Klinische Neurophysiologie 2001; 32(2): 69
DOI: 10.1055/s-2001-16170
EDITORIAL
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Die Schlafforschung ist - daran gibt es keinen Zweifel - primär an die Entwicklung der modernen Verstärkertechnik gebunden -, und somit ein Kind des XX. Jahrhunderts. Fast alles, was vorher über den Schlaf geschrieben wurde, ist spekulativ und weitestgehend unwissenschaftlich.

Erst die Entdeckung Hans Bergers, dass mit millionenfacher Verstärkung die elektrischen Äquivalente der Hirnaktivität sichtbar gemacht werden können, führte zur Messbarkeit (Parametrisierung) der Neuronentätigkeit - auch im Schlaf. Die ersten Ergebnisse solcher Messungen wurden bereits in den 30er Jahren bekannt. Seither ist der gesamte nächtliche Schlafablauf kontinuierlich und minutiös beschreibbar.

Seit Rechtschaffen u. Kales für die visuelle Auswertung verbindliche Regeln erarbeiteten, wurden die Ergebnisse der verschiedenen Forscher vergleichsweise kompatibel, und die wissenschaftlichen Vergleiche konnten beginnen.

Visuelle Auswertungen sind jedoch mühsam und zeitraubend, und belassen zudem immer noch zu viele Ermessensspielräume. Die Reliabilität der Ergebnisse ist - trotz akribischer Anwendung der Regeln - strengen wissenschaftlichen Anforderungen nicht immer in wünschenswerter Weise angemessen. Das demonstrieren Danke-Hopfe u. Herrmann in einer aufwändigen Untersuchung.

So drängt sich im Zeitalter der sich rasant entwickelnden Elektronik eine automatische Auswertung von Schlafdaten geradezu auf, einerseits, um die Auswertungen von Ganznachtschlafpolygraphien zu beschleunigen, also größere Datenmengen mit geringerem Aufwand für wissenschaftliche Untersuchungen nutzbar zu machen, andererseits aber auch, um deren Reliabilität zu steigern. Umfassende Untersuchungen dieser Art legt Rappelsberger in seinem Bericht über „Das Projekt SIESTA” vor, einer europaweiten Studie zur Entwicklung und Evaluierung neuer Verfahren zur Schlafanalyse.

Es liegt somit in der Luft, die Regeln von Rechtschaffen u. Kales durch eine elektronische Konvention auf eine neue, zeitgemäßere Ebene zu heben. Eine solche elektronische Konvention sollte sich aber eng an die vorhandenen Regeln anlehnen, weil diese sich im Wesentlichen an den physiologischen Gegebenheiten des Schlafablaufes orientieren. Außerdem würden so auch alle - künftigen oder früheren - visuell erhobenen Daten mit denen der elektronischen Verfahren in etwa vergleichbar bleiben.

Das vorliegende Heft hat seinen Schwerpunkt somit weniger in der Dokumentierung des derzeitigen klinischen Wissens gefunden als in der Einstimmung auf die kommende, vor allem technische Entwicklung.

Wir können mit den Fortschritten in der Schlafforschung des vorigen Jahrhundert durchaus zufrieden sein. Um aber jeder Selbstgefälligkeit zu widerstehen, machen Herrmann u. Mitarb. in ihrem Beitrag über die „Theorienbildung im Schlaf” auf die noch immer gravierenden Lücken unseres Wissens über den Schlaf aufmerksam. Selbst einfach erscheinende Phänomene offenbaren bei erneuter Hinterfragung noch unverstandene oder unaufgedeckte Abgründe, die der Bearbeitung bedürfen. Dazu gehört die Interpretation einzelner noch völlig vernachlässigter EEG-Muster wie des subvigilen β oder der POSTS ebenso, wie das Verständnis für bestimmte chronobiologische Phänomene, beispielsweise für die Bedeutung des Basic Rest Activity Cycle.

Bislang kaum „hinterfragt”, also weithin sträflich vernachlässigt, sind auch die Änderungen der vegetativen Funktionen im Schlaf. Dennoch ist ihre Bedeutung für einen erquickenden Schlaf offensichtlich, - aber die Datenerhebung ist schwierig, das mag der Grund für die Vernachlässigung sein. Deshalb war es dringend Zeit, dass Herr Jörg in seinem ausführlichen Beitrag über „Schlaf und vegetative Systeme” die bislang erarbeiteten Daten präsentierte, um eine verstärkte Aufmerksamkeit auf dieses wichtige „Brachland” der Schlafforschung zu lenken.

In einem solchen der Schlafforschung gewidmeten Heft bleibt es unmöglich, alle offenen Fragen auch nur anzuschneiden. Deshalb konnte nur einigen klinischen Standortbestimmungen Platz eingeräumt werden, wie den „schlafbezogenen Atmungsstörungen” durch Penzel u. Mitarb., den „motorischen Phänomenen” durch Rotte und der „Epilepsie” durch Kursawe.

Möge das Heft aber trotz seiner erzwungenen Kürze ausreichen, den Blick auf einige notwendige Entwicklungen zu werfen, neue Aufmerksamkeiten zu wecken und neue Impulse zu geben.

St. Kubicki, Berlin

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