kokain und/oder Heroin. Längst nicht alle von diesen
sind als problematisch einzustufende Konsumenten, denn: In Kraus' und
Angustin's gesamter Stichprobe erhalten 0,9 % eine Missbrauchs-
oder Abhängigkeitsdiagnose in Bezug auf illegale Drogen. Es wird sich hier
kaum oder nicht um die wirklich verelendeten Drogenabhängigen handeln
- die reagieren gewöhnlich weniger begeistert auf postalisch und
unbezahlt erbetene Fragebogeninformationen. Die Personen mit Missbrauchs- oder
Abhängigkeitsdiagnosen fallen sodann auch nicht alle zusammen mit den
Heroin- und Kokainkonsumenten der Stichprobe. Kraus und Angustin
[10] berichten, dass die Missbrauchs- oder
Abhängigkeitsdiagnosen überwiegend bei Cannabis (mit einer viel
größeren Prävalenz) und in der Altersgruppe der 18- bis
24-Jährigen zu beobachten sind. Man kann daraus schließen, dass es
auch in Deutschland eine vielleicht kleine, aber nicht zu ignorierende Gruppe
sozial unauffälliger Konsumenten von Heroin und Kokain gibt.
Diese Schätzung der Anzahl sozial unauffälliger
Konsumenten von Heroin und Kokain in Deutschland korrespondiert mit einer
Schätzung für die Schweiz. Herrmann, Nydegger und Estermann
[11] kommen auf eine Zahl von mehr als 10 000,
das sind über ein Promille der Wohnbevölkerung.
Studien in der Allgemeinbevölkerung weisen den Nachteil auf,
dass die Repräsentativität für seltene Verhaltensmuster -
wie den Konsum harter Drogen - leicht verloren geht. Die kontrolliert
Konsumierenden haben nämlich eine höhere Wahrscheinlichkeit als die
unkontrolliert Konsumierenden, in die Stichprobe eingeschlossen zu werden. Dies
tangiert indes nicht die Schlussfolgerung, dass es
kontrollierten Konsum gibt, beeinträchtigt aber in hohem Maße eine
reliable Schätzung der Anzahl kontrollierter Konsumenten und der
Charakteristika kontrollierten Konsums. Diese Aspekte bedürfen
andersartiger Studien, von denen eine Auswahl im nächsten Kapitel
dargestellt werden soll.
Herauswachsen aus der Drogenabhängigkeit und
Rückgewinnung der Selbstkontrolle
Herauswachsen aus der Drogenabhängigkeit und
Rückgewinnung der Selbstkontrolle
Die zweite Frage bezieht sich darauf, ob kontrollierter Konsum von
Heroin und Kokain überhaupt möglich ist, ob also das entstandene
Muster abhängigen oder problematischen Verhaltens durch eigene
Anstrengungen unterbrochen werden kann und damit der problematische und/oder
häufige Konsum von Heroin und Kokain in einen schadensarmen Konsum
überführt werden kann.
Antworten können am ehesten durch die Untersuchung von Personen
gegeben werden, die dies bereits geschafft haben. Allgemein gesprochen
können zwei Arten von Studien unterschieden werden, die solche
Informationen enthalten. Da sind zum einen Follow-up-Studien von
Drogenkonsumenten, die sich zuvor in Behandlungseinrichtungen oder dem
Justizvollzug befunden haben. Zum anderen liegen Daten zu ehemals
Drogenabhängigen aus Bevölkerungsstudien vor. Aufgrund der geringen
Prävalenz von illegalem Drogenkonsum sind Letztere viel seltener. Sie
haben aber eine größere Validität, weil sie den Bias klinischer
Untersuchungsgruppen vermeiden. Beispiele für epidemiologische Studien der
gelungenen „Selbstheilung” bieten vor allem Winnick
[12], Biernacki [13] und
Klingemann [14]. Eine der einflussreichsten Studien zu
diesem Thema stammt von Lee Robins und ihren Kollegen, die amerikanische
Kriegsteilnehmer nach der Rückkehr aus Vietnam befragten
[15]
[16]. Auf diese Studie
werden wir im Folgenden detaillierter eingehen, da sie das Denken über die
Genesung von Drogenmissbrauch erheblich beeinflusst hat und weil es ein
Follow-up dieser Studie nach 25 Jahren gibt [17].
Die ursprüngliche Studie zielte darauf ab, das Ausmaß des
Substanzkonsums und die Anpassungsprobleme in das zivile Leben von Soldaten,
die in Vietnam gekämpft haben, zu erheben. Dies geschah nach einem und
nach drei Jahren nach ihrer Rückkehr aus Vietnam (1972 und 1974). Die
Ergebnisse zeigten, dass bei den Vietnamveteranen der Konsum von Heroin nicht
immer in eine Abhängigkeit geführt hat, nicht einmal in anhaltenden
Konsum. Heroinkonsum wurde vor der Ankunft in Vietnam bei 1 % der
eingeschriebenen Männer angegeben. Dieser Prozentsatz stieg auf
35 % während des Einsatzes. Robins schätzte, dass
54 % abhängig wurden, das waren 20 % aller
Soldaten. Zweifelsohne kam der Einstieg in erster Linie durch die Schrecken des
Krieges und durch die Verfügbarkeit vor Ort zustande, auch bei Personen,
die sonst nicht zum gefährdeten Personenkreis gehört hätten. Von
daher lässt es sich auch erklären, dass viele Abhängige den
Konsum beendeten, als sie nach Hause kamen. Nicht mehr als ungefähr
12 % derjenigen, die in Vietnam abhängig waren, waren drei
Jahre nach ihrer Rückkehr noch heroinabhängig [18].
Price, Risk und Spitznagel [17] erreichten
839 der Kriegsveteranen und der Nichtveteranen-Kontrollgruppe, das sind
68 %. 1996 und 1997 erhoben sie rückblickend von Jahr zu
Jahr den Konsum, den Missbrauch, die Remission sowie psychiatrische
Behandlungen. Die Ergebnisse der Studie offenbaren eindrucksvoll die
Heilungsmöglichkeiten von Drogenkonsumenten. Price und andere fassen dies
wie folgt zusammen: Es gab relativ stabile Muster von häufigem Konsum, die
Durchschnittsdauer vom ersten Konsum bis zum Nachlassen des Konsums lag
zwischen 9 und 14 Jahren. Die Mehrheit versuchte, den Konsum zu beenden, viele
nahmen bei ihren letzten Versuchen nicht mehr die traditionelle
Drogenbehandlung in Anspruch. Weniger als 9 % der laufenden
Drogenkonsumenten wurden in ambulanten oder stationären Settings
behandelt. Spontanheilung war eher die Regel als die Ausnahme. Dennoch muss
darauf hingewiesen werden, dass 10 % der Ausgangsgruppe vorzeitig
starben und dass eine beträchtliche Anzahl von Drogenkonsumenten in
irgendeiner Form der Behandlung war (obgleich von diesen nur eine Minderheit in
einer Drogenbehandlung). Von daher weisen die Autoren darauf hin, dass ein
beträchtliches Maß an Behandlungsbedarf für diejenigen weiter,
bestand. Price und andere bezweifeln, dass die langjährige Erfahrung mit
Drogenkonsum allein einen kontrollierten Gebrauch ermöglicht, da
Arbeitslosigkeit, Beziehungsprobleme, soziale Probleme und psychiatrische
Komorbidität andere Konsummuster andeuten, die den Betreffenden die
Kontrolle nicht möglich machten.
Wie oben erwähnt, gibt es inzwischen mehr Studien mit
Ex-Konsumenten. In den letzten drei Jahrzehnten wurden zahlreiche
Follow-up-Studien mit Konsumenten durchgeführt, die entweder in Behandlung
oder in Haft waren. Für mehr Informationen verweisen wir auf eine unserer
früheren Publikationen [19], in welcher wir einen
Überblick über die verfügbaren empirischen Daten geben. Diese
Sekundäranalyse präsentiert 52 empirische Einzelstudien von
Langzeitverläufen Drogenabhängiger. Bei der Auswahl dieser Studien
rekurierten wir auf fünf Reviews, die zu dieser Zeit verfügbar waren.
Diese Auswahl war angemessen, da die Reviews unter verschiedenen
Gesichtspunkten zusammengestellt waren und sich nur zu einem geringen Teil
überschnitten. Wir schlossen niederländische und deutsche Studien
ebenso ein, so dass wir die übliche Verzerrung zu Gunsten
angelsächsischer Studien vermieden, die häufig in
Überblicksartikeln vorliegt. Zunächst möchten wir die Reviews
charakterisieren:
Ladewig [20], ein Schweizer Psychiater, war
an der Selbstheilung von Opiatabhängigkeit interessiert und fasste 24
Studien zusammen, einschließlich der amerikanischen DARP-Studie. Onstein
[21], ein niederländischer Psychiater, legte sein
Hauptaugenmerk auf die Effektivität von Langzeitbehandlungen für
Opiatabhängige, die zehn oder mehr Jahre andauerten, und analysierte neun
Studien, einschließlich der von Vaillant. Swierstra [22], ein niederländischer Kriminologe, stellte eine
kritische Auswahl von 28 Studien zusammen, die sich damit beschäftigten,
Ex-Konsumenten zu finden, die unzweifelhaft abstinent von Drogen sind.
Schneider [23] erweiterte die Arbeit von Ladewig
„zur Frage von Ausstiegschancen und Selbstheilung bei
Opiatabhängigkeit” und beschränkte sich nicht nur auf
Abstinenz, sondern versuchte auch integrierten Konsum zu beobachten. Dabei kam
er auf 35 Studien. Tims [24]
[25], zu der damaligen Zeit Leiter des Treatment Services
Research Department der NIDA, berichtete über sechs breit angelegte
amerikanische Follow-up-Projekte: CAP, Phoenix House, DARP, TOPS, Methadone
Research Project und DATOS. In diesen Reviews konnten 52 Einzelstudien
identifiziert werden. Aus jeder Studie wurden die Anzahl der Befragten und die
Entwicklung im Verlauf dokumentiert.
Unter Nutzung der in den Reviews präsentierten Daten sammelten
wir alle verfügbaren Informationen, um die Prozentsätze der Befragten
in unterschiedlichen Ergebniskategorien und zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu
schätzen: Verstorbene, problematische Konsumenten (Abhängige,
missbrauchende Konsumenten) und Abstinente. Selbstverständlich geht die
Anzahl der Erreichten Personen mit zunehmender Follow-up-Dauer stark
zurück. Deshalb sollten insbesondere die 15- und 20-Jahres-Ergebnisse mit
Vorsicht betrachtet werden. Die Anzahl der eingeschlossenen Personen, die noch
nach zehn Jahren erfasst werden konnten, liegt aber immer noch über 9000.
Die Ergebnisse sind in Abb. [1] dargestellt.
Abb. 1 Langzeit-Follow-up von
Drogenkonsumenten, basierend auf einem Review von Längsschnittstudien
(nach [19]).
Was sagt uns diese Abbildung? Zunächst einmal den graduellen
Anstieg an Verstorbenen: fast 20 % nach 20 Jahren. Aber ebenso
wächst die Anzahl von Abstinenten zu jedem Follow-up: rund
20 % nach fünf Jahren, ungefähr 40 % nach
20 Jahren. Der Anteil problematischer Konsumenten verringert sich erheblich im
Laufe der Zeit. Nach 5 Jahren konsumiert noch die Hälfte der Befragten
illegale Drogen, nach 10 Jahren (und ab da konstant) sind es
20 %. Am meisten Neugier entfacht indes der Umstand, dass die
Prozentangaben sich nicht immer zu 100 % aufaddieren lassen. Es
bleibt ein Prozentanteil von 10-15 % der Personen nach
fünf Jahren und ungefähr 25 % nach zehn Jahren, die
nicht in eine der vorgegebenen Kategorien fallen. Das bedeutet, dass die
Befragten noch am Leben sind, nicht abstinent sind und, obwohl sie Drogen
konsumieren, keinen problematischen Umgang damit aufweisen. Diese Angaben
führen zu dem Schluss, dass es einem substanziellen und wachsenden Anteil
von Drogenkonsumenten gelingt, sich eine „sozial
unauffällige” Form des Drogenkonsums anzueignen. Daraus leiten wir
ab, dass nicht alle Drogenkonsumenten dazu verurteilt scheinen, eine negative
Entwicklung zu nehmen oder abstinent sein zu müssen.
Einige Mahnungen zur Vorsicht sollten allerdings von einem
methodologischen Standpunkt gemacht werden. Neben der Negativselektion aus der
Gesamtpopulation der Drogenkonsumenten, die diese Studien enthalten, haben die
Originalstudien eine Reihe von anderen Mängeln. So ist das Vorkommen von
Genesung selten das zentrale Ziel der Studien. Die Verläufe des
Drogenmissbrauchs haben einen episodischen Charakter, bei denen Zeiträume
mit (schwerem) Konsum mit anderen Zeiträumen von eingeschränktem oder
gar keinem Konsum wechseln. Die Studien differieren im Zeitraum des Follow-ups
von einem bis zu zwanzig Jahren und die Anzahl der jeweiligen Studienteilnehmer
reicht von 36 bis zu über 10 000 (TOPS). Nicht alle Studien
definieren keinen und früheren Konsum auf dieselbe Weise. Ebenso
unterscheiden sich die Indikatoren für „soziales
Funktionieren”. Tims bemerkt, dass z. B. in den siebziger Jahren
eine Arbeit zu haben ein guter Indikator dafür gewesen sei, in
späteren Jahren aber nicht mehr. Am meisten Beachtung verdient aber, dass
keine der Überblicksstudien das Thema des kontrollierten Konsums
aufgreift. Die einzige Ausnahme bietet der Review von Schneider.
Nichtsdestoweniger ermöglicht diese Zusammenstellung der
Studien der letzten vier Jahrzehnte aus den USA und Europa eine Übersicht
über Suchtverläufe von nahezu 30 000 Personen, die zum
Zeitpunkt des ersten Kontaktes drogenabhängig gewesen sind.
Art und Weisen des kontrollierten Konsums illegaler Drogen
Art und Weisen des kontrollierten Konsums illegaler Drogen
Wie kommen Drogenkonsumenten zu einer Form kontrollierten Konsums?
In diesem Abschnitt werden wir relevante Studien darstellen, die Beobachtungen
über die Art und Weise, wie Drogenkonsumenten ihren Konsum kontrollieren,
wiedergeben.
Zinberg [4] interviewte 99 kontrollierte
Konsumenten und verglich sie mit 35 so genannten zwanghaften Konsumenten. Er
war besonders davon beeindruckt, wie „drug, set and
setting” Menge, Art und Schädigungsgrad des Drogenkonsums
beeinflussen. Kontrollierter Konsum wurde definiert als
regelmäßiger, aber nicht abhängiger Konsum, bezogen auf
eindeutige Kriterien (nicht weniger als 3 Zeiträume von 4 bis 15 Tagen
Konsum, aber nicht mehr als sechs solcher Zeiträume in den letzten zwei
Jahren und nicht mehr als einen Monat Behandlung in dieser Zeit). Die
zwanghaften Konsumenten, die Kontrollgruppe, bestanden aus Personen, die mehr
konsumierten. Die Konsumenten wurden mittels einer Zeitungsanzeige und durch
ein System, das später als Schneeballsystem bekannt wurde, rekrutiert: Die
Befragten rekrutierten ihrerseits konsumierende Freunde und Bekannte. Mit allen
diesen Personen wurden vertiefte Interviews durchgeführt und mit der
Hälfte ein paar Monate später nochmals.
Was waren nun die charakteristischen Unterschiede zwischen den
kontrollierten und den zwanghaften Konsumenten? Zunächst einmal der Faktor
drug. Die Art der Einnahme unterschied die Gruppen
nicht: Intravenöse Konsumenten kamen in beiden
Gruppen vor. Die kontrollierten Konsumenten unterschieden sich von den
zwanghaften auch nicht signifikant bezüglich negativer Auswirkungen des
Drogenkonsums. Jedoch reagierten deutlich weniger kontrollierte Konsumenten auf
die negativen Konsequenzen mit erneutem Konsum. In ihren Drogenkonsummustern
gab es einen hochsignifikanten Unterschied bezüglich der Fähigkeit,
Opiate zu besitzen, ohne sie zu nehmen, also der Fähigkeit, den Konsum
aufzuschieben. Das ist umso mehr bemerkenswert, da es hinsichtlich der
Verfügbarkeit von Drogen keinen Unterschied zwischen beiden Gruppen gab.
„In short, in terms of access to opiates, the controlled and the
compulsive subjects were equally at risk in relation to losing or gaining
control over their drug use.” [4]
Beim Faktor set bezieht sich Zinberg auf
die Persönlichkeitsmerkmale der Konsumenten. Die Persönlichkeitstests
in dieser Studie zeigten nicht viele Unterschiede zwischen den beiden Gruppen,
obwohl die zwanghaften Konsumenten einen eher gestörten Blick auf die
Realität aufwiesen. Auch die Motive, Drogen zu konsumieren, unterschieden
sich nur marginal; die zwanghaften Konsumenten nutzten Drogen häufiger zur
Erleichterung, als Art der Selbstmedikation. Ein starker Unterschied der
soziodemografischen Angaben lag darin, dass die kontrollierten Konsumenten sehr
viel häufiger einen Vollzeitarbeitsplatz hatten. Die beeindruckendsten
Unterschiede aber fanden Zinberg und seine Mitarbeiter beim setting. Kontrollierte Konsumenten haben mehr Freunde und
unter diesen Freunden sind häufiger Nichtkonsumenten. Auf der anderen
Seite ist der zwanghafte Konsument vereinsamt, zum Bekanntenkreis gehören
nur Drogenkonsumierende. Die Art und Weise des Konsums im Bekanntenkreis
scheint eine hohe Bedeutung für die Art des Konsums der befragten Person
zu haben. Weiterhin scheinen die kontrollierten Konsumenten sorgfältiger
beim Konsum selbst zu sein. Signifikant mehr von ihnen verfügten über
ein set von selbst aufgestellten Regeln, die den
Konsum minimieren.
Die wesentlichen Schlussfolgerungen, die Zinberg daraus zieht, sind:
Der Drogenkonsum wird nicht nur durch die pharmakologischen Charakteristika der
Droge und durch psychologische Merkmale (Einstellung, Persönlichkeit) des
Konsumenten (set), sondern in einem hohen Ausmaß
durch Werte und Verhaltensregeln (soziale Sanktionen) und Verhaltensmuster
(soziale Rituale) bestimmt. Soziale Regeln und Sanktionen bestimmen formell und
informell, wie eine bestimmte Droge genommen werden sollte. „Nicht
betrunken Auto fahren” ist eine soziale Regel. Soziale Rituale sind
stilisierte, vorgegebene Verhaltensmuster für Drogengebrauch. Sie haben
mit der Beschaffung und der Zufuhr der Drogen, der Auswahl des räumlichen
und sozialen settings für den Konsum, den
Aktivitäten nach der Zuführung der Droge und der Vermeidung
unerwünschter Nebenwirkungen zu tun [4].
Nach Zinberg haben die Rituale von kontrollierten Konsumenten
häufig die Funktion, die Umstände, die Menge und die Art und Weise
des Konsums zu begrenzen: Konsum nur in Gemeinschaft mit anderen, nur nach
Erledigung bestimmter Aufgaben und nicht, bevor bestimmte Vorbereitungen
getroffen sind. Ähnlich wie die Rituale begrenzen häufig soziale
Sanktionen in Form von individuellen oder sozialen Regeln den Konsum: Niemals
allein konsumieren, nicht mehr Geld für Drogen ausgeben als einen
bestimmten Betrag und nicht während der Arbeit Drogen nehmen usw.
Tab. [2] gibt einen Überblick
über Selbstkontrollregeln, die Zinberg und andere Autoren herausgearbeitet
haben.
Tab. 2 Übersicht
über die Selbstkontrollregeln von Heroin- und
Kokainkonsumenten
|
Zinberg
(1984) |
Haves & Schneider
(1992) |
Cohen & Sas
(1995) |
Decorte
(2000) |
Mainline (1996;
2002) |
Konsumorte |
Niemals an unbekannten Orten |
Bewusste Setting-Gestaltung |
|
Regeln für
bestimmte Situationen, in denen man mit Anderen Spaß hat, ausgehen, Party
feiern, Leute treffen. Regeln für Nichtkonsum: nicht bei der
Arbeit oder beim Lernen, kein Konsum vor Nichtkonsumenten (besonders
Eltern und Kindern), nicht mit jeder Person |
Nicht an unbekannten Orten Nicht auf der Straße
|
Einbezogene Personen |
Niemals mit Fremden Niemals allein |
|
Mit ganz
bestimmten Personen nicht. Nicht allein |
Regeln für bestimmte Gruppen:
Familienmitglieder, Nichtkonsumenten, Konsumenten, denen man nicht
vertraut, schwere Konsumenten. Informelle Regeln über
Kontextbedingungen des Konsums können verschiedenen Zielen dienen: 1.
Drogen vor Nichtkonsumenten verbergen (sie könnten ärgerlich oder
enttäuscht sein, sie könnten die Polizei oder den Arbeitgeber
verständigen, sie müssen geschützt werden) 2. Positive Wirkungen
des Konsums maximieren. 3. Konsumrisiken (z.B. zu viel nehmen,
abhängig werden) minimieren. |
Nicht mit Fremden Nicht mit jemandem aus der
Familie Nie allein Wenn alleine, dann weniger
nehmen |
Kontakt zur
Szene |
|
Distanzierung von der öffentlichen
Drogenszene |
|
|
Nach
Konsum: weg von der Szene Von der Szene wegbleiben, wenn man nichts
nehmen will Die Eltern besuchen, um Konsum zu
vermeiden |
Gefühle |
|
|
Nicht während
Niedergeschlagenheit Nicht beim Sex Nur wenn man
ausgeht Nur aus Spaß |
Regeln, die besagen: nur bei guten Gefühlen, nie bei
schlechten |
Wenn man sich schlecht
fühlt: kein Konsum |
Konsumverhalten |
Nur
Schniefen Keine Arbeitsteilung beim Konsum „Kenne
Deinen Dealer persönlich” |
Bewusste Risikoabschätzung beim Gebrauch |
Nur eigenen Stoff Nie Kokain
kaufen Nicht konsumieren, wenn angeboten wird Nie von
Fremden Nur qualitativ hochwertiges
Kokain Regelmäßigen Kokainkonsum
vermeiden |
Einschränklungen, wo
und wie man Kokain kauft Regeln zum Testen des
Kokains Regeln über die Menge und Art der
Einnahme Regeln zur Vermeidung polizeilicher
Aufmerksamkeit |
Nie
injizieren Keine Arbeitsteilung beim Konsum Ich kaufe nur
bei meinem Dealer Nur guter Stoff Ich nehme nur vorsichtig
dosiert Keine anderen dürfen bei mir zu Hause
konsumieren Ich teile meine Drogen (und verbrauche
weniger) Lieber einmal als öfter Kein Heroin, wenn
doch: kein Kokain Stopp bei
Kontrollverlustempfinden |
Zeitplanung |
Spezielle
Planung (z. B. nur nach der Arbeit) „Plane im
Voraus” |
Kein Gebrauch auf
täglicher Basis Gebrauch nur bei bestimmten
Anlässen |
Regelmäßigen Kokainkonsum vermeiden Nicht
früher als zu einer bestimmten Tageszeit Nur wenn nichts
Wichtiges am nächsten Tag anliegt Nicht während der Arbeit
oder beim Lernen Nicht vor dem Abendessen Nicht oder nur
selten in der Woche Nie vorm Schlafen |
Regeln über die Häufigkeit des Kon-sums, über die
Höchstzahl von Einnahmen, Intervalle zwischen den
Konsumperioden |
Konsum nicht an
festen Tagen Nicht tagsüber Nicht alles auf
einmal Nicht vor Mittag Nicht mehr als zwei Tage
hintereinander Zwischendrin ein paar Tage zu Hause bleiben, Methadon
nehmen, gut essen und ausruhen Den ersten Schuss so lange wie
möglich hinauszögern |
Finanzen |
„Schaffe ein Budget für den
Konsum” |
|
Finanzielle Grenzen beim Kauf beachten Nie
mehr als eine bestimmte Summe |
Regeln, um die Finanzen für den Konsum zu
sichern |
Nicht mehr ausgeben, als
ich erübrigen kann Kein Geld, keine Drogen Keine
Prostitution oder Raub, um Geld zu beschaffen Das Geld nur an
vertrauenswürdige Leute geben Meine Mutter hat meine
Kreditkarte |
|
Zinberg
(1984) |
Haves & Schneider
(1992) |
Cohen & Sas
(1995) |
Decorte
(2000) |
Mainline (1996;
2002) |
Andere Prioritäten |
Mache vorher sauber |
|
|
Regeln über
Aktivitäten, die Vorrang haben |
Kein Konsum, wenn etwas Wichtiges am nächsten Tag
ansteht Ich mache sauber, bevor ich konsumiere Ich esse
erst Ich konsumiere nur am Wochenende Ich hebe etwas
für abends auf |
Drogenkombinationen |
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Keine parallele
Einnahme verschiedener Drogen |
Vorsichtig mit dem Alkohol während des
Kokainkonsums |
Regeln über
angemessene und unangemessene Kombinationen von Kokain mit anderen
Substanzen |
Wenn ich Cannabis,
Kokain und Heroin mische, habe ich weniger Verlangen Nach Kokain
rauche ich Joints Kokain nur nach Heroin
|
Drogeneffekte |
|
|
Bei bestimmten Gefühlen:
Stopp! |
|
Ich versuche, das Äußerste aus einer
Dosis herauszuholen
|
Einige kürzlich durchgeführte Studien aus den Niederlanden
und Belgien über Kokainkonsumenten bestätigen die allgemeinen
Aussagen Zinbergs. Cohen und Sas [26] berichten
über zwei Studien, die mittels Interviews durchgeführt wurden, und
zwar bei erfahrenen, nicht devianten Kokainkonsumenten. Die erste Gruppe von
160 Personen wurde 1987 befragt. Sie wurde durch das Schneeballprinzip
rekrutiert [27]. Als erfahrene Kokainkonsumenten
wurden Personen definiert, die in ihrem Leben mindestens 25-mal Kokain benutzt
haben. Die meisten Personen hatten mit ihrem Konsum in den siebziger Jahren
begonnen. Nach der gleichen Methode wurden 1991 108 Konsumenten befragt. In
dieser Gruppe lautete das Einschlusskriterium zehnmaliger Konsum und der
Erstgebrauch nicht vor 1986, um eine Gruppe zu haben, deren Konsumbeginn
dichter am Befragungszeitraum liegt. Nicht deviante Kokainkonsumenten wurden so
definiert, dass sie ihren Hauptlebenserwerb nicht mit Prostitution oder
Kriminalität bestreiten. Alle Rekrutierungen wurden mit Personen
außerhalb der typischen „Junkieszene” bzw. dem
Kriminellenmilieu begonnen. In Belgien veröffentliche Decorte
[28] eine Längsschnittsuntersuchung von 111
Kokainkonsumenten im Raum Antwerpen. Sein Design und seine Schlussfolgerungen
gleichen den Studien von Cohen [26]
[27].
Wie in den meisten gemeindenahen Drogenkonsum-Studien sind auch hier
die Teilnehmer aus beiden Gruppen (Amsterdam und Antwerpen) sozial gut
integriert, wenn auch keine Durchschnittsbürger. Sie sind häufig
jünger und zum größeren Teil männlich, haben eine
höhere Bildung und geringere Einkommen (aufgrund des hohen Anteils von
Studenten und Menschen, die von Sozialhilfe leben). Weiterhin haben sie weniger
Kinder als die Durchschnittsbevölkerung [28].
Cohen und Sas [26] stellen zunächst
die Ähnlichkeit in den Kokainkonsummustern in ihren Gruppen fest. Sowohl
in Bezug auf ihren Erstkonsum wie in ihrer Konsumentwicklung sind die Gruppen
von 1987 und 1991 bemerkenswert ähnlich. Die Dosierungen,
Häufigkeiten und allgemeine Höhe des Gebrauchs zeigen keine
signifikanten Unterschiede. Wie 1987 zeigte sich ein Muster starken Konsums
(i. e. mehr als 2,5 g pro Woche) bei etwa 20 % der
Konsumenten - dies schien aber kurzlebig zu sein, im Durchschnitt etwa
ein Jahr andauernd. Ebenso wie 1987 begannen die Konsumenten mit kleinen Mengen
Kokain, bewegten sich auf Zeiten mit einer Höchstmenge zu (die individuell
sehr unterschiedlich ausfiel) und kehrten zu geringeren Mengen und
Häufigkeiten zurück. Nichtsdestoweniger bezeichnen sich diese
Konsumenten selbst als „kontrollierte” Konsumenten. Die
hauptsächlichen Indikatoren des „kontrollierten Konsums”,
bezogen auf die Antwerpener Gruppe von Decorte, waren: zeitweise Abstinenz,
Kokain ablehnen können, wenn es angeboten wird, geringe Dosen und/oder
seltener Gebrauch, geringere Anstrengungen, um Kokain zu besitzen; zudem gibt
es andere Aktivitäten, die eine höhere Priorität gegenüber
dem Kokainkonsum einnehmen und positive Gründe
für den Kokainkonsum. Die meisten Befragten berichten über ein
Gefühl von Herrschaft und Kontrolle über das Mittel. Viele
Konsumenten haben einen Prozess von Kontrollverlust über die
Substanzeinnahme durchlaufen oder haben die negativen und gefährlichen
Aspekte kennen gelernt. Am Ende waren sie aber in der Lage, die Substanz
bewusster zu nehmen und zu verhindern, dass Kokain ihre Beziehungen oder
Aktivitäten mit größerer Bedeutung (Arbeit, Familie usw.)
stört [28].
Wie trainieren sie die Kontrolle? Möglicherweise trifft am
ehesten die Schlussfolgerung von Cohen und Sas [26]
zu, die besagt, dass das, was schon 1987 unter den „alten
Konsumenten” gesagt wurde, auch auf die anderen zutrifft: Sie
kontrollieren ihren Kokainverbrauch über die Erschaffung von verschiedenen
Regelsystemen. Typischerweise haben Konsumenten vorab aufgestellte Grenzen
über die Konsummenge, die sie brauchen, die Geldmenge, die sie ausgeben ,
von wem sie Drogen kaufen, in welchen settings sie Drogen konsumieren und mit
wem sie ihren Konsum gemeinsam durchführen. Außerdem neigen sie
dazu, „Risikomodelle” vor Augen haben, um ihren Konsum zu
überwachen, und sie halten spezielle emotionale Verfassungen oder
Stimmungen dem Konsum für angemessen oder unangemessen. Die Daten zeigen,
dass externe Faktoren wie geringe Verfügbarkeit oder gefahrvoller Erwerb
eine nachgeordnete Rolle spielen, für viele gar keine. Wie Tab. [2] zeigt, sehen dies die Konsumenten selbst auch so.
Decorte [28] kommt zu demselben Schluss,
dass sich viele Befragte gezielte Regeln zu eigen machen: nicht drogenbezogene
Aktivitäten, die Vorrang haben; die Menschen, mit denen man (nicht)
gemeinsam konsumieren sollte; die Höchstzahl des Konsums innerhalb einer
bestimmten Zeit; Beziehung zu Nichtkonsumenten aufrechterhalten;
Häufigkeit des Konsums; angemessene Gefühle beim Konsum; passende und
unpassende Kombinationen von Kokain mit anderen Substanzen; Applikationsform;
angemessene Dosis; wie man polizeiliche Aufmerksamkeit vermeidet; wo und wie
man Kokain kauft; wie man mit den finanziellen Folgen des Kokainkonsums umgeht;
wie man die Qualität des Stoffes prüft usw. [28]. Decorte beobachtete dabei, dass diese Regeln auch
bei einem starken Verlangen nach Kokain intakt bleiben. Er schreibt dies der
Attribuierung der Konsumenten zu, die das Verlangen als rein pharmakologisches
Charakteristikum der Droge betrachtet.
Die Konsumenten erleben durchaus viele negative Effekte und
Nachteile des Kokains, die dann auch zur Konsumeinschränkung führen.
Für die Kokainkonsumenten, die voll in die Gesellschaft integriert sind,
ist Kokain nicht mehr ein zentraler Aspekt ihres Lebens, obgleich ungefähr
30 % der Befragten angaben, eine Zeit gehabt zu haben, in der sie
vom Kokain „besessen” waren.
In deutscher Sprache gibt es mehrere Studien mit qualitativen Daten
über integrierte Konsumenten und ausgestiegene Drogenabhängige.
Meistens handelt es sich jedoch um ziemlich kleine Stichproben. Dennoch
können die Autoren die in anderen Studien gemachten Beobachtungen
bestätigen. Weber und Schneider [29] verglichen
insgesamt 60 kontrollierte Drogenkonsumenten mit Selbstaussteigern. Sie betonen
die Vielfalt von Entwicklungsmöglichkeiten, die zum kontrollierten
Gebrauch führen können. Eine direkte Anwendung von kontrolliertem
Konsum kommt vor, aber häufiger sind heterogene und zeitlich ausgedehnte
Verlaufsentwicklungen oder kontrollierte Konsumphasen bei im allgemeinem
Zwanghaft-schweren Gebrauch. Die informellen Regeln („selbst gestrickte
Faustregeln”), die Weber und Schneider notieren, sind den schon
beschriebenen ähnlich. Sie betonen dabei besonders die Strategie der
Vermeidung der offenen Drogenszene. Vielleicht ist dies ein Spezifikum der
Situation in Deutschland. Weber und Schneider schließen, dass sich die
Entwicklung zu einem autonomen kontrollierten Konsum oder zum selbst
initiierten Ausstieg nicht quasi naturwüchsig vollziehen, sondern die
Nutzung und Wirksamkeit von vorhandenen Hilfesystemen, die Antizipation
positiver Folgen und die Aktivierung vorhandener Identitätsressourcen
voraussetzen. Diese Entwicklungen sind wahrscheinlicher, je größer
Handlungsmöglichkeiten und Anknüpfungspunkte außerhalb des
drogenbezogenen Alltags sind.
Herrmann, Nydegger und Estermann [11]
befragten 17 integrierte Heroin- und Kokainkonsumierende, die sie als
„immun gegen die Erfassung durch Institutionen sozialer Kontrolle in den
Bereichen der Repression und der Medizin” umschreiben. Die Autoren
schreiben die Möglichkeit integrierten Konsums dem „Bedürfnis
nach autonomer Kontrolle und ihrer Erfahrung, ein Leben mit Drogen
gemäß den eigenen Maßstäben gestalten zu
können”, zu [11]. Sie stellten fest, dass
diese Personen in ihrem gesellschaftlich unauffälligen Konsumverhalten,
z. B. durch gegenseitige soziale Kontrolle innerhalb der Netzwerke
Drogen konsumierender Personen und durch Aufrechterhaltung der Beziehungen zu
einem nicht drogenbezogenen Umfeld unterstützt werden
[11].
Resümee
Resümee
Nach der vorgestellten Datenlage ist gut belegt, dass es im Sinne
einer medizinischen, sozialen und strafrechtlichen Unauffälligkeit
kontrolliert Heroin und Kokain konsumierende Personen gibt. Es handelt sich
dabei um eine Gruppe von Menschen mit risikobewusstem und regelorientiertem
Konsum illegaler Drogen. Ihr Konsum ist weder als Vorstufe zur Abstinenz noch
als kurze Zwischenetappe des ansonsten zwanghaften Konsums zu verstehen,
sondern als relativ stabiles, in der Regel eigenständig eingeleitetes
Gebrauchsmuster (vgl. [30]). Die Anzahl dieser
Konsumenten kann auf mindestens ein Promille der Allgemeinbevölkerung
geschätzt werden. Dies widerspricht dem verbreiteten Glauben, der Konsum
von Heroin und Kokain führte zwangsläufig zu Abhängigkeit und
schweren psychologischen und physiologischen Schäden.
Weiterhin ergibt die dargestellte Datenlage, dass nicht wenige
Süchtige nach zwanghaftem Konsum mit einhergehendem Verlust der
Konsumkontrolle zu Selbstkontrolle (zurück-)finden können.
Langfristige Follow-up-Studien legen nahe, dass dies im Laufe von zehn Jahren
bei bis zu 20 % von ursprünglich in Institutionen
behandelten Abhängigen auftreten kann, wobei sozial unauffälliger,
fortgesetzter Drogenkonsum durchaus auch mit Problemen einhergehen kann. Diese
Befunde widersprechen der These, Abhängigkeit sei unumkehrbar und eine
Normalisierung von Konsummustern nicht aus eigener Kraft erreichbar.
Diese Befunde sind wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, dass sich
Ähnliches auch für ehemals Alkoholabhängige ergibt. So fanden
Bischof und Kollegen [31] in einer
Repräsentativstudie im Lübecker Raum, dass mehr als
84 % ehemaliger „Alkoholiker” imstande waren, ein
moderates und sozial unauffälliges Trinkverhalten aufzunehmen.
Es ließ sich weiterhin herausarbeiten, dass es spezifische
Gebrauchsregeln und ihre Ritualisierung sind, die ein relativ unproblematisches
Konsummuster ermöglichen und stabilisieren. Die meisten Regeln implizieren
eine Einschränkung der Gebrauchssituation (Setting; z. B. Plätze, Mitkonsumenten etc.),
der Anzahl und Häufigkeit des Konsums, des finanziellen Aufwands und der
Nutzung ritualisierter Formen des Konsums.
Resümiert man die bisherige Forschung zum kontrollierten Konsum
illegaler Drogen, so fällt auf, dass es sich in Deutschland meist um
qualitative und im Umfang limitierte Studien handelt. Es wäre
wünschenswert, diese Datenbasis zu erweitern und vertiefende Analysen
durchzuführen. Daneben ist zu empfehlen, Items zum integrierten,
kontrollierten Drogenkonsum in die regelmäßig durchgeführten
Bevölkerungsstudien aufzunehmen.
Aus der relativ hohen Prävalenz kontrollierten Drogenkonsums
fordern manche Autoren Konsequenzen im Sinne einer Entkriminalisierung
illegaler Drogen [30]
[32].
Dies würde in der Tat die Konsumbedingungen für die kontrolliert
Drogen Gebrauchenden vereinfachen, nicht aber zwingend die Lebenssituation der
aktuell Drogenabhängigen wesentlich ändern. Zudem würde eine
weitgehende Legalisierung des Drogenkonsums vermutlich die Schwelle für
Neueinsteiger in den Drogenkonsum senken. Aufgrund der vielfältigen
gesellschaftlichen Folgen sollte deshalb in der Legalisierungsdiskussion das
Argument, dass Drogengebrauch selbstkontrolliert erfolgen kann und nicht
unbedingt zur Verelendung führt, nicht das ausschlaggebende sein.
Sicherlich können die aufgezeigten Befunde zum kontrollierten
Konsum aber direkte Konsequenzen für die Beratungs- und Hilfepraxis nach
sich ziehen. Nicht jeder Drogengebrauch ist gefährlich und nicht alle
Heroin- oder Kokainkonsumenten sind „verelendete Junkies”. Diese
Tatsache sollte bei Mitarbeitern der Drogenhilfe wie auch in der
Bevölkerung zu einem weniger voreingenommenen und entmystifizierten Denken
über dieses Thema führen. Ein offener und realistischer Blick auf die
Möglichkeit unproblematischen Konsums macht jeden, der professionell mit
Konsumenten in Kontakt kommt, glaubwürdiger und leichter zu akzeptieren.
Vielleicht ist die Tendenz bei einer Reihe von Abhängigen (speziell in
Deutschland!), Beratungsstellen und andere professionelle Hilfsangebote zu
meiden, teilweise darauf zurückzuführen, dass sie nicht das Vertrauen
haben, in ihrem zum Teil eben auch kontrollierten Konsum ernst genommen zu
werden.
Unvoreingenommene, zieloffene und motivierende Gespräche
könnten sodann eine Reihe von Konsumenten, für die die Abstinenz kein
zur Zeit erwünschtes Ziel darstellt, an ein reduziertes, kontrolliertes
Konsummuster heranführen [33]. Auch renommierte
amerikanischer Drogenforscher wie O’Brien und McLellan
[34] folgern, dass professionelle Hilfeleistung nicht
zuallererst die Absicht haben sollte, Drogenabhängige „drogenfrei
zu machen”, sondern die Motivation zu einer Änderung zu
fördern. Die Genesung Drogenabhängiger beginnt nämlich im
Regelfall nicht mit einer abrupten Entscheidung zur Abstinenz, sondern ist eher
als Prozess des Herauswachsens aus dem Drogenkonsum zu charakterisieren. In
diesem Prozess kommt „akzeptierender Drogenarbeit”
[35]
[36] eine wichtige,
bisweilen auch nur eine untergeordnete Rolle zu.
Eine Hilfe zur Anbahnung eines Schäden vermeidenden,
kontrollierten Drogenkonsums können bereits entwickelte und erprobte
Programme und schriftliche Materialien darstellen. Ein Beispiel ist das
Programm „Selbstkontrolle und der Entzug von Drogen” von Cramer
und Schippers [19], das unter Einbeziehung von
Konsumenten entwickelt worden ist [37]. Dieses
Programm baut auf der Sichtweise auf, dass Drogenkonsum nicht per se als
krankhaftes Verhalten zu betrachten ist. Es regt durch realistische,
pragmatische und nicht moralisierende Informationen über Drogenkonsum zur
Selbstveränderung an. Das Programm ist entlang der
Selbsthilfebroschüre „Der Entzugsprozess - Eine Spirale nach
oben” [38] aufgebaut. Daneben enthält es
ein Arbeitsbuch für den Konsumenten und ein Handbuch für den Berater
(in Deutschland durch die binationale Drogenfachstelle für
grenzübergreifende Zusammenarbeit [Münster] und ARCHIDO
[Bremen] vertrieben).
Auch wenn man nicht nach vollständiger Entkriminalisierung oder
Legalisierung illegaler Drogen strebt, ist es ethisch nicht länger
verantwortbar, Hilfen für Drogenabhängige und ein ganzes Hilfesystem
vom Streben nach Abstinenz abhängig zu machen. Der Forschungsstand
rechtfertigt es, auch gezielte Hilfen zum reduzierten Konsum anzubieten und auf
diesem Weg möglicherweise auch den zukünftigen (Selbst-)Ausstieg aus
dem Drogenkonsum bzw. der Drogenabhängigkeit zu fördern.