Einleitung
Gewöhnlich handelt es sich bei artefiziellen Störungen um eine Ausschlussdiagnose,
die erst nach gewissenhafter organmedizinischer Abklärung gestellt werden darf. Über
ihre Häufigkeit im Krankengut gibt es nur Schätzungen [7]. Die Diagnose zu stellen ist schwierig, ein Rest Unsicherheit bleibt vielleicht
bestehen,und aufgrund der manchmal mühevollen Arzt-Patient-Beziehung beschränkt man
sich allzu gerne auf die Linderung reinsomatoformer Störungen. Die nachfolgende Kasuistik
aus dem eigenen Patientengut soll dieses Krankheitsbild näher erläutern.
Kasuistik
Anamnese
Der 36-jährige Mann stellt sich seit über einem Jahr regelmäßig in der Poliklinik
vor. Seine chronischen Hautveränderungen begannen 1997 und bestehen seither fort,
dabei liegt ein wechselhafter, überwiegend therapierefraktärer Verlauf vor. Seit 1997
besucht er regelmäßig die Ambulanzen zweier dermatologischer Polikliniken und wurde
einmal konsiliarisch in der Ambulanz einer Universitäts-Hautklinik vorgestellt (Abb.
[1]).
Je nach Aspekt und Ausdehnung des Hautbefunds ist dabei von oberflächlichen Erosionen,
Pyodermie unklarer Genese, Acne excoriée oder diskoidem Lupus erythematodes die Rede.
Zahlreiche Erregerabstriche und aufwändige bakteriologische Untersuchungen stehen
einer nur einmal durchgeführten Probeentnahme gegenüber. Unterschiedliche systemische
und topische Therapien, u. a. Antibiotika, Antiseptika, Isotretinoin und Dapson, führen
langfristig zu keiner Abheilung, obwohl der Patient die therapeutischen Maßnahmen
bereitwillig und scheinbar zuverlässig durchführt. Der Patient arbeitet seit über
einem Jahr als Assistent in einem pharmazeutischen Labor. Den Ursachen seiner Erkrankung
steht er ratlos gegenüber, gelegentlich beschuldigt er die angebliche Exposition von
„giftigen Dämpfen” im Labor als Auslöser.
Hautbefund
Zentrofazial, auf Stirn und Glabella, am Nasenrücken und Nasenabhang imponieren flächenhafte
nicht juckende Erosionen, die zum jeweiligen Randbereich hin oberflächlicher werden.
Abgeheilte Areale, die teilweise leicht vernarben, wechseln ständig mit neuen Läsionen.
Das übrige Integument ist erscheinungsfrei. Dermographismus ruber (Abb. [2]).
Histologie vom Nasenrücken Oktober 1996[1]
Unauffällig konfigurierte Epidermis, leichte follikuläre Hyperkeratose, im oberen
Corium leichte Fibroplasie, einige ektatisch erweiterte Gefäße sowie angeschnittene
Talgdrüsenhyperplasie. Am ehesten fibröse Nasenpapel.
Bakteriologische Diagnostik
Überwiegend Micrococcus spp. und E. coli.
Therapie und Verlauf
Der überdimensionale Umfang seiner Krankenakte und die ausführliche Dokumentation
stehen im Widerspruch zur scheinbaren Harmlosigkeit der vermuteten Erkrankung. Der
Wechsel der inzwischen zahlreich verdächtigen Diagnosen findet gewöhnlich dann statt,
wenn sich die aktuelle Therapie in ihrem Verlauf als wirkungslos erweist.
Im Rahmen einer im Jahre 2000 vom Patienten gewünschten Laserkorrektur abgeheilter
und oberflächlich vernarbter Areale kommt es durch den postoperativ aufgebrachten
Okklusivverband zur raschen Abheilung der Erosionen. Die restlichen Herde heilen unter
hydrokolloidalen Wundauflagen ab, daneben entstehen in nicht abgedeckten Abschnitten
des Gesichts neue Läsionen.
Im Rahmen der nun folgenden ärztlichen Gespräche äußert der Patient stets den Wunsch
nach umfassender organmedizinischer Abklärung seiner Hautveränderungen. Jede Form
des Eigenverschuldens an der Entstehung seiner Läsionen im Gesicht lehnt er ab. Lenkt
man das Gespräch von den Hautveränderungen ab auf andere Probleme in seinem Alltag,
berichtet er von zahlreichen inneren Konflikten und psychosozialem Stress sowohl im
Privatleben als auch am Arbeitsplatz. Völlig unerklärlich ist ihm die Tatsache, dass
er gelegentlich am Morgen von seinem Gesicht mechanisch abgelöste Wundauflagen neben
sich im Bett vorfindet. Lediglich unter dem Aspekt, unter einer ihn psychisch belastenden
„Hautkrankheit” zu leiden, wird er dazu gebracht, ein Gespräch mit einem Psychologen
zu führen.
Psychologischer Aufnahmebefund
Die Hautveränderungen treten vermehrt nach 1996 auf, dem Jahr der Trennung von der
Lebensgefährtin und von dem gemeinsamen Kind. Frühe Interaktionsstörung in der Mutter-Kind-Beziehung
u. a. bedingt durch die Geschwisterreihenfolge. In den psychologischen Tests zum Persönlichkeitsprofil
zeigt sich bei ihm eine starke Diskrepanz zwischen verbalem und nonverbalem Ausdruckserleben
und eine geringe Diskriminationsfähigkeit im emotionalen Ausdruckserleben bei sich
und in der Interaktion und die Unfähigkeit, eigene Gefühle angemessen zu spiegeln
(Alexithymie).
Seine Borderline-Beziehungsanteile äußern sich in Kontaktschwäche, Aggressionshemmung
und tiefgreifenden dynamischen Ich-Destabilitäten. Insbesondere in (den häufigen)
Phasen psychosozialer Konflikte kommt es zu einem Aufblühen der Hautveränderungen.
Nach interdisziplinärer Beratung wird die Diagnose Dermatitis artefacta bei zugrunde
liegender Borderline-Störung gestellt. Eine Psychotherapie auf der Grundlage einer
Verhaltenstherapie wird eingeleitet und später durch eine analytische Gruppentherapie
erweitert. Gelegentliche aber regelmäßige Konsultationen des Dermatologen auf dem
Boden einer empathischen Arzt-Patient-Beziehung dienen der Beurteilung des Ausmaßes
der Hautveränderungen und des Therapieerfolgs. Nach einem halben Jahr kommt es allmählich
zu einem dauerhaften Rückgang der Läsionen.
Diskussion
Artifiziellen Läsionen liegen unterschiedliche psychopathologische Ursachen zugrunde
(Tab. [1]). Bei Dermatitis artefacta fügen sich die Betroffenen bewusst oder unbewusst Selbstbeschädigungen
zu, um ein psychisches Bedürfnis zu befriedigen und Zuwendung zu erfahren. Gelegentlich
werden sich die Patienten ihrer selbstbeschädigenden Aktivität bewusst, häufig jedoch
findet sie unkontrolliert und unbewusst statt. Gewöhnlich weisen die Betroffenen jegliche
Form des Eigenverschuldens von sich. Die Diagnose fügt sich dem Arzt aus bestimmten
Beobachtungen zusammen. Überdurchschnittlich häufig arbeiten die Patienten in Gesundheitsberufen.
Sie haben bereits zahlreiche Spezialisten konsultiert, führen eine dicke Krankenakte
angefüllt mit Normalbefunden und haben unzählige systemisch oder topisch wirksame
Medikamente angewendet, die bislang allesamt nicht geholfen haben. Die sich selbst
zugefügten Läsionen können in Form und Umfang sehr differenzieren, selbst einstmals
bestandene Hautkrankheiten treten wieder auf oder werden nachgeahmt. Trotz grenzenloser
Vielfalt in den Methoden sich zu beschädigen, ist den Patienten Ursache und Entstehung
ihrer Hautveränderungen ein völliges Rätsel. Während Außenstehende oder Dritte die
Läsionen und Hautveränderungen als entstellend oder schmerzbringend empfinden, zeigen
sich die Betroffenen davon weniger beeindruckt [4]
[5] (Tab. [2]).
Die überwiegende Zahl der Betroffenen leidet an einer Borderline-Störung. Deren Ursache
kann im Fehlen emotionaler Zuwendung im Säuglingsalter und in regelmäßiger Erfahrung
physischen oder sexuellen Missbrauchs liegen. Die emotionale Leere und das fehlende
Ausdruckserleben münden in Depression und schwachen Impulskontrolle, zwischenmenschliche
Beziehungen erhalten einen manipulativen Charakter. Die inneren Spannungen der Patienten
werden durch Akte der Selbstbeschädigung erleichtert. Die Krankenrolle gewährleistet
Abhängigkeit und Versorgung insbesondere während stressreicher Lebenssituationen,
die Hautläsionen stellen personelle und sexuelle Identität her, an Stelle von Leere
und Depression treten Stimulation und Manipulation. Die verständliche Sorge des Arztes,
bei dem Patienten eine organische Erkrankung zu übersehen, sowie das Drängen und die
hohe Bereitschaft des Patienten, an jeglicher Diagnostik und Therapie offenbar motiviert
teilzunehmen, münden in fortwährende Beanspruchung medizinischer Leistungen [2]
[6]
[9].
Bei dem geschilderten Fall traten die Läsionen zeitlich gesehen nach dem Zusammenbruch
seiner bisherigen sozialen Beziehungen auf. Im Sinne der Pathomimikry arbeiteten die
behandelnden Ärzte im Laufe der Jahre alle möglichen Differenzialdiagnosen diagnostisch
und therapeutisch ab [1].
Auf der Suche nach einem geeigneten therapeutischen Ansatz dienen Okklusivverbände
der Diagnostik aber nicht der Heilung. Externa, Umschläge, blande Salben und hautpflegende
Maßnahmen können zunächst den emotional besetzten Manipulationsdruck lindern. Die
unmittelbare Konfrontation und die Anschuldigung der Selbstbeschädigung führen meist
dazu, dass die Liste der erfolglos konsultierten Ärzte um einen weiteren Namen verlängert
wird. Eine erfolgreiche Annäherung an Betroffene gelingt nur in einem Klima der Empathie
und Unterstützung. Dazu dienen mehrere, möglichst kurzdauernde Kontakte, in denen
der Arzt auch etwas über die Lebensgeschichte des Patienten erfährt. Diese Gespräche
lenken allmählich auf die psychosomatische Entstehung der Hautveränderungen, und manchmal
gelingt es, den Patienten einer geeigneten Psychotherapie zuzuführen [3]
[8].
Das Besondere an der geschilderten Kasuistik ist die Tatsache, dass der Patient zu
einer psychotherapeutischen Intervention bereit und motiviert war. In vielen Fällen
hingegen gelingt zwar keine Heilung, wohl aber eine unterstützende und empathische
Führung des Patienten, die seine selbstbeschädigenden Handlungen eingrenzen hilft
[4].
Tab. 1 Klassifikation artefizieller Läsionen
1. |
Simulation |
Bewusst zugefügte Selbstbeschädigung, bewussten sekundären Gewinns wegen |
2. |
Hypochondrie |
Bewusst zugefügte Selbstbeschädigung, die eine irrtümlich angenommene Störung beheben
soll |
3. |
Obsessionen, Zwangsimpulse |
Ständig wiederholende Handlung mit selbstbeschädigender Tendenz wie Kratzen, Reiben,
Haare zupfen … |
4. |
Dermatitis artefacta |
Bewusst oder unbewusst zugefügte Läsionen zur Befriedigung unbewusster Bedürfnisse |
5. |
Münchhausen-Syndrom (i. S. artefizieller Läsionen) |
Ständig wiederholte Methoden der Selbstbeschädigung, um ein unbewusstes Bedürfnis
zu befriedigen |
Tab. 2 Diagnostische Kriterien Dermatitis artefacta
- Frauen > Männer |
- Betroffene häufig in Gesundheitsberufen tätig |
- Ungewöhnliche, in sich widersprüchliche Anamnese |
- Vielzahl an diagnostischen Befunden, darunter zumeist Normalbefunde |
- Völlige Wirkungslosigkeit jeglicher bisheriger Therapie |
- Trotz zahlreich konsultierter Spezialisten ist die Entstehung der Läsionen den Betroffenen
völlig unklar |
- Drängen auf organmedizinische Abklärung, dabei forderndes und manipulatives Auftreten |
- Diskrepanz zwischen Aspekt des Hautbefundes und subjektivem Beschwerdebild |
Abb. 1 Oberflächliche, zu den Randbereichen hin abflachende Erosionen an Stirn und Nasenrücken.
Hautbefund 1999.
Abb. 2 Weitgehend unveränderter Hautbefund, wenige Wochen vor Beginn einer Psychotherapie
im Frühjahr 2001.