NOTARZT 2001; 17: 39-41
DOI: 10.1055/s-2001-16129
SICHERUNG DER PROZESSQUALITÄT
Sicherung der Prozessqualität
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Standards und Leitlinien - Möglichkeiten und Grenzen aus notfallmedizinischer Sicht

P. Sefrin
  • Klinik für Anaesthesiologie, Universität Würzburg
Further Information

Publication History

Publication Date:
31 December 2001 (online)

Standard ist nach dem Brockhaus-Lexikon [1] ein Richtmaß bzw. eine Richtschnur und beschreibt einen durch Vereinheitlichung geschaffenen festen Maßstab für bestimmte Waren gleicher Qualität. Wenn man die Ware auf medizinische Leistungen überträgt, könnte ein definierter Standard auch im Bereich der Notfallmedizin im Rahmen eines Qualitätsmanagements im Sinne der Sicherung der Prozessqualität Verwendung finden. Unter Qualitätssicherung wird dann die Sicherung einer bestimmten Qualität im Rahmen der notfallmedizinischen Versorgung zu verstehen sein. Voraussetzung hierfür müsste dann allerdings sein, dass die damit verbundenen Leistungen wie bei der industriellen Fertigung in gleichem Maße stets identisch an einem gleichen Objekt erbracht werden. Gerade am Objekt unterscheidet sich der operative Vorgang in der Medizin, da der Patient in der Notfallmedizin nicht gleich und damit das Ausgangsprodukt nicht identisch ist.

Der Begriff des Standards findet sich in der Medizin im Terminus „Facharztstandard”, worunter nach Weißauer die vom jeweiligen Fachgebiet anerkannten standardisierbaren Behandlungsmethoden und Behandlungsabläufe sowie die autoritativen Anweisungen, sich strikt auf ein bestimmtes Verfahren/eine bestimmte Technik zu beschränken, zu verstehen ist [9]. Die Anwendung des Terminus Standard kann somit für die Notfallmedizin, die gerade durch die hohe Variabilität der Fakten und Situationen gekennzeichnet ist, keine Anwendung finden.

Unabhängig von der notfallmedizinischen Vielfalt der Einzelfälle weisen Notfälle doch gewisse Gemeinsamkeiten auf, die auch in gewissen Grenzen ein einheitliches Vorgehen begründen. Hierbei können Leitlinien eine Hilfestellung geben. Leitlinien in der Notfallmedizin sollen Hinweise auf die Diagnostik bei differenten Notfallsituationen, Indikationen für bestimmte Notfallmaßnahmen und Therapien akuter Notfälle enthalten. Die Basis für derartige Leitlinien kann nicht die isolierte Meinung eines Fachmannes oder einer Fachgesellschaft sein, sondern muss auf einem allgemeinen Konsens beruhen und im Bereich der Notfallmedizin darüber hinaus interdisziplinär akzeptiert sein. Leitlinien werden als Handlungsanweisungen an den sorgfältig handelnden Arzt definiert, die eine Mittelstellung zwischen den unverbindlichen „Empfehlungen” und den verpflichtenden „Richtlinien” einnehmen. Eine Leitlinie soll demnach grundsätzlich befolgt werden, eine Abweichung hiervon ist jedoch möglich, wenn die Nichtbeachtung begründet werden kann. Leitlinien entbinden den Arzt aber nicht von seiner Verantwortung für den einzelnen Krankheitsfall und damit einer evtl. notwendigen individuellen Adaptation.

Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) bemüht sich schon seit langem, Leitlinien im wissenschaftlichen Konsens zu etablieren. Erklärtes Ziel der AWMF ist es, dass derartige Leitlinien nicht zu einer Einschränkung der Therapiefreiheit führen sollen, nachdem wie im § 1 der Bundesärzteordnung festgelegt, der ärztliche Beruf kein Gewerbe, sondern seiner Natur nach ein freier Beruf ist. Die AWMF wählt deshalb als Definition für die Leitlinien:

„Die Leitlinien der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften sind Empfehlungen für ärztliches Handeln in charakteristischen Situationen. Sie schildern ausschließlich ärztlich-wissenschaftlich und keine wirtschaftlichen Aspekte. Die Leitlinien sind für Ärzte unverbindlich und haben weder haftungsbegründende noch haftungsbefreiende Wirkung.”

Wesentlicher Inhalt der Leitlinien sind demnach Informationen bzw. Instruktionen über diagnostische und therapeutische Verfahren bei bestimmten Krankheitsbildern und deren Behandlung. Als Empfehlungen implizieren sie zugleich den Rat, nach diesen Informationen zu verfahren [9]. Leitlinien sind allerdings nur so gut, wie sie akzeptiert und angewandt werden, denn sie müssen so verfasst sein, dass sie eine wirkliche Hilfe für den Arzt im Einsatz darstellen.

Basis auch der notfallmedizinischen Leistungserbringung ist der § 2 SGB V, in dem festgeschrieben ist, dass die medizinische Leistung entsprechend dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft und unter Berücksichtigung des medizinischen Fortschrittes zu erfolgen hat. Diesen können und dürfen nur wissenschaftliche Gremien festlegen. Ihre Aufgabe kann es sein, bei der Variabilität medizinischer Behandlungsmethoden durch Elimination ungerechtfertigter Verfahren diese zu begrenzen und dadurch ggf. die Qualität der Behandlung zu verbessern [2]. Die Krankenkassen fordern für ihre Versicherten „eine notwendige, ausreichende und zweckmäßige Versorgung auf der Basis des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse”. Es muss deshalb auch aus diesem Grunde dem Arzt ein Anhaltspunkt gegeben werden, was medizinisch notwendig ist. Für den Notarzt erhebt sich die Frage, an was er sich hinsichtlich seiner Entscheidung bezüglich der erforderlichen Behandlungsmaßnahmen und des Behandlungsumfanges orientieren soll [3].

Die DIVI bemüht sich mit dem ganzen Gewicht ihrer Autorität Leitlinien auch für die Notfallmedizin zu schaffen und ihnen den erforderlichen Tiefgang zu verleihen. Gerade wegen der hohen Variabilität in der Notfallmedizin hat sich dies jedoch bisher als außerordentlich schwierig erwiesen und deshalb nur in wenigen Fällen zum Erfolg (z. B. Versorgung des SHT oder des Polytraumas mit SHT) geführt. Obwohl derzeit 1106 Leitlinien der AWMF im Internet veröffentlicht sind, finden sich unter dem Stichwort Notfallmedizin nur 20 Leitlinien, von denen wiederum den eigentlichen Bereich der präklinischen Notfallmedizin nur zwei betreffen. Damit ergibt sich für den Anwender das Dilemma der Auffindung der entsprechenden Informationen. In den vorhandenen Lehrbüchern der Notfallmedizin finden sich selbstverständlich praktikable Verfahrenshinweise mit entsprechender Begründungen [3]. Aber auch dort sind die Hinweise primär von der Meinung des Autors geprägt.

Auf dem Markt befindet sich im Bereich der Notfallmedizin auch eine Zusammenfassung von notfallmedizinischen Handlungsanweisungen in Form von Algorithmen [4]. Unter Algorithmen wird ein strukturierter Lösungsweg verstanden, der von einer definierten Ausgangssituation zu einem angestrebten Versorgungsziel führen soll. Sie führen zu einer Koordination von Handlungsabläufen und stellen damit die Basis für eine reibungslose Teamarbeit dar. In der Einleitung zur Darstellung der in Buchform zusammengestellten Algorithmen findet sich der Hinweis, dass sie den derzeit gültigen Stand der Diagnostik und Therapie eines Notfalles wiedergeben und einen Überblick über die diagnostischen und therapeutischen Erfordernisse erlauben, ohne Gefahr zu laufen, Wesentliches zu übersehen [4]. Sie stellen trotzdem die persönliche Meinung der Autoren dar, weshalb auch die DIVI sich nicht entschließen konnte, diese Algorithmen in toto im Sinne von Leitlinien an die AWMF weiterzugeben. Die DIVI führt vielmehr aus, dass diese Algorithmen als Beginn eines Entwicklungsprozesses angesehen werden, der im Sinne des Fortschrittes und der Fortschreibung medizinischen Wissens modifiziert und geändert werden können. In diesem Sinne befürwortet die DIVI Algorithmen als Orientierung notfallmedizinischen Handelns [4]. Algorithmen haben andererseits den Vorteil, dass sie besonders für das Rettungspersonal verbindlichen Charakter bekommen, da diesen keine Therapiefreiheit und kein Ermessungsspielraum zur Verfügung steht. Durch Algorithmen wird andererseits die Zusammenarbeit zwischen Notarzt und Rettungsdienstpersonal erleichtert, da sie zu einem abgestimmten Handlungskonzept beitragen können und Diskussionen und Entscheidungsfindungen vor Ort zu vermeiden in der Lage sind.

Leitlinien sollen auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse auch systematische Anweisungen zur Vermeidung von Fehlern geben. Wenn Leitlinien zur Festlegung von Leistungs- und Sorgfaltsmaßstäben dienen, bedeutet das für den Arzt, der sich an sie hält, ein Mehr an Rechtssicherheit. Andererseits berühren Leitlinien aber auch den Kernbereich der Berufsfreiheit - die ärztliche Methodenfreiheit [5], die gerade in der Notfallmedizin geprägt ist vom Improvisationsvermögen. Wenn in der Notfallmedizin heute Regeln zur Versorgung aufgestellt werden, können diese nur Empfehlungen sein, bei denen die Entscheidung, ob ihnen gefolgt werden kann oder muss, vom Arzt und den individuellen Besonderheiten des Patienten sowie den verfügbaren momentanen Ressourcen bestimmt werden. Dies ist auch der Grund, warum die American Heart Association (AHA) den Titel „Standards and Guidelines” von 1974 in den folgenden Jahren auf „Guidelines and Recommendations” [6] geändert hat. Auch die Bundesärztekammer spricht bei den von ihr publizierten Hinweisen zur kardiopulmonalen Reanimation nicht mehr von Richtlinien.

Leitlinien reichen als Anhalt für die individuelle Handlungskompetenz in der Notfallmedizin nicht aus, denn Notfallmedizin beruht nicht nur auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern im Besonderen auch auf persönlichen Erfahrungen und der Praxis. Wissenschaft ist zwar eine notwendige, aber nicht eine hinreichende Grundlage ärztlichen Handelns [8]. Praktische Erfahrung ist gerade in der Notfallmedizin unerlässlich und wird auch den Verzicht auf ein dogmatisches (leitliniengerechtes) Vorgehen im Einzelfall rechtfertigen [3]. Gerade bei Notfallpatienten liegt keine naturwissenschaftlich klar definierte Kausalkette vor, sondern zahlreiche auch nichtmedizinische Fakten und Rahmenbedingungen fließen in die Entscheidungsfindung ein und können zu differenten Wechselwirkungen führen. In starren Leitlinien kann auch die individuelle Reaktion des Patienten nur ungenügend berücksichtigt werden. Andererseits ist das Erleben angewandter Erfahrungen im Einzelfall von gleicher Bedeutung wie die auf der evidenced-based-medicine fußende Erkenntnis. Angesichts der Grundlagen der Medizin und der individuellen Erfahrung sollte im Einzelfall abgewogen werden, wo der Schwerpunkt der Entscheidung liegt. Bei dieser Abwägung sollte auch klar werden, dass Standards in der Notfallmedizin Rahmenbedingungen beschreiben und damit eher politischen Vorgaben entsprechen.

Leitlinien dienen auch der Verbesserung der Qualität. Dass dies notwendig und möglich ist, ist unbestritten. Die Notwendigkeit zeigt sich besonders deutlich bei dem immer wieder erhobenen Vorwurf, der Rettungsdienst und speziell der Notarztdienst, seien nicht mehr finanzierbar und ihre Effektivität auch nicht nachweisbar. Unter diesen Vorzeichen sollen Standards und Leitlinien die Basis für eine Vergleichbarkeit sein. Während politische Standards sehr wohl eine Basis für einen Qualitätsvergleich sein können (z. B. über die Definition der Hilfsfrist oder die Ausstattung eines Rettungsdienstbereiches), können Leitlinien diesem Anspruch nicht in vollem Umfang gerecht werden.

Andererseits werden Leitlinien inzwischen von Juristen fälschlicherweise als normativ verbindlich angesehen und damit evtl. in juristischen Auseinandersetzungen zum Maßstab der ärztlichen Sorgfaltspflicht gemacht. Dem muss aus notfallmedizinischer Sicht energisch widersprochen werden, da ein Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht im Notfall gerade nicht unterstellt werden kann, da die Situation vor Ort sich kaum standardisieren lässt. Die Rechtsordnung gesteht dem Notarzt einen bestimmten Spielraum und eigene Kompetenzen zu. Eine zu weitgehende Festschreibung könnte dies in Zukunft infrage stellen. Zu schematisches Vorgehen steht dem ärztlichen Ermessen und der ärztlichen Therapiefreiheit entgegen. Die medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaften sind privatrechtliche Vereine. Im Gegensatz zu den öffentlichen rechtlichen Körperschaften sind diese nicht zur Rechtssetzung befugt. Demnach sind Leitlinien aus deren Feder auch keine den Arzt unmittelbar bindende Rechtsnormen, sondern können nur Empfehlungen sein. Sie stellen damit keinen Schritt in die Richtung einer Verrechtlichung der Notfallmedizin dar [9]. Leitlinien, auch in der Notfallmedizin, sind eine wertvolle Hilfe, sich rasch und unkompliziert über anerkannte Verfahren zu informieren und damit evtl. Handlungsfehlern vorzubeugen. Andererseits fehlen aufgrund der Variabilität des Geschehens im Notfall derartige Leitlinien in der Notfallmedizin. Aufgrund der wenig gesicherten Erkenntnisse wird es auch noch einige Zeit dauern, bis diese in der entsprechenden Form verfügbar sind. Für die Versorgung im Einzelfall ist nach wie vor die jeweilige individuelle Situation zugrunde zu legen und eine Entscheidung des Notarztes auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse und praktischer Erfahrung zu fordern.

Literatur

  • 1 Der Brockhaus - in einem Band, 8. Auflage. Leipzig; Brockhaus 1998: 868
  • 2 Dick W. „Standards” - „Normen” - Empfehlungen - Richtlinien - Regeln der Notfallmedizin.  Notfallmedizin. 1994;  20 492-493
  • 3 Sefrin P. Notfallmedizin nach Leitlinien - reicht das?.  Notarzt. 2000;  16 121-123
  • 4 Dick W, Ahnefeld F W, Knuth P. Logbuch der Notfallmedizin. Berlin; Springer Verlag 1997
  • 5 Weißauer W. Leitlinien, Richtlinien, Standards.  Anästh Intensivmed. 1998;  39 197-200
  • 6 Guidelines for Cardiopulmonary Resuscitation and Emergency Cardiac Care - Recommendations of the 1992 National Conference. JAMA 1992 268: 2171-2302
  • 7  Bundesärztekammer. (Hrsg) .Reanimation - Empfehlungen für die Wiederbelebung. Köln; Dtsch Ärzte Verlag 2000
  • 8 Schölmerich J. Ärztliche Fehler - Editorial.  Dtsch med Wschr. 2000;  125 341-342
  • 9 Weißauer W. Leitlinien wissenschaftlicher Fachgesellschaften - aus rechtlicher Sicht.  Dtsch Ges Chirurg Mitteilungen. 1997;  26 393-394

Prof. Dr. med. P. Sefrin

Klinik für Anaesthesiologie
Universität Würzburg
Sektion für präklinische Notfallmedizin

Josef-Schneider-Straße 2

97080 Würzburg

    >