Aktuelle Neurologie 2002; 29: 35-36
DOI: 10.1055/s-2002-27810
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Die teratogenen Nebenwirkungen der Valproinsäure: Neue Testsysteme und neue Hypothesen zum möglichen molekularen Mechanismus

Teratogenic Effects of Valproate - New Systems of Testing and New Hypotheses of Possible Molecular MechanismsAlfonso  Lampen1 , Heinz  Nau1
  • 1Zentrumsabteilung Lebensmitteltoxikologie, Tierärztliche Hochschule Hannover
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Publication Date:
03 May 2002 (online)

Valproinsäure (2-n-Propylpentansäure) VPA ist eine kurzkettige, verzweigte Carbonsäure, die antikonvulsiv wirkt und als Antiepileptikum bei verschiedenen Formen der Epilepsie und seit einiger Zeit auch in der Behandlung affektiver Störungen sowie in der Migräneprophylaxe eingesetzt wird. Bei einer allgemein guten Verträglichkeit ist bei der Behandlung junger Frauen eine potenzielle Teratogenität der Subtanz zu berücksichtigen. VPA kann bei einer mütterlichen Einnahme in der frühen Schwangerschaft die Entwicklung des Fötus stören. Dann kann VPA in ca. 1 - 2 % der exponierten Föten zu Neuralrohrdefekten (Spina bifida) führen. Bei Mäuseembryonen sind ähnliche Neuralrohrdefekte mit VPA induzierbar. Bei Mäusen treten überwiegend ein fehlerhafter Verschluss des anterioren Neuralrohrs (Exenzephalie), aber auch Verschlussdefekte im posterioren Neuralrohrbereich (Spina bifida) auf. Eine Behandlung von Mäusen am 8. Tag der Tragezeit führt zu einer hohen Exenzephalierate bei den Embryonen, VPA-Behandlung am 9. Tag der Tragezeit führt zu einer hohen Rate an Spina bifida bei den Mäuseembryonen [1]. Die molekularen Zusammenhänge der Teratogenität sind nicht bekannt. VPA-Analoga mit verschiedenen teratogenen Effekten wurden synthetisiert und in vivo getestet. Es stellte sich heraus, dass die Teratogenität von bestimmten strukturellen Voraussetzungen abhängt. Die teratogene Substanz sollte eine freie Carboxylgruppe, eine Verzweigung am C-2-Atom und ein Wasserstoffatom am C-2-Atom haben.

F9-Teratokarzinomazellen (F9-Zellen) sind Zellen aus einer frühen Phase der Embryonalentwicklung der Maus; sie sind mit den multipotenten inneren Zellen des Mausblastozystenstadiums vergleichbar, und sie können in vitro bestimmte Differenzierungswege durchlaufen [2]. F9-Zellen dienen daher als Zellmodell für die Analyse des molekularen Mechanismus der Mausembryonaldifferenzierung. Die Veränderungen während der Differenzierung spiegeln Geschehnisse der frühen Embryogenese der Maus wider.

In unserer Arbeitsgruppe wurde nach Möglichkeiten gesucht, mittels eines Bioassays die teratogene Potenz von VPA und VPA-Derivaten zu bestimmen. Es wurde ein molekularer In-vitro-Bioassay entwickelt, der durch die Bestimmung der Zelldifferenzierung von embryonalen Stammzellen Aussagen über die teratogene Potenz von VPA und strukturanalogen Substanzen erlaubt [3] [4]. Eine Behandlung von embryonalen F9-Zellen der Maus mit VPA führte im Gegensatz zur Behandlung mit nicht teratogenen VPA-Derivaten (z. B. 2-Propyl-2-pentensäure) zu einer Veränderung der Zellmorphologie. Die Zellen sind polygonal und zeigen typische Merkmale einer Differenzierung. VPA induziert die Differenzierung von F9-Zellen, während nicht teratogene Substanzen wie z. B. 2-en-VPA keine Differenzierung induziert.

Es ist schon lange bekannt, dass virale Promotoren in undifferenzierten F9-Zellen reprimiert sind und in differenzierten Zellen während der Differenzierung aktiviert werden [2]. Um die Differenzierung und damit die Induktion von viralen Promotoren in F9-Zellen messen zu können, wurden zwei DNA-Konstrukte bestehend aus einem viralen Promoter mit einem Luziferasereportergen sowie einem nichtviralen Haushaltsgenpromoter (Ubiquitin C) mit einem Luziferasereportergen transient in F9-Zellen transfiziert, mit den Testsubstanzen inkubiert und anschließend die Luziferaseaktivität bestimmt. Es zeigte sich, dass VPA die virale Promoteraktivität induzierte, während der Ubiquitin-Haushaltsgen-Promoter in mit VPA behandelten wie unbehandelten Zellen aktiviert war (Abb. [1]).

Abb. 1 VPA-Behandlung induziert virale (RSV) Promoter aber nicht Haushaltsgenpromoter in F9-Zellen. Zellen wurden transient mit pRSV-Luziferase oder pUbiquitin-Luziferase-Plasmiden transfiziert, anschließend wurde mit VPA behandelt und die Luziferaseaktivität in den Zellextrakten bestimmt. Oben: Schema der verwendeten Expressionsplasmide.

VPA und VPA-Derivate, welche als teratogene Substanzen in vivo bekannt sind (z. B. S-2-Propyl-4-pentinsäure [S-4-yn-VPA]) induzierten das Reportergen unter der Kontrolle des viralen Promoters dosisabhängig, während die Expression des durch den Ubiquitin-C-Promoter kontrollierten Reportergens nicht verändert war. Es wurde ein stereoselektiver Effekt beobachtet: während das teratogene S-Enantiomer von 4-yn-VPA induzierend wirkte, zeigte das nicht teratogene R-Enantiomer von 4-yn-VPA keinerlei Induktion. Die teratogene Wirkung von VPA und den bisher untersuchten VPA-Derivaten in der Maus korreliert gut mit der spezifischen Induktion des Reportergens unter der Kontrolle des RSV-Promoters in F9-Zellen.

Fettsäuren interagieren mit nukleären Peroxisomen proliferatoraktivierende Rezeptoren (PPARs). PPARs sind nukleäre Rezeptoren, welche der Großfamilie der Steroidhormonrezeptoren angehören. Bei Säugern sind drei verschiedene Isoformen bekannt: PPARα, PPARδ und PPARγ. Die Isotypen von PPAR sind strukturell unterscheidbar, werden gewebespezifisch exprimiert und sind pharmakologisch verschieden. Während die Expression von PPARγ bzw. PPARα auf Fettgewebe bzw. Niere, Herz und Leber begrenzt ist, wird PPARδ in vielen Geweben exprimiert. Über die Funktion der einzelnen PPAR-Isoformen ist bekannt, dass die PPARα-Isoform bei Mäusen die peroxisomale β-Oxidation reguliert und PPARγ an der Regulation der Differenzierung von Adipozyten beteiligt ist. Die Funktion von PPARδ ist noch nicht klar, obwohl es Hinweise gibt, dass es in der neuronalen Entwicklung [3] sowie beim Kolonkrebs eine bedeutende Rolle spielen könnte.

Um den möglichen Wirkungsmechanismus von VPA und von den teratogenen Derivaten näher zu beschreiben, wurden CHO-Zellen stabil mit PPAR-Hybrid-Rezeptoren bestehend aus der DNA-Bindungsdomäne des menschlichen Glukokortikoidrezeptors und den verschiedenen Liganden Bindungsdomänen des PPARα, γ oder δ transfiziert. Die Aktivierung der PPAR-Hybride wurde durch die Expression des Reportergens alkalische Phosphatase bestimmt. Das Teratogen VPA und die teratogenen Derivate der VPA aktivierten das PPAR-δ-Konstrukt sehr spezifisch und stereoselektiv (Abb. [2]). Dies korrelierte gut mit den Ergebnissen des Bioassays und den In-vivo-Daten. Keine solche Korrelation wurde bei Verwendung der PPARα- und PPARγ-Konstrukte gemessen. Sowohl teratogene also auch nicht teratogene Substanzen aktivieren PPARα und PPARγ. Nur PPARδ ist in dieser frühen sensitiven Entwicklungsphase exprimiert. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass PPARδ als Sensor der teratogenen Wirkung entscheidend beteiligt ist. VPA und die teratogenen Derivate binden jedoch nicht direkt am Rezeptor, wie wir kürzlich feststellen konnten [5]. Welche Gene von VPA über die Vermittlung des PPARδ-Rezeptors aktiviert werden, wird zur Zeit intensiv untersucht. Erste Ergebnisse deuten an, dass Zelladhäsionsmoleküle wie z. B. das neuronale Zelladhäsionsmolekül (N-CAM) ein mögliches Ziel sein könnten.

Abb. 2 Aktivierung von PPARδ durch VPA und S-4-yn-VPA aber nicht durch das Stereoisomer R-4-yn-VPA. CHO-Zellen, die den PPARd-Rezeptor stabil transfiziert enthalten, wurden mit den Substanzen behandelt und anschließend die Aktivität des Reportergens, der alkalischen Phosphatase bestimmt. Bromopalmitat ist eine Positivkontrolle für PPARδ.

Literatur

  • 1 Nau H, Hauck R S, Ehlers K. Valproic acid-induced neural tube defects in mouse and human: aspects of chirality, alternative drug development, pharmacokinetics and possible mechanisms.  Pharmacol Toxicol. 1991;  69 310-321
  • 2 Sleigh M J. Differential regulation of viral and cellular genes in F9 mouse embryonal carcinoma cells.  Nucleic Acids Res. 1987;  15 9379-9395
  • 3 Lampen A, Göttlicher M, Siehler S, Nau H. New molecular in vitro bioassays for the estimation of the teratogenic potency of valproic acid derivatives: Interaction with the peroxisomal proliferator-activated receptors (PPARs).  Toxicology and Applied Pharmacology. 1999;  160 238-249
  • 4 Lampen A, Göttlicher M, Nau H. Prediction of embryotoxic effects of valproic acid-derivatives with molecular in vitro methods.  ALTEX. 2001a;  18 123-126
  • 5 Lampen A, Carlberg C, Nau H. Peroxisome proliferator-activated receptor delta is a specific sensor for teratogenic valproic acid derivatives.  Eur J Pharmacol. 2001b;  431 25-33

Dr. Dr. Alfonso Lampen

Zentrumsabteilung Lebensmitteltoxikologie · Tierärztliche Hochschule Hannover

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30173 Hannover

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