PiD - Psychotherapie im Dialog 2001; 2(3): 243-245
DOI: 10.1055/s-2001-17186
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Sexuelle Störungen

Steffen  Fliegel, Ulrike  Brandenburg
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Publication Date:
14 September 2001 (online)

Die sexualberaterische und sexualtherapeutische Arbeit gehört immer noch zum Stiefkind psychosozialen Handelns. Dabei haben Studien eine krasse Unterversorgung bei Männern, Frauen und Paaren mit sexuellen Störungen festgestellt. Jeder sechste Patient und jede sechste Patientin in der haus- und fachärztlichen Versorgung haben auch sexuelle Probleme. Kompetente Hilfe erhalten sie aber nur selten, weil häufig die Qualifikation für diesen Bereich unzureichend ist oder ganz fehlt. Das kann aber nicht der alleinige Grund dafür sein, dass sexuelle Schwierigkeiten so selten angesprochen oder therapeutischer Ansatzpunkt werden. Obwohl es für die Durchführung von Sexualtherapie sicherlich auch spezieller fachlicher Kompetenzen bedarf, reichen für den Zugang zu diesem Störungsbereich und für Gespräche, die den Patientinnen und Patienten oft schon den ersten Leidensdruck nehmen, allgemein-psychotherapeutische Kompetenzen in der Regel aus. Wir müssen von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ausgehen, die sich im psychosozialen Alltag widerspiegeln und auch vor der psychotherapeutischen Arbeit und Beziehung nicht Halt machen. Diese Bedingungen fördern einerseits die Entwicklung und Ausprägung der Sexualität und den sexuellen Lernprozess, sie legen andererseits aber auch die Stolpersteine bereit, die Ängste und Defizitgefühle schüren.

Wir wollen mit diesem Themenheft von „Psychotherapie im Dialog” neben der fachlichen Diskussion der verschiedenen psychosozialen und psychotherapeutischen Konzepte zur Behandlung von Menschen mit sexuellen Störungen auch den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Raum geben. In den ganz „normalen” Therapien findet sich häufig unterschwellig eine sexuelle Problematik. Zunächst nicht offensichtlich, wirkt sie aber als Teilproblem und stabilisiert bzw. schützt als solches die Leitsymptomatik.

Dieses Heft möchte dazu beitragen, den therapeutischen Zugang zu sexuellen Schwierigkeiten auf fachlicher Ebene zukünftig zu erleichtern. Dazu bieten wir Ihnen Folgendes an: Wenn Sie sich zunächst sachlich rund um die Themen „Sexuelle Störungen” und ihre Behandlungsmöglichkeiten informieren möchten, empfehlen wir den Standpunkteartikel von Wolfgang Weig. Er behandelt Definitionen, ICD-Klassifikationen und Ursachenmodelle, lässt dabei auch philosophische und ethische Überlegungen nicht aus und gibt diagnostischen und therapeutischen Ansätzen viel Raum. Er versucht die Gratwanderung der Abgrenzung von Sexualberatung, Sexualtherapie und Sexualmedizin und berücksichtigt auch somatische Optionen sowie Psychotherapie.

Falls Sie nun vielleicht gleich zur kritischen Reflexion übergehen möchten: In den Interviews stehen Sophinette Becker und Gunter Schmidt stellvertretend für ihre Sexualwissenschaftlichen Institute in Hamburg (Leitung: Professor Wolfgang Berner) und Frankfurt (Leitung: Professor Volkmar Sigusch) Rede und Antwort zu den Entwicklungslinien der Sexualität, der sexuellen Störungen und der Sexualtherapie. Gleichzeitig geben sie einen beispielhaften Überblick über das veränderte Hilfebegehren bei sexuellen Störungen in den Ambulanzen ihrer Institute.

In weiteren Interviews versuchen wir einen Blick über den alltäglichen Zaun der Sexualität. Michael Mary (gesprochen: mari) war in den letzten Monaten mit provokanten Thesen zur Sexualität in länger andauernden Partnerschaften gern geladener Gast bei „Spiegel”, „Stern”, „Focus” und zahlreichen Talkshows. Auch uns ist er nicht entkommen. Er hat eine dezidierte Meinung zur Aufgabe von Therapeutinnen und Beratern in der Arbeit mit Paaren, die sich aufgrund ihrer gestörten Sexualität melden. Informieren möchten wir Sie auch darüber, was Tantra heißt. Vielleicht fragen Ihre Patientinnen und Patienten Sie danach und möchten etwas über seriöse Angebote wissen. Wir haben bei einem entsprechenden Institut angefragt. Der Paarberater Michael Mary und der Tantralehrer Frank Fiess, geben aus ihrem Arbeitsansatz heraus wichtige Hinweise für therapeutische Zielsetzungen und Interventionen.

In unserer Rubrik „Aus der Praxis: Richtungen und Verfahren” haben wir uns neben Beiträgen aus Verhaltenstherapie, Systemischer Therapie und Psychoanalyse auch für Beiträge aus der Gruppentherapie, der Körpertherapie, der Sexualberatung und der Sexualpädagogik entschieden und damit bei den letzten beiden Artikeln bewusst auch den therapeutischen Rahmen verlassen. Nicht jedes Problem mit der sexuellen Lust sollte gleich mit dem Stigma „Krankheit” versehen werden, entsprechende Hilfsangebote finden sich insbesondere in den Artikeln von Norbert Hecker und Beate Martin. Gleichzeitig heben wir auch die für diese Problembereiche prädestinierten Beratungsstellen von Pro Familia, Kommunen und Kirche hervor.

Die Beiträge zur Verhaltenstherapie und zur Systemischen Therapie haben wir als Herausgeber (Steffen Fliegel) und Herausgeberin (Ulrike Brandenburg) dieser Zeitschrift aufgrund unserer fachlichen Herkunft selbst verfasst (den systemischen Beitrag zusammen mit Heinz J. Kersting). Diese beiden Verfahren haben unserer Meinung nach einen besonderen Stellenwert in der sexualtherapeutischen Arbeit. Bereits Masters und Johnson haben verhaltenstherapeutisch gearbeitet. Sie haben das von den Paaren oder Einzelpatienten „angebotene” sexuelle Symptom zunächst in den Mittelpunkt der therapeutischen Betrachtung gestellt. Die moderne Verhaltenstherapie verfügt jedoch über ein weitergehendes Spektrum. Sie bezieht neben kognitiven und motivationalen Aspekten des sexuellen Problems auch die Beziehungsebene in die problemanalytische Arbeit und die Veränderungsinterventionen ein. Und ohne die systemische Brille würden wichtige Bedingungen unberücksichtigt bleiben, die dazu beitragen, das sexuelle System in seiner Eingebundenheit zu betrachten. Es gilt nicht nur rigide Strukturen kommunikativ zu öffnen, sondern auch die Beziehung der betroffenen Menschen zu ihrem Körper, zu ihrer individuellen Sexualität und zu ihren Gefühlen transparent und der Veränderung zugänglich zu machen. Brandenburg/Kersting und Fliegel zeigen in ihren Beiträgen, wie auch der Einbezug eines anderen therapeutischen Ansatzes zu verwirklichen ist.

Wer die Psychoanalyse bei der Behandlung sexueller Störungen wählt, ermöglicht eine behutsame Reaktivierung von Schamgrenzen und Tabuisierungen und darüber ein neues Fühlen und Verstehen. Die therapeutische Arbeit in einem szenisch-interaktionellen Raum mobilisiert Ressourcen zwischen Patient und Analytiker, hilft, Lösungen zu erproben, Entwicklungen zu fördern und positive Sichtweisen zu entwickeln.

Wir haben den Psychoanalytiker Viktor Meyer aus Zürich für einen Artikel zur körpertherapeutischen Arbeit gewinnen können. Meyer arbeitet eng mit George Downing (Körperorientierte Psychotherapie) zusammen. Er sieht in der Körpertherapie keine eigenständige Therapieform und beschreibt, wie Störungen in der Entwicklung affektmotorischer Schemata zu Störungen im sexuellen Erleben und im gesamten Lebenskontext führen können. Aus diesem Ätiologiemodell leitet er tiefenpsychologische Therapieschritte ab.

Die Rubrik wird abgerundet durch Beiträge von Carmen Lange zur Gruppentherapie und Margret Hauch zur Paartherapie. Lange verdeutlicht Gruppentherapie am Beispiel der Arbeit mit vaginistischen Frauen. Dabei lässt sie uns als Leserin und Leser teilhaben an allen konkret durchgeführten Übungen. Die neugierig machende Überschrift: „Ich mag meinen Partner jetzt viel lieber” im Beitrag von Hauch resultiert aus der mutigen Herangehensweise im Hamburger Institut für Sexualforschung an das im therapeutischen Kontext eher ausgegrenzte Thema „Liebe”. Hauptteil des Beitrags ist jedoch die sehr praxisnahe Darstellung des Hamburger Paartherapiekonzepts bei der Behandlung sexueller Störungen mit den Modifikationen und Akzentverschiebungen seit der Mitte der 70er Jahre. Der therapeutische Dialog findet vor allem zwischen den Hauptrichtungen von PiD statt: Verhaltenstherapie, Psychoanalyse und Systemische Therapie.

Im Bericht „Anwendungsfelder” kommt die Psychosomatik zu Wort. Mechthild Neises stellt an den Themen onkologische Erkrankungen, unerfüllter Kinderwunsch, Schwangerschaft und Wochenbett sowie Störungen in verschiedenen Lebensphasen den Bezug zwischen Gynäkologie und Sexualität her. Hartmut Berwald widmet sich dem Zusammenhang zwischen anhaltenden Kreuz- und Rückenschmerzen (somatoforme Schmerzstörung) und den damit verbundenen Einbußen des sexuellen Erlebens sowie dem veränderten Sexualverhalten. Interessant sein kulturwissenschaftlicher Exkurs. Durch die Darstellung einer eigenen Untersuchung zum Zusammenhang Rückenschmerz und sexuelle Störungen hätten wir seinen Beitrag auch der Rubrik „Forschung aus der Praxis” zuordnen können. Das therapeutische Vorgehen zeigt, wie Sexualität und Schmerz in einem therapeutischen Diskurs verbunden werden kann.

Immer dort, wo Sexualität zur Sprache kommen soll, ergibt sich oft Sprachlosigkeit. Das gilt nicht nur für Patientinnen und Patienten, sondern auch für die Helferinnen und Helfer. Gibt es eigentlich eine therapeutische Sprache über Sexualität? Passt man sich besser der Sprache der Patienten an (und wenn diese nun von „ficken” oder „nageln” sprechen oder nicht mehr als ein „Ähh” über die Lippen bringen?), oder sprechen wir als Therapeutinnen und Therapeuten mit dem uns persönlich liebgewonnenen Sprachcode? Oder eher Blümchensprache, medizinische Sprache, Vulgärsprache, Umgangssprache ... Es gibt soviel sexuell Ausgesprochenes, und dennoch fällt es schwer ... Mehrere Beiträge in diesem Heft beziehen Stellung zum Thema Sprache in der Sexualtherapie und -beratung. Eva Maria Fahrner und Götz Kockott geben gute Hinweise für Beraterinnen und Berater, Therapeutinnen und Therapeuten zum Erstgespräch bei Patienten mit sexuellen Störungen. Dabei gehen sie auch ein auf Besonderheiten der Informationsgewinnung, das Gesprächsklima und die Notwendigkeit der Einbeziehung des Partners.

Die in den Beiträgen von Fliegel, Fahrner und Kockott angesprochenen ethischen Überlegungen erweitert Wolfgang Schneider in seinem Beitrag zum Umgang mit Sexualität und sexuellen Störungen psychiatrischer Patientinnen und Patienten, die überwiegend in stationären psychiatrischen Einrichtungen therapiert werden. Er nimmt zudem kritisch Stellung zum Thema Sexualität in der therapeutischen Beziehung.

Eine spannende Auseinandersetzung um die Medikalisierung von Sexualität führen Helmut Porst aus Hamburg und Leonore Tiefer aus New York in einem durchaus sehr fairen (telefonischen) Streitgespräch. Hier kommen nicht nur die verschiedenen Argumente pro und contra zur Sprache, hier werden auch unterschiedliche gesellschaftliche Bedingungen deutlich, die in Deutschland und in den USA das Sexualleben mit bestimmen.

In einem Interview mit einer Patientin erfüllen wir einen häufig geäußerten Wunsch unserer Leserinnen und Leser, (ehemalige) Patienten und Patientinnen zu Wort kommen zu lassen. Eindrucksvoll und mutig schildert eine Frau, die als Kind und Jugendliche schwerste sexuelle Gewalt erfahren hat, was ihr letztendlich geholfen hat, den Weg aus der Traumatisierung heraus zu finden.

Abgerundet wird das Themenheft mit Beiträgen zu den Rahmenbedingungen von Sexualberatung und -therapie. Bernhard Strauß stellt eine Bedarfserhebung zur Versorgung und Qualität bei den Behandlungsangeboten für Menschen mit sexuellen Problemen vor. Er leitet daraus die Notwendigkeit für verstärkte Fort- und Weiterbildung ab und beschreibt entsprechende Angebote. Die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) stellt sich als wichtige Fachgesellschaft in verschiedenen Regionen vor. Christiane Eichenberg hat im Internet rund um das Thema Sexualtherapie recherchiert. Katrin Thiemann beschreibt interessante Fach- und Selbsthilfeliteratur.

Wir wünschen uns, dass die Lektüre dieser Zeitschrift Ihre zukünftige Arbeit mit Menschen, die unter sexuellen Problemen leiden, bereichert.

Zum Schluss noch ein paar Worte in eigener PiD-Sache. Neben der noch immer großen Freude machenden Arbeit an PiD, die wir Ihnen alle drei Monate mit einem neuen Thema anbieten, haben wir uns ein neues Tätigkeitsfeld zugelegt: Die erste Fachtagung zur Zeitschrift: Wir möchten Sie als Abonnentin und Abonnent, Sie als Leserin und Leser von PiD vom 5. bis 7. September 2002 ganz herzlich nach Berlin einladen. Feiern Sie dort mit uns das dreijährige Bestehen von PiD. Peter Fürstenau und Klaus Grawe werden mit Vorträgen und einem gemeinsamen Dialog zur Zukunft der Psychotherapie die Tagung eröffnen. Als Schwerpunkt der Tagung wird Sie ein umfangreiches Workshopprogramm erwarten. Jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer kann zwei verschiedenen sechsstündigen Workshops zu Störungsbildern, Patientengruppen, Settings, therapeutischer Beziehung, Behandlungsmotivation, therapeutischen Zielen etc. teilnehmen. Praxisnähe und Dialogcharakter sollen diese Workshops auszeichnen. Als weiterer Tagungsschwerpunkt sind Symposien geplant mit den Themen: „Psychotherapie im Dialog: Was haben sich die Therapieschulen Psychoanalyse¿ Systemische Therapie, Verhaltenstherapie einander mitzuteilen?”; „Wie produzieren Therapieschulen ihre Forschungsergebnisse und was hat die Praxis davon?”; „Psychotherapie der Psychosen”; „Essstörungen”. Eine fachpolitische Podiumsdiskussion provoziert mit der Frage: „Wird die Psychotherapie in der Regelversorgung verbleiben?”. Interessiert? Dann notieren Sie schon einmal den Termin. Wir werden Sie weiter informieren und in der nächsten PiD (Erscheinungstermin Dezember 2001) das vorläufige Programm vorstellen. Das Aktuelle finden Sie laufend auf unserer Homepage www.thieme.de/pid.

Steffen Fliegel
Ulrike Brandenburg

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