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DOI: 10.1055/s-2002-20389
Anästhesist und Phylogenese -
was lehrt uns die Biologie?
Anesthesiologist and Phylogenesis - What are the Conclusions Based on Biology?
Publication History
Publication Date:
26 February 2002 (online)

Es ist nicht ohne weiteres einsehbar, warum ein Anästhesist sich mit einem Spezialfach
der Biologie, hier der Phylogenese oder Entwicklungsgeschichte, beschäftigen sollte.
Und doch enthält dieses Heft der „ains” in der neuen Rubrik „Aktuelle Medizin und
Forschung” einen Beitrag (R. Lindner: „Phylogenese des Immunsystems”), der sich mit
der Entwicklungsgeschichte anästhesierelevanter Organsysteme befasst. Dieses Thema
soll in loser Folge mit der Darstellung anderer Organsysteme weiter vertieft werden.
Dabei kann es kaum um unmittelbare klinische Nutzanwendungen gehen - wenn aber die
Anästhesiologie als angewandte Physiologie, Pathophysiologie und Pharmakologie verstanden
wird, lohnt sich diese Weitung des Horizonts durchaus. Es geht um eine vertiefte medizinische
Allgemeinbildung im besten Sinne, um die Freude und die Teilhabe am Wissen anderer
Disziplinen, was zum einen nicht schaden kann, und zum anderen sehr wohl auch fachliche
Perspektiven eröffnet.
Als Beispiel sei ein Oligopeptid genannt, das aus lediglich neun Aminosäuren besteht
und nach seiner Synthese im Hypothalamus in der Neurohypophyse freigesetzt wird. Dieses
als Antidiuretisches Hormon (ADH) bezeichnete Hormon ist schon bei den frühesten Trägern
eines Nervensystems, den Nesseltieren, nachweisbar, die jedoch nicht über eine Niere
verfügen. Es steht beispielhaft für gemeinsame Urformen bestimmter Neuropeptide, die
sich entwicklungsgeschichtlich etwa 450 Millionen Jahre zurückverfolgen lassen. Während
dem ADH beim Menschen gemeinhin die Rückresorption von freiem Wasser im distalen Nephron
und damit die Konstanthaltung des osmotischen Drucks der Körperflüssigkeiten zugeordnet
wird, und dem Anästhesisten iatrogene Mangelzustände mit Diabetes insipidus bei und
nach neurochirurgischen Eingriffen durchaus geläufig sind, sind darüber hinaus gehende
Effekte weniger bekannt. So zielt die Freisetzung von ADH im Stresszustand auf die
rasche Konservierung der Wasserbestände des Organismus, und höhere Konzentrationen
führen zur Vasokonstriktion, die der Substanz den Zweitnamen Vasopressin eingetragen
hat. Bei beeinträchtigter sympathoadrenerger Reaktionsfähigkeit, etwa bei einer Spinalanästhesie,
kann ADH damit als Reservesystem zur Blutdruckstabilisierung dienen. Damit nicht genug
- Analoga des Vasopressin setzen den Gerinnungsfaktor VIII sowie von-Willebrand-Faktor
frei und tragen wesentlich zur Thrombozytenaggregation bei. Bei bestimmten Thrombozytopathien
stehen sie in täglicher Anwendung. Als weiteres Beispiel kann das Adrenocorticotrope
Hormon (ACTH) der Adenohypophyse dienen, das in der Nebennierenrinde die Synthese
und Freisetzung von Cortisol stimuliert. Die ACTH-Vorstufe Prooopiomelanocortin (POMC)
enthält neben der Aminosäurensequenz des ACTH auch die von β-Endorphin und von Melanozyten-stimulierendem
Hormon (MSH), so dass hier eine Verbindung zur zentralen Schmerzverarbeitung anzunehmen
ist.
Diese beiden Beispiele sollen genügen, um das Interesse an der Biologie und damit
an der Grundlagenwissenschaft vom Leben zu wecken, die sehr wohl zu einem vertieften
Verständnis unserer täglichen Arbeit beitragen kann. Die Schriftleitung ist für weitere
Anregungen zu diesem Thema dankbar.
H. A. Adams, G. Gros, Hannover
Prof. Dr. med. H. A. Adams
Zentrum Anästhesiologie
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
Email: adams.ha@mh-hannover.de