Fortschr Neurol Psychiatr 2001; 69(SH1): 45-47
DOI: 10.1055/s-2001-15936
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Heinz Gänshirt - Vorreiter der Erforschung zerebrovaskulärer Krankheiten in Deutschland

K. Poeck
  • Neurologische Klinik der RWTH, Aachen
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
31. Dezember 2001 (online)

Heinz Gänshirt wurde am 26. 09. 1919 in Eberbach am Neckar geboren. Er verlebte seine Kindheit in Mannheim, wo er 1938 das Abitur machte. Er studierte Medizin in Heidelberg und für ein Semester auch in Marburg, machte 1940 in Heidelberg das Physikum und leistete ab Oktober 1940 Militärdienst. 1942 wurde er zum Medizinstudium beurlaubt und legte 1944 das medizinische Staatsexamen ab und wurde promoviert. Bis 1945 war er Truppenarzt. 1945 - 1946 arbeitete er als Medizinalassistent an der Dermatologischen Klinik in Mannheim, d. h., er leitete, wie er später einmal ironisch formulierte, als Medizinalassistent diese Abteilung.

Danach begann er seine Ausbildung an der Neurologischen Universitätsklinik in Heidelberg, die damals noch Nervenabteilung der Ludolf-Krehl-Klinik (das war die Medizinische Klinik) hieß. Hier war 1919, im Geburtsjahr von Heinz Gänshirt, ein Ordinariat für Neurologie eingerichtet worden. Nach dem Kriege war der Chef dieser Klinik Paul Vogel, der die Neurologie als klinisch-diagnostische Disziplin verstand, ganz in der Tradition von Charcot und Adolf Wallenberg. Vogel ermutigte auch Mitarbeiter, die sich der psychophysischen Gestaltkreislehre Viktor v. Weizsäckers verpflichtet fühlten. Einige der Assistenten pflegten die Gedankenwelt von Stefan George. Das konnte langfristig nicht Gänshirts Welt sein.

Heinz Gänshirt hat in seiner Assistentenzeit bei Vogel, so wie wir alle, die wir das Glück hatten, hier die Grundbegriffe der Neurologie und des Arztseins zu lernen, die Bedeutung der Anamnese, auch der biographischen Vorgeschichte und die zentrale Rolle der neurologischen Untersuchung „mit Reflexhammer und Nadel” gelernt. Er muss aber frühzeitig erkannt haben, dass man zur Aufklärung pathophysiologischer Vorgänge noch andere Methoden einsetzen muss. So saß er halbe Nächte lang am Krankenbett von Patienten, die an einem Hirntumor verstarben und registrierte mit einfachen Methoden deren vitale Funktionen. Das Ergebnis dieser Untersuchung war seine dritte wissenschaftliche Publikation „Über den zentralen Tod beim Hirntumor”, die in der Dtsch. Z. Nervenheilk. 166, 247 - 267 (1951) erschien.

Gänshirt verfolgte das Sterben von 22 Patienten mit Hirntumor in der Nervenabteilung und in der Psychiatrischen Klinik. Er machte fortlaufende Aufzeichnungen von Atmung, Pulsfrequenz, Blutdruck und Körpertemperatur. Diese Zeitkurven setzte er zum Bewusstseinszustand der Patienten und zu dem später festgestellten Sektionsbefund am Gehirn in Beziehung. Danach unterschied er 4 Formen prämortalen Versagens:

den pressorisch-hyperthermen Reaktionstyp, den er bei ⅓ der Patienten fand, den Typ der Kreislauf- und Atemdepression, die akute Atemlähmung und den Kreislaufkollaps.

Typ 1 - 3 konnte er als zentral bedingte Todesform identifizieren. Der vierte trat nach operativen Eingriffen auf.

In der Diskussion der Ergebnisse zeigte er für Typ 1 und 2 dienzephale Reaktionsstörungen auf. Typ 3 führte er auf den Druck der Kleinhirntonsillen auf die Medulla oblongata zurück.

Ich war beeindruckt davon, wie gründlich und kenntnisreich diese Arbeit eines an Lebensalter und Ausbildungsstand noch sehr jungen Mannes war.

Seine psychiatrische Ausbildung erfuhr Gänshirt bei zwei der besten Fachvertreter in Deutschland, bei dem großen Systematiker Kurt Schneider in Heidelberg und bei dem genialischen Kurt Beringer in Freiburg. Hier lernte er auch Richard Jung kennen, der zu dieser Zeit bereits ein Pionier der klinischen Neurophysiologie war und seine Schüler nicht nur in die Methoden, sondern auch in die Denkweise dieser Disziplin einführte. Gänshirt begann schon damals, auch tierexperimentell zu arbeiten. Seine neurophysiologischen Kenntnisse vertiefte er in Studienaufenthalten bei W. R. Hess in Zürich und bei Fritz Buchthal in Kopenhagen.

Von 1949 bis 1951 arbeitete Heinz Gänshirt am Physiologischen Institut der Universität zu Köln bei dem bedeutenden Kreislaufforscher Max Schneider. Aus dieser Zeit stammen wichtige tierexperimentelle Untersuchungen zur Überlebenszeit, Erholungszeit und Erholungslatenz des Gehirns nach kompletter Ischaemie und über Hirnatmung und Hirndurchblutung im Winterschlaf. Der Tierpfleger des Institutes bezeichnete diese experimentelle Arbeit, wie Gänshirt gerne erzählte, als „Versuchungen mit Katzen”. Während der Zeit bei Max Schneider lernte Gänshirt eine Doktorandin kennen, Lutgera Dransfeld, die er 1953 heiratete.

Von 1952 - 1955 erweiterte er seine Ausbildung noch einmal und arbeitete bei Wilhelm Tönnis an der Neurochirurgischen Universitätsklinik in Köln. Er wurde hier mit Indikationen und Methoden der Neurochirurgie und mit Intensivmedizin vertraut, hat aber auch wissenschaftliche Arbeiten, z. B. über die Kreislaufpathologie des arteriovenösen Angioms und des Glioblastoma multiforme und über den Sauerstoffdruck im Liquor als Maß der Sauerstoffversorgung des Gehirns, verfasst.

Man kann sich schlecht zwei Menschen vorstellen, die eine unterschiedlichere Persönlichkeit hatten: Auf der einen Seite ein cholerischer, höchst autoritärer Chef, der eine schlichte Bildersprache pflegte mit Aussprüchen wie: „Der Abduzens, der kommt weit im Kopf herum, der muss es wissen”. Auf der anderen Seite der von Charakter aufmüpfige ironische und intellektuelle junge Arzt, der, wie er uns später erzählte, als Vorlesungsassistent auf das barsche Kommando „Dia schärfer” den Fokus weit ins Verschwommene und dann genau an die frühere Stelle drehte, und seine diebische Freude über den Kommentar des Chefs hatte: „Ja, so ist es besser”.

Zu dieser Zeit hatte Gänshirt bereits internationale Anerkennung erworben und hatte Angebote erhalten, als Neurophysiologe in Dublin, in Indien oder in den USA zu arbeiten. Er zog es aber vor, einem Angebot von Eberhard Bay, dem früheren Oberarzt von Paul Vogel, zu folgen, in seine neu gegründete Truppe in Düsseldorf einzutreten und am 01. 03. 1955 an der Neurologischen Klinik der Medizinischen Akademie in Düsseldorf Oberarzt zu werden. Das war ein glücklicher Entschluss für ihn und auch für uns, die wir uns in Düsseldorf als Assistenten versammelten.

Unter Gänshirts Einfluss entwickelte sich die Neurologie, die in Düsseldorf betrieben wurde, von der rein diagnostischen zur vorwiegend internistisch und neurochirurgisch orientierten Disziplin, was die Jüngeren begeisterte, aber vom Chef der Klinik mit Misstrauen und selbst Abneigung betrachtet wurde. Ich entsinne mich, dass dieser sich bei seinem Oberarzt über mich beklagte, weil manche Patienten bei der Chefvisite „solche Schläuche in den Armen hatten”. Man könne doch dann die Reflexe nicht richtig im Seitenvergleich untersuchen.

Das focht uns nicht an, solange die Anregung dazu von Gänshirt kam. Meine Identifikation mit ihm ging so weit, dass ich, eigentlich kein „richtiger Raucher”, begann, in großen Mengen Gold Flake zu rauchen, wie mein Vorbild. Heinz Gänshirt war sehr kollegial zu uns, und zu meinen schönsten Erinnerungen aus der Düsseldorfer Zeit gehören Trinkabende in meinem Zimmer im Ärztekasino oder gemeinsame Besuche von Jazz at the Philharmonic-Konzerten, bei denen Gänshirt sich noch mehr als wir vom Rhythmus mitreißen ließ.

Als die Tochter Dorothee geboren wurde, wollten wir unserem verehrten Oberarzt, der es in seiner natürlichen Autorität nicht nötig hatte, den Vorgesetzten herauszustellen, eine kleine Feierstunde bereiten. Herr Schauer, der Psychologe, und ich schmückten ein Labor mit Rorschach-Tafeln und tranken mit Gänshirt ein Glas Sekt.

Unabhängig von der Radiologie, begannen wir, unsere Patienten selbst zu angiographieren, was damals noch mit Lumbalpunktionsnadeln ausgeführt wurde. Nach der Injektion des Kontrastmittels hatte ein Mitarbeiter auf das Kommando „Schuss” jeweils die Röntgenkassette auf eine Gummimatte zu werfen, wie man sie in der Turnhalle benutzt. Ich erinnere mich an einen Vorfall, der Gänshirts Selbstironie zeigte. Während er angiographierte, trafen gleichzeitig zwei Telefonate in der Röntgenabteilung für ihn ein. Sein Kommentar war: „Ich bin zwar dick, aber nicht doppelt”.

Für mich war es eine große Ehre, dass ich dem Oberarzt und seiner Frau, zusammen mit Klaus Vetter, bei Tierexperimenten zur Durchblutung und Sauerstoffversorgung des Gehirns beim Elektrokrampf assistieren durfte. Diese Experimente führten wir, wie damals üblich, nach dem Tagesdienst in den späten Abendstunden aus.

Gänshirt war sehr großzügig. Er vermittelte mir eine einjährige Ausbildung in Neurophysiologie in Pisa, half mir beim Ausfüllen des Antrages an die DFG und machte auf der Fahrt in den Sommerurlaub an der Adria einen Umweg, so dass er mich selbst bei dem renommierten Forscher Moruzzi einführen konnte. Er gab mir auch den Rat, meine psychiatrische Ausbildung nicht in Zürich, sondern in Bern bei Max Müller zu machen.

Zurück zu Gänshirts Lebenslauf: Er habilitierte sich 1956 mit einer Arbeit über die Bedeutung des Sauerstoffmangels für die Klinik der intrakraniellen Drucksteigerung. Inzwischen war er so bekannt, dass er zu Referaten auf nationalen und internationalen Kongressen eingeladen wurde. In Anerkennung seiner großen Verdienste auf diesem Gebiet, war er von 1959 bis 1961 erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Elektroenzephalographie.

1961 erweiterte er noch einmal seine Ausbildung durch einen halbjährigen Aufenthalt als Gastarzt am National Hospital for Nervous Diseases, Queen Square, London.

Seine Publikationen beschäftigten sich in diesen Jahren nicht mehr nur mit Durchblutung und Stoffwechsel des Gehirns, sondern weiteten sich thematisch auf viele Gebiete der klinischen Neurologie aus.

1965 wurde er als Professor für Neurologie nach Essen berufen, dessen Fakultät damals noch zur Universität Münster gehörte. Kurz danach traf ich ihn bei einem Kongress in Düsseldorf. Er richtete es ein, dass ich ihn zum Parkplatz begleitete, zeigte auf alle Autos, die dort standen, und fragte mich, welches wohl sein Wagen sein könne. Es war, was ich nicht erraten hatte, ein weißer Jaguar. Schnelle Autos blieben von da an eines seiner Hobbies, und er liebte es, beim schnellen Fahren Kassetten mit schmissiger Musik zu hören, zum Beispiel den Radetzkymarsch.

1969 folgte er einem Ruf nach Heidelberg. Hier etablierte er wiederum eine moderne, therapeutisch aktive Neurologie mit neurologischer Intensivstation und, was überaus weitsichtig war, eigener Neuroradiologie. Er wurde berufspolitisch aktiv, war 8 Jahre lang Fachgutachter für die Deutsche Forschungsgemeinschaft und setzte sich erfolgreich im wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer für die Selbständigkeit des Faches Neurologie mit eigener Weiterbildungsordnung ein. Er knüpfte weitere internationale Kontakte, z. B. im Kuratorium der Donausymposien.

Eine seiner großen Aufgaben war die Herausgeberschaft des Standardwerks „Der Hirnkreislauf”. Gänshirt war einer der ersten, welche die embolische, im Gegensatz zur thrombotischen Genese als wichtige Ursache von Schlaganfällen erkannten.

Lange Jahre war Heinz Gänshirt verantwortlich für die Zeitschrift „Nervenarzt”. 1983 und 1984 war er ein umsichtiger, ausgleichender 1. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Als ich ihm in dieser Position nachfolgte, musste ich große Schritte machen, um aus seinem Schatten zu treten. Als ich zum Präsidenten des 13. Weltkongresses für Neurologie in Hamburg bestimmt wurde, war es mir eine große Beruhigung, dass er mir mit seinem ausgewogenen Urteil und seinem Rat als Vizepräsident zur Seite stand.

1990 erhielt Gänshirt auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie die Wilhelm Erb-Denkmünze, die höchste Auszeichnung, die die Gesellschaft zu vergeben hat. Er war damals schon von seiner schweren Krankheit gezeichnet, erwähnte sie aber mit keinem Wort.

Zu seinem 65. Geburtstag hatte ich die Ehre, beim Festakt die Laudatio zu halten. Ich wollte seine individuelle, unkonventionelle, unangepasste Wesensart charakterisieren und bezog mich auf das Buch Momo von Michael Ende, das mich gerade sehr beeindruckt hatte. Ich sprach also davon, dass Gänshirt anders war als die kleinen grauen Männer in ihren grauen Anzügen, mit ihren grauen Hüten und grauen Zigarren, aber zu meiner Verblüffung verstand mich kaum einer der Zuhörer, weil sie, ganz gegen meine Erwartung, das Buch nicht gelesen hatten. Ich wiederhole deshalb die kleine Geschichte bei dieser Gelegenheit und füge hinzu, dass eine gewisse jugendliche Freude an der Provokation, ein bisschen „épater le bourgeois”, den Kleinbürger erschrecken, noch in fortgeschrittenen Jahren ein wichtiger Charakterzug dieses außergewöhnlichen Mannes war.

Das soll mit einer letzten Anekdote beleuchtet werden. Mediziner haben ja bekanntlich Jargonformulierungen, die das Sprachgefühl empfindlicher Menschen verletzen. Eine davon ist „Hinweis für” statt „Hinweis auf”. Wenn er dies in der Ärztebesprechung hörte, pflegte Gänshirt zu sagen: „Ich weise Sie dafür hin, dass das falsches Deutsch ist”.

Er hatte viele Facetten und vereinte krasse Widersprüche in sich. Er war ein scharfer, rascher Denker, ein lebhafter Geist, war aber auch, was wohl nur wenige wussten, die ihm nahestanden, sehr sensibel und in seinem Denken und Handeln von starken Emotionen gelenkt.

Er blieb bis in die letzten Jahre kreativ. Als Emeritus hatte er sich ein neues intellektuelles Feld eröffnet, hatte sich in die Arbeit am Computer eingearbeitet und konstruierte neurologische Expertensysteme.

Heinz Gänshirt war ein bedeutender Kliniker, ein intelligenter und phantasievoller Forscher, ein anregender Lehrer, ein warmherziger Mensch und ein guter Freund.

Prof. Dr. K. Poeck

Neurologische Klinik der RWTH Aachen

Pauwelsstr. 30

52047 Aachen

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