Balint Journal 2001; 2(3): 66-68
DOI: 10.1055/s-2001-17314
Original

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Beziehungsdiagnostik und Therapie im Sinne M. Balint’s

Boris Luban-Plozza
  • Ascona, Schweiz
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Publikationsdatum:
20. September 2001 (online)

Seit 40 Jahren versuchen wir bei der Fortbildung mitzuhelfen. Damals hatten wir Michael Balint nach Grono, wo ich Landarzt war, eingeladen. Es war die Begegnung mit dem Maestro und ein neuer Weg der Änderung.

Sich nicht mehr in Treue zu sich selbst verändern können ist ein Zeichen des Veraltens; denn man bleibt nicht was man ist. Wenn der lebendige Gesichtsausdruck sich verliert und in eine Maskenhaftigkeit erstarrt, dann ist Lebendigkeit verlorengegangen. Einige Berufe bieten den Vorteil, dass sich die Persönlichkeitsentwicklung des Berufstätigen ein Leben lang vollziehen kann, da wo die Treue zu seiner Aufgabe und die Treue zu sich selbst eins sind. Zu diesen Berufen gehören die medizinischen; die Persönlichkeitsentwicklung des Mediziners kann zum bewussten Lebensinhalt werden.

Wir kennen die Überlegungen von Ärzten, es gäbe gewissermaßen eine beste Art, Arzt zu sein: von einem selbst verkörpert oder doch unablässig anstrebend. W. L. Furrer schreibt: „Das Ideal: kein Ideal“.

Die Balint-Gruppe ist nach unserer Erfahrung der geeigneteste Ort, um ein solches, einengendes Vorurteil abzubauen. „In der über Monate und Jahre erlebten, ganz konkreten Erfahrung der außerordentlich vielfältigen Möglichkeiten, wie verschiedene Menschen praktizieren und qualifizierte ärztliche Arbeit leisten können, eröffnet dem einzelnen Teilnehmer auch für sich selber neue Aspekte des Arztseins. Aus der Begegnung in der Gruppe mit dem Anderssein der verschiedenen Mitglieder kann sich allmählich ein Geist von Toleranz, Loyalität und kollegialer Gesinnung entwickeln. Und wenn dieser Geist zur Gewohnheit, ja zur zweiten Natur des Arztes wird, so darf man mit Fug und Recht sagen, es handle sich um eine gute Gewohnheit.“

Die relationelle Perspektive ist eine offene Sicht für die Wirkungen der zwischenmenschlichen Beziehungen. Es gilt, die Ängste des Patienten zu erkennen und anzuerkennen, weder sie zu leugnen, noch in Befürchtungen umzuwandeln. Die Hilfe des Arztes wird darin bestehen, die einengende Angst, in welcher der Patient krank geworden ist, wahrzunehmen sowie zu erkennen, was einer Lösung im Wege steht.

Im Umgang mit Schmerz und Leid kann all dies als Integration ausschlaggebend werden. Verstandener Schmerz ist halbes Leid. Es geht um die Schmerzen des Patienten und auch um die Schmerzen des Arztes; es geht wieder um die Sprache des Patienten oder seine Sprachlosigkeit. Das Bild des Menschen als Schlüssel zum Verständnis von Schmerz und Leid erinnert uns daran; der Mensch hat nicht eine Krankheit, der ganze Mensch ist krank.

Das Allgemeingültige unserer Hilfe ist nach A. Trenkel das strukturelle Element der dialogischen Beziehung mit einem lebendigen, zwischenmenschlichen Austausch; dies sogar, wenn sich das entscheidende Geschehen vorwiegend im körperlichen Bereich ereignet.

Wenn wir die Arzt-Patienten-Beziehung als Angebot des Kranken an seinen Arzt und als Gegenangebot des Arztes an seinen Patienten formulieren, so ist darin bereits ein Verständnis für Symptom und Krankheit enthalten. Die Bedeutung der emotionalen Beziehung des Arztes zum Patienten kommt im Arbeitsbündnis, in der Allianz zwischen Arzt und Patient zum Ausdruck. Erstaunlich ist, wie etwa Kollegen, die noch nie etwas von Balint-Arbeit gehört haben oder auch Studenten bei Kranken sehr schnell Situationen erfassen können, die wir - alte Hasen - nur mit Mühe erklären können. Es muss etwas mit der Sensibilisierung für Gefühle zu tun haben, die wir immer wieder zu beleben versuchen; ist es vielleicht die besondere Persönlichkeit?; gibt es eine animanaturaliter psychotherapeutica?

Das Konzept der Hemmung von Emotionen hat in der Psychosomatik eine lange Tradition: Nemiah und Sifneos (USA, 1970) haben für die Unfähigkeit, eigene Gefühle wahrnehmen und ausdrücken zu können, den Begriff „Alexithymie“ geprägt. Es ist nicht nur die Sprachlosigkeit des Patienten; es gibt auch eine Sprachlosigkeit des Arztes: der alexithymische Therapeut. Ganz besonders geht es immer um die Sprache.

Wenn wir uns um das lebendige in der Arzt-Patient-Beziehung bemühen, so geht es zunächst überhaupt um die Art dieser Beziehung. Das Geheimnis scheint im konsensuellen Bereich zu liegen, oder wie Martin Buber es formuliert hat, in der „Sphäre des Zwischen“. Damit aber ändert sich die Perspektive des Arztes vollständig, der ursprünglich schulmäßig auf die Krankheit und ihre Ursachen ausgerichtet bleibt.

Ob daraus neue Strukturen, neues Leben, neue Lebendigkeit für sich selbst entwickelt werden können, bleibt offen; offen bleibt auch, wer von beiden - ob Arzt, ob Patient - in diesem Prozess mehr lernt, da beide unweigerlich mit der Herstellung eines konsensuellen Bereiches sowohl zum Sender, als auch zum Empfänger werden.

Der Roman von Jeremias Gotthelf „Wie Anne Bäbi Jowäger haushaltet und wie es ihm beim Doktern geht“, entstand in den Jahren 1943 - 1944 im Auftrage der bernischen Sanitätskommission als eine Schrift gegen die Quacksalberei. Hier scheint sich Meyeli - unbewusst - aufzuopfern, bis Doktor Ruedi, selbst vom Tode gezeichnet, mit Jakobli ein ernstes Wort spricht; der Arzt - obwohl nicht religiös im landläufigen Sinne - widmet sich ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit schrankenlos dem Nächsten: er war Sorge und Hingabe für alles und alle; ein Partner, der auch begleiten und trösten könnte. Er verwirklichte damit sich selbst im Christentum der Tat.

Die erste Leistung des Arztes, der sich Gedanken über seine Arbeit macht, ist heutzutage noch immer ein Balance-Akt, der anscheinend Balint damals gelungen ist, als er seinem ersten wegweisenden Buch den Titel gab: „Der Arzt, sein Patient und die Krankheit“. Das Problem ist nach wie vor: Wie gelingt es uns, aufgrund unseres medizinischen Hochschulwissens und mancher praktischer Erfahrung, die Krankheit eines Patienten erst einmal zu vergessen, auch wenn sie uns schon an der Tür überfallen will, ihr Träger am liebsten anonym bleibt und der Arzt, der mit beiden zu tun hat, anscheinend selbstlos zurücktritt und seine Verdienste schwer zu beziffern sind.

Bei dem Balance-Akt stellen wir erst einmal alles auf den Kopf. Die Krankheit, die der Patient dem Arzt anbietet, wird weniger beachtet als seine Person. Die Beziehung, die sich zwischen Arzt und Patient anbahnt, ist überaus wichtig für die Diagnose.

Subjektivität? - Stimmt. Die Parodoxie des Lebens ist jedoch nur ein Durchgang zu einer neuen, menschlicheren Realität.

Es sind drei Phasen, eine nonverbale, eine verbale und eine handelnde, die hier etwas künstlich auseinandergehalten werden, um sie besser zu unterscheiden. Im täglichen Geschehen sind es meist Augenblicke. Es ist der schwer zu beschreibende Kontakt, wenn Arzt und Patient aufeinander zukommen. Ihre Gesten, Blicke und Bewegungen treffen sich. Der erste Eindruck ist oft entscheidend, sagt man. Der Arzt lässt den Patienten auf sich wirken und wählt nach einer Weile aus, was ihn am deutlichsten anspricht. An Stelle der eingebürgerten Frage: „Wie geht es Ihnen?“ sagt er vielleicht, was er wahrgenommen hat: „Ich habe den Eindruck, dass . . .“. Neugier und Erstaunen auf Seiten des Patienten, manchmal auch die Frage: „Wie kommen Sie darauf?“ Dabei hat der Arzt nur genau hingesehen.

Wenn in dieser Phase der Patient sich angesehen fühlt und der Arzt etwas Positives von seiner Wahrnehmung gesagt hat, kann es auch Ablehnung und Verneinung geben. Auf alle Fälle sind beide in einem offenen Gespräch und es kommt seltener zu einem zeitraubenden Versteckspiel.

Aus diesem Gespräch und seinen sachlichen Informationen, die vom Patienten auch meist erst gegeben werden, wenn vorher ein - wenn auch ganz kurzer - affektiver Kontakt zustande kam, folgt für den Arzt der handelnde Teil, mit dem manche Kollegen beginnen, wenn sie schon am Anfag fragen: „Was kann ich für Sie tun?“

Der Arzt, der die Balance zwischen sich selbst, dem Patienten und der Krankheit ebenso wie die drei Phasen seiner Konsultation, nonverbal, verbal und handelnd, mehr und mehr im Sinn behält, wird nicht leicht das Gleichgewicht verlieren, weder im Hinblick auf die Zeit, die er zur Verfügung hat, noch im Hinblick auf die Diagnose, die sich in immer neuen Facetten verdeutlicht.

Auch in Fällen, wo es für den Arzt schnell zu handeln heißt, geht dem im besten Fall Wahrnehmung und Besinnung voraus. So viel Zeit ist nicht immer leicht zu gewinnen. Nun gibt es bei aller Kunst des Arztes, die Begegnung mit seinen Patienten für beide Teile erfreulich zu gestalten, Fälle, wo das missglückt.

Aus einer Balint-Gruppe:

Ich vergegenwärtige mir eine Begegnung mit einem Patienten, der mich aus der Fassung gebracht hat. Ich wüsste heute noch nicht sicher, warum ich mit ihm in ein Streitgespräch geraten, grundsätzlich und diktatorisch geworden bin, wenn ich die Geschichte nicht in allen Einzelheiten in einer Balint-Gruppe vorgetragen hätte. Die triumphierende Feststellung des Patienten: „Nicht wahr, ich gehe Ihnen auf die Nerven“, war nur zu wahr. Das überraschende Resultat der Gruppe war für mich, dass meine emotional negativ getönte Wahrnehmung des Patienten von der Gruppe keineswegs bestätigt wurde, dass die Teilnehmer im Gegenteil sehr positive Seiten an ihm entdeckten. In seinem Widerspruchsgeist, der mich voll getroffen hatte, lag für ihn eine Überlebenschance, um vor der Umwelt nicht zur Bedeutungslosigkeit verurteilt zu werden. Seinen Widerstand brechen, hieß ihn entmachten und noch mehr krank machen.

Nach dieser Gruppe fand ich einen neuen Zugang zu dem Patienten. Ich kann im Einzelnen nicht sagen, was ich anders gemacht habe. Meine Einstellung zu ihm war verändert und ich habe erfahren, dass tatsächlich eine begrenzte Veränderung meiner selbst möglich ist. Das Interesse an der Vielzahl der personalen Ausprägungen einer Krankheit ist größer geworden, die Aufmerksamkeit wacher und dabei der zeitliche Aufwand geringer. Allerdings brauche ich nach der Arbeit, die intensiver geworden ist, auch ähnlich intensive Erholungsphasen.

Die Frage der Entspannung ist gegenwärtig für den Arzt wichtiger denn je geworden, da für seine Arbeit schon viel gewonnen ist, wenn sie in entsprechender Atmosphäre vor sich geht. Zwischen Arbeitsüberlastung mit Angst und Ehrgeiz um Posten und Prestige auf der einen Seite und Arbeitslosigkeit mit Langeweile und Ersatzbefriedigung auf der anderen, steht der Arzt Anforderungen gegenüber, denen er kaum alleine gewachsen ist. Die Gemeinschafts-Praxis, oder ein Ärzte-Team in den Kliniken ist da oft hilfreich. Die Ärzte-Gruppen, wie sie Balint inauguriert hat, geben dem Arzt in seiner Arbeit eine tiefere, den heutigen Anforderungen entsprechende Hilfe zur Selbsthilfe an die Hand. Es muss allerdings gesagt werden, dass es weitgehend von dem Leiter einer Gruppe abhängt, ob er so viel differenzierte Erfahrung zulässt, dass die Gruppe für die Teilnehmer mit der Zeit ein Training und der Arzt für die Patienten immer bekömmlicher und heilsamer wird.

Der Gefahr, die Droge Arzt zu überwerten, sich zu sehr als Heilmittel zu empfinden, kann der einzelne Arzt am besten durch die Gruppe entgehen, in der man sich ärgern und auch seine Grenzen menschlich annehmen kann. Die Übersetzung in den Alltag der ärztlichen Praxis ist dann nicht mehr so schwer.

Michael Balint gelang es, den Bogen von der Psychoanalyse zur Allgmeinmedizin zu spannen, und zwar nicht durch eine neue Lehre, sondern durch die Integration naturwissenschaftlicher und patientenzentrierter Denkweise sowie ohne Entwertung oder Verneinung des somatischen Wissens. Balint entwickelte etwas, das H. Strotzka eine revolutionäre Idee nennt, einen historischen Schritt in der Entwicklung sowohl der Psychoanalyse als auch der Allgemeinmedizin. Diese revolutionäre Idee entsprach der umstürzlerischen Neueinführung des Subjekts, des Patienten-Ichs in die Medizin (W. Wesiack).

Die veränderte Haltung des Arztes dem Patienten gegenüber lässt unrealistische Erwartungsvorstellungen an ihn schrumpfen und auf ein erträgliches Maß reduzieren. Damit enthält auch die Krankheit für beide einen anderen Stellenwert, sie braucht nicht mehr ausschließlich bekämpft, kann manchmal auch angenommen werden und verändert sich im positiven Sinn, so dass ein Patient mir sagen konnte: „Gehabte Schmerzen hab’ ich gern.“

Medicina semper reformanda.Das haben wir auch in Ascona, in den 34. Internationalen Balint-Treffen gelernt.[] [*] [*] [] [*] [*] [] [*] [*] []

Literatur

  • 1 Luban-Plozza B, Pöldinger W, Kröger F, Laederach K. Der psychosomatisch Kranke in der Praxis. Basel - Stuttgart; Schwabe Verlag 6., völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage. In 13 Sprachen übersetzt 1995
  • 2 Luban-Plozza B, Knaak L, Dickhaut H.-H. Der Arzt als Arznei. Das therapeutische Bündnis mit dem Patienten. Köln; Deutscher Aerzteverlag 7. Auflage 1998
  • 3 Luban-Plozza B, Dickhaut H.-H. Schlaf’ dich gesund! Entspannungswege bei Stress. Anleitungen für das Autogene Training und für das Psychosomatische Training. Stuttgart; TRIAS-Georg Thieme Verlag 9. Auflage 1998
  • 4 Petzold E, Beck V. Der alternde Mensch und sein Umfeld. Forum Galenus Mannheim - Sonderband Ascona 1993. Universitätsverlag Jena GmbH 1993
  • 5 Luban-Plozza B, Osterwalder R. Depression - Schwermut - Melancholie. Zürich; Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft 10. Auflage 1998
  • 6 Stubbe E, Petzold E (Hrsg.). Studentische Balint-Arbeit. Beziehungserlebnisse im Medizinstudium - 20 Jahre Balint-Preis Ascona. Stuttgart - New York; F. K. Schattauer Verlag 1996
  • 7 Luban-Plozza B, Otten H, Petzold  R E, Petzold U. Grundlagen der Balint-Arbeit. Beziehungsdiagnostik und -therapie. Leinfelden-Echterdingen; Bonz Verlag 1998
  • 8 Petzold E, Pöldinger W. Beziehungsmedizin auf dem Monte Verità. 30 Jahre Psychosomatik in Ascona. 1998
  • 9 Verdeau-Paillès Jacqueline, Luban-Plozza B, Delli Ponti M. La „troisième Oreille“ e la pensée misicale. Paris; Ed. J.M. Fuzeau 1995
  • 10 Balint E, Luban-Plozza B. Patientenbezogene Medizin. Stuttgart - New York; Gustav Fischer Verlag: 1) Balint-Methode in der medizinischen Ausbildung. Luban-Plozza B., Loch W. (Hrsg.) 2) Psychotherapie in der ärztlichen Sprechstunde. Luban-Plozza B., Loch W. (Hrsg.) (1979). 3) Einführung in die Balint-Gruppenarbeit. Knoepfel H.K. (Hrsg.) (1980). 4) Studenten-Balint-Gruppen. Kroeger F., Luban-Plozza B. (Hrsg.) (1982). 5) Sprache des Kranken - Sprache des Arztes. Luban-Plozza B, Drees A., Gebhard E. (Hrsg.) (1982). 6) Kommunikation in Balint-Gruppen. Giesecke M., Luban-Plozza B., Rappe-Giesecke K. (Hrsg.) (1983). 7) Einführung in die analytische Psychotherapie. Knoepfel H.K. (Hrsg.) (1984). 8) Klinische Wege zur Balint-Arbeit. Petzold E. (Hrsg.) (1984). 9) Die Arzt-Patienten-Beziehung im Krankenhaus. Stuecke W., (Hrsg.) (1986). 

Prof. Dr. med. Dr. h.c. Boris Luban-Plozza



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