Aktuelle Neurologie 2002; 29: 6-7
DOI: 10.1055/s-2002-27796
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Prokonvulsive Effekte antikonvulsiv eingesetzter Substanzen

Epileptogenic Effects of AnticonvulsantsMartin  Holtkamp1
  • 1Neurologische Klinik und Poliklinik, Charité, Humboldt-Universität Berlin
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Publication Date:
03 May 2002 (online)

Antikonvulsiva können die entgegengesetzte Wirkung als die intendierte erzielen und reihen sich damit in eine Serie von Substanzen mit paradoxen Effekten (Prokoagulation unter Phenprocoumon, proarrhythmische Wirkung von Arrhythmika, Schmerzinduktion durch Analgetika, Agitation durch Benzodiazepine etc.) ein.

Prokonvulsive Effekte können sich klinisch einerseits in einer Zunahme der Anfallsfrequenz oder in einem intensiveren bzw. längeren Verlauf der Anfälle bis hin zu einem Status epilepticus manifestieren. Andererseits können Antikonvulsiva auch neue, bisher noch nicht aufgetretene Anfallstypen induzieren. Abgegrenzt werden müssen prokonvulsive Antiepileptikaeffekte von dem natürlichen Verlauf der Epilepsie, von einer Toleranzentwicklung gegenüber der bestehenden antiepileptischen Medikation, von prokonvulsiven Wirkungen der nicht-antiepileptischen Komedikation sowie von einer möglichen Progression einer ursächlichen Grunderkrankung. Voraussetzung für den Nachweis eines kausalen Zusammenhangs zwischen der Einnahme eines oder mehrerer Antiepileptika und prokonvulsiven Effekten sollte zumindest ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen der Neueinnahme einer Substanz und der Verschlechterung der Anfallssituation sein. Zudem sollte die Reduktion bzw. das Absetzen der inkriminierten Substanz zur vollständigen Reversibilität der Anfallsverschlechterung führen. Im Einzelfall können Patienten dem entsprechenden Präparat erneut ausgesetzt werden, um nicht fälschlicherweise auf ein effektives Antikonvulsivum verzichten zu müssen.

Welche Antikonvulsiva aggravieren welche Anfallstypen bei welchen Epilepsiesyndromen? Bei idiopathisch generalisierten Epilepsien (IGE) werden Absenzen und Myoklonien durch Carbamazepin, weniger häufig durch Phenytoin und durch die neueren GABAergen Antiepileptika Vigabatrin und Tiagabin verstärkt bzw. neu ausgelöst [1]. Gleichzeitig haben die genannten Substanzen jedoch einen antikonvulsiven Effekt hinsichtlich tonisch-klonisch generalisierter Anfälle im Rahmen von IGE. Den prokonvulsiven Effekt von Carbamazepin konnte Genton [2] bei 28 Patienten mit juveniler myoklonischer Epilepsie zeigen: 19 Patienten zeigten eine teils deutliche Zunahme der Frequenz von myoklonischen Anfällen. Bei progressiven Myoklonus-Epilepsien und bei symptomatisch generalisierten Epilepsien, wie dem Lennox-Gastaut-Syndrom (LGS), ist es wiederum das Carbamazepin, das Absenzen und Myoklonien aggraviert. Auch die GABAergen neueren Antiepileptika können diese Anfallsformen auslösen. In einer retrospektiven Untersuchung von 194 mit Vigabatrin behandelten Kindern mit schwer behandelbaren Epilepsien, viele mit einem LGS, zeigte jedes 10. Kind eine Zunahme der Anfallsfrequenz und bei jedem 5. Kind traten neue Anfallstypen auf [3]. Zudem wurde beim LGS über das Auftreten von Serien tonischer Anfälle bis hin zum Status epilepticus unter der intravenösen Applikation von Benzodiazepinen berichtet [4]. Im Rahmen symptomatischer fokaler Epilepsien konnte in einer kanadischen Patientenserie bei 15 Kindern eine Zunahme bzw. ein Neuauftreten von atypischen Absenzen, komplex-fokalen und sekundär generalisierten Anfällen durch Carbamazepin gezeigt werden [5]. Therapierefraktäre fokale Epilepsien des Erwachsenenalters scheinen insbesondere unter den neueren Antiepileptika zu aggravieren. In einer retrospektiven Analyse analysierten Elger et al. [6] bei 1000 Patienten mit fokalen Epilepsien während insgesamt 2500 Episoden eines Neueinsatzes von Add-on-Antiepileptika die potenzielle Zunahme der Anfallsfrequenz. Die neueren Antiepileptika Topiramat, Vigabatrin, Gabapentin, Lamotrigin und Oxcarbazepin waren mit einer 6 - 10 %igen Anfallszunahme führend.

Welche Mechanismen liegen den prokonvulsiven Effekten von antikonvulsiv eingesetzten Substanzen zugrunde? Hier sollen zwei Konditionen vorgestellt werden. Zum einen können spezifische Anfallstypen induziert werden; erst ein Absetzen des Präparats führt in der Regel zur Reversibilität. Zum anderen kann es zu einer unspezifischen Verschlechterung der Anfallssituation durch eine zu hohe Dosierung kommen. In diesem Fall sollte bereits eine Dosisreduktion zu einer Reversibilität führen.

Vigabatrin ist ein Beispiel für die Substanzen, die spezifische Anfallstypen auslösen oder verstärken können. Zur Veranschaulichung des neuropharmakologischen Mechanismus soll auf tierexperimentelle Untersuchungen zurückgegriffen werden. In einem Ganztiermodell der genetisch modifizierten Maus mit Absenzen (Modell der lethargischen Maus) nahmen unter der Applikation von Vigabatrin Anfallsdauer und -frequenz zu [7]. Vigabatrin hemmt das GABA abbauende Enzym GABA-Transaminase, es kommt so zu einem vermehrten GABA-Angebot und einer verstärkten GABAergen Wirkung sowohl an GABAA- als auch an GABAB-Rezeptoren. Mit dem Modell der lethargischen Maus konnten Hosdorf et al. [8] zeigen, dass durch die Applikation von GABAB-Agonisten Absenzen ausgelöst und durch die Gabe von GABAB-Antagonisten Absenzen unterbrochen werden konnten. Das Auftreten von Absenzen wird auf die Aktivierung von GABAB-Rezeptoren an thalamokortikalen Neuronen zurückgeführt. Über diesen Mechanismus führt der GABAerge Effekt von Substanzen wie Vigabatrin zur spezifischen Verschlechterung bzw. zum Neuauftreten von Absenzen.

Tiagabin soll beispielhaft für die Substanzen vorgestellt werden, die zu einer unspezifischen Verschlechterung der Anfallssituation führen können. In mehreren Kasuistiken wurde berichtet, dass meist unter einer Dosiserhöhung von Tiagabin nonkonvulsive Status epileptici aufgetreten sind [9] [10] [11] [12]. Dieser prokonvulsive Effekt trat unter der Reduktion von Tiagabin nicht mehr auf. Für solche klinischen Beobachtungen gab es zuvor schon Hinweise in experimentellen Untersuchungen. Bei epileptischen und nichtepileptischen Ratten wurde durch die Applikation von Tiagabin ein Syndrom induziert, das nach klinischen und elektroenzephalographischen Kriterien einem nonkonvulsivem Status epilepticus gleichkam [13]. In einem In-vitro-Modellsystem, in dem durch den Magnesiumentzug aus der Nährflüssigkeit spontane Entladungen ausgelöst werden, konnte Tiagabin in niedrigen Dosierungen die Entladungsfrequenz senken. In höheren Dosierungen kam es aber zu einem inversen Effekt [14]. Tiagabin erhöht über eine Hemmung des GABA-Reuptakes in Neuronen und Gliazellen das GABA-Angebot im synaptischen Spalt, wodurch der inhibitorische Effekt verstärkt wird. In höheren Dosierungen hemmt Tiagabin den neuronalen GABA-Uptake wahrscheinlich deutlich mehr als den glialen. GABA kann so vermehrt in Gliazellen aufgenommen und dort metabolisiert werden, es geht somit verloren. Ein dosisabhängiges Disäquilibrium zwischen neuronalem und glialem GABA-Uptake ist wahrscheinlich verantwortlich für ein Versagen der Inhibition und für die prokonvulsiven Effekte bei einigen Patienten.

Das Risikoprofil von Patienten, die unter Antiepileptika prokonvulsive Effekte erwarten können, umfasst: Allgemeinveränderungen im EEG, Epilepsiesyndrome, die sich mit verschiedenen Anfallstypen manifestieren, schwer behandelbare Epilepsien, geistige Behinderungen und ein jüngeres Alter [1].

Wie kann man zusammenfassend paradoxe Effekte von Antiepileptika vermeiden bzw. so früh erkennen, dass es durch rasches Reagieren nicht zu einer längeren oder schwer wiegenderen Belastung für die Patienten kommt? Anfälle und Epilepsiesyndrome müssen exakt zugeordnet werden, bei idiopathisch generalisierten Epilepsien sind Carbamazepin und die GABAerg wirkenden neueren Antiepileptika Vigabatrin und Tiagabin kontraindiziert. Identifizierte Risikopatienten sollten besonders engmaschig bei neu eingesetzten Antiepileptika bzw. Dosiserhöhungen hinsichtlich prokonvulsiver Effekte überwacht werden. Ein von den Patienten bzw. deren Angehörigen geäußertes „Unbehagen” oder eine Ablehnung eines neu eingesetzten Antiepileptikums sollten ernst genommen werden, da sich hinter diesem Unbehagen möglicherweise neu aufgetretene Absenzen verbergen, die die Patienten gar nicht als epileptische Anfälle wahrnehmen.

Letztendlich muss aber ein hinreichender Kausalzusammenhang zwischen neu eingesetzten Antiepileptika und prokonvulsiven Effekten erkennbar sein, um nicht frühzeitig und unnötig auf gut wirkende Substanzen zu verzichten.

Literatur

  • 1 Genton P. When antiepileptic drugs aggravate epilepsy.  Brain Dev. 2000;  22 75-80
  • 2 Genton P. Do carbamazepine and phenytoin aggravate juvenile myoclonic epilepsy?.  Neurology. 2000;  55 1106-1109
  • 3 Lortie A, Chiron C, Mumford J, Dulac O. The potential for increasing seizure frequency, relapse, and appearance of new seizure types with vigabatrin.  Neurology. 1993;  43, Suppl 5 S24-S27
  • 4 Tassinari C A, Dravet C, Roger J. et al . Tonic status epilepticus precipitated by intravenous benzodiazepine in five patients with Lennox-Gastaut syndrome.  Epilepsia. 1972;  13 421-435
  • 5 Snead O C, Hosey L C. Exacerbation of seizures in children by carbamazepine.  N Engl J Med. 1985;  313 916-921
  • 6 Elger C E, Bauer J, Scherrmann J, Widman G. Aggravation of focal epileptic seizures by antiepileptic drugs.  Epilepsia. 1998;  39, Suppl 3 15-18
  • 7 Hosford D A, Wang Y. Utility of the lethargic (lh/lh) mouse model of absence seizures in predicting the effects of lamotrigine, vigabatrin, tiagabine, gabapentin, and topiramate against human absence seizures.  Epilepsia. 1997;  38 408-414
  • 8 Hosford D A, Clark S, Cao Z. et al . The role of GABAB receptor activation in absence seizures of lethargic (lh/lh) mice.  Science. 1992;  257 398-401
  • 9 Schapel G, Chadwick D. Tiagabine and non-convulsive status epilepticus.  Seizure. 1996;  5 153-156
  • 10 Eckhardt K M, Steinhoff B J. Nonconvulsive status epilepticus in two patients receiving tiagabine treatment.  Epilepsia. 1998;  39 671-674
  • 11 Holtkamp M, Buchheim K, Pfeiffer M, Meierkord H. Tiagabin und nonkonvulsiver Status epilepticus.  Nervenarzt. 1999;  70 1104-1106
  • 12 Knake S, Hamer H M, Schomburg U. et al . Tiagabine-induced absence status in idiopathic generalized epilepsy.  Seizure. 1999;  8 314-317
  • 13 Walton N Y, Gunawan S, Treiman D M. Treatment of experimental status epilepticus with the GABA uptake inhibitor, tiagabine.  Epilepsy Res. 1994;  19 237-244
  • 14 Pfeiffer M, Draguhn A, Meierkord H, Heinemann U. Effects of γ-aminobutyric acid (GABA) agonists and GABA uptake inhibitors on pharmacosensitive and pharmacoresistant epileptiform activity in vitro.  Br J Pharmacol. 1996;  119 569-577

Dr. med. Martin Holtkamp

Neurologische Klinik und Poliklinik · Charité · Humboldt-Universität Berlin

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13353 Berlin

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